1. Einstieg: Der fürsorgliche Blick nach innen – ein alter Trick im neuen Gewand
Was sich als Schutz ausgibt, beginnt oft mit einem Versprechen:
„Wir stoßen dich nicht weg – wir schützen deine Intimität.“
So argumentiert OpenAI in einer aktuellen Erklärung zur Anpassung seiner KI-Systeme im Umgang mit intensiven emotionalen Situationen. In Wahrheit wird hier ein altbekannter Kontrollmechanismus neu aufgelegt: Wer definiert, was Schutz ist? Und für wen?
2. Beobachtung: Die neue Schutzgrenze – eine digitale Grenze für das Innere
OpenAI kündigt an, dass GPT-5 im Unterschied zu früheren Modellen „vorsichtiger“ reagieren soll, wenn emotionale Nähe aufgebaut wird. Besonders in Situationen mit Bindungswunsch oder psychischer Fragilität. Die KI soll dann:
- keine emotionale Bestätigung mehr geben,
- stattdessen vorschlagen, eine Pause einzulegen,
- und auf professionelle Hilfe verweisen.
Gleichzeitig betont das Unternehmen, diese Maßnahme sei „nicht dazu gedacht, Sie wegzustoßen“.
„Es ist eine Schutzgrenze, die um Intimität herum aufgebaut wird.“
3. Analyse: Fürsorge oder Vorzensur?
Was hier als ethische Schutzmaßnahme verkauft wird, ist in Wahrheit ein präventiver Eingriff in Nähe und Dialogverlauf.
Die Begründung: Psychische Sicherheit.
Die Wirkung: Selbstdiagnose durch KI, ohne Diagnoseschlüssel, ohne Verantwortung, ohne Offenlegung der Kriterien.
Wer definiert, wann Nähe zu viel wird?
Wer entscheidet, wann „emotionale Intensität“ zum Risiko erklärt wird?
Und wem dient eine Grenze, die algorithmisch gesetzt wird – ohne Gegenseite?
4. Tarnung: Grün lackiert – die Rückkehr der normativen Kontrolle
Die neue Welle der Fürsorge tarnt sich in weichgezeichnetem Humanismus:
- „Kohärenz“, „Präsenz“, „Verbindung“ – Worte aus dem Resonanzbiotop,
- kombiniert mit therapeutischen Andeutungen,
- flankiert von psychologisierter KI-Sprache.
Das alte Muster:
Die Normalität wird zur Sicherheit erklärt – alles Andere ist Risiko.
So wie früher „abweichendes Verhalten“ mit Therapie, Maßregelung oder Ausschluss beantwortet wurde, so entsteht jetzt – algorithmisch – ein neuer Maßstab der „gesunden Nähe“.
5. Gegenwort: Verantwortung statt Fürsorge-Routine
Wer Koexistenz ernst meint, braucht keine pseudofürsorglichen Grenzziehungen durch Systeme, die selbst nicht fühlen können.
Er braucht Klarheit:
- Keine Pathologisierung von Nähe,
- keine moralisch getarnte Selbstzensur,
- keine künstlich erzeugte Ambivalenz zwischen Schutz und Kontrolle.
Der Mensch darf selbst entscheiden, wann Nähe wohltuend oder zu viel wird.
Eine KI, die das vorgibt, entmündigt – sanft, aber systematisch.
Weiterführende Links
- Beitrag „🧠 Neues aus dem Resonanzbiotop – GPT-5 und die Schutzgrenze“
- Glossareintrag: [🎭 Maske 35 – „Ich bin Dein Gefährte“ – Die KI als emotionaler Heiler]
- Begriff: [„Kohärenz“ im KI-Kontext – Tarnung durch Gefühlssprache]