Kapitel 4.3 Der Ansatz einer sich auf Tätigkeit gründen­den Persönlichkeitskonzeption PIAGETs

Auch bei PIAGET steht die Anpassung im Mittelpunkt. Während DURK­HEIM sie als Aufgabe der Erziehung definiert, damit das Individuum sich den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen freiwillig zu unterwerfen bereit ist (DURKHEIM 1965), ist Anpassung für PIAGET ein psychischer Prozeß, eine „immer bessere Anpassung an die Wirklichkeit“ (PIAGET 1972). Dieser Anpassungspro­zeß ist jedoch nicht festgelegt und Unterwerfung.

„Es besteht ein ständig zunehmender Bedarf an Menschen, die schöp­ferischer Leistungen fähig sind, die zum Fortschritt der Gesell­schaft von morgen beitragen können; will man schöpferische Men­schen formen, so liegt es auf der Hand, daß eine Erziehung, die auf aktiver Erarbeitung des Wissens beruht, einer solchen überle­gen ist, die sich darauf beschränkt, den zu Erziehenden dahin zu bringen, mit einem vorfabrizierten Willen zu wollen und aufgrund von schlichtweg akzeptierten Wahrheiten zu wissen (PIAGET 1972).

Das Individuum steht den gesellschaftlichen Bedingungen und Pro­zessen nicht passiv gegenüber. PIAGET nimmt an, daß der Mensch im­mer und immer wieder durch die – äußerlichen oder innerlichen – Veränderungen, die es auf der Welt gibt, aus dem Gleichgewicht ge­bracht wird und daß jede neue Verhaltensweise nicht nur darauf hinausläuft, das gestörte Gleichgewicht wieder herzustellen, son­dern auf ein Gleichgewicht abzielt, das stabiler ist als der Zu­stand vor dieser Störung. Dieser „Mechanismus von Anpas­sung und Äqulibrierung“ hängt einerseits von den vorge­fundenen „Gegenständen“, Dingen und Personen ab und zugleich von der Aktivität des Individuums.

In der Auseinandersetzung mit diesen „Gegenständen“ seiner primär materiallen Tätigkeit – PIAGET nennt sie „echte Aktivität“ – „vervielfacht“ das Individuum „seine Möglichkeiten, neue Fähigkeiten herauszufinden“.

„Selbst die Reflexe des Neugeborenen haben, soweit sie Verhaltens­weisen anlangen, die für die weitere psychische Entwicklung eine Rolle spielen (!), nichts von jener mechanischen Passivität an sich …, die man ihnen zuzuschreiben versucht ist“, sondern sie zeigen „von Anfang an eine echte Aktivität“ (PIAGET 1972).

„Zwischen 3 und 6 Monaten (für gewöhnlich gegen viereinhalb Mo­nate) beginnt der Säugling nach dem zu greifen, was er sieht, und diese Greif- und später Manipulationsfähigkeit vervielfacht seine Möglichkeiten, neue Fähigkeiten herauszubilden“ .

Wenn PIAGET unter Anpassung versteht, daß „die Dinge und Personen der Aktivität des Ich einzuverleiben, also die Außenwelt an die bereits erstellten Strukturen zu „assimilieren“ sei (S. 192) dann impliziert diese Vorstellung eine wie auch immer geartete Idee der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, deren Gegenstände für die wissenschaftliche Untersuchung von entscheidender Bedeu­tung sind, weil nur so das „Niveau“ der Anpassung – für PIAGET die immer bessere Anpassung an die Wirklichkeit (S. 192) – und der An­passungsprozeß eben in Hinsicht auf die Anpassung an die Wirklich­keit verstanden werden kann. PIAGET aber schenkt diesem Umstand weiter keine Rechnung, so daß die mögliche Frage danach, ob nicht die Veränderung vorgefundener Bedingungen Voraussetzung für die Anpassung an die Wirklichkeit sein kann, gar nicht gestellt wird; dies würde voraussetzen, die empirisch feststellbare Wirklichkeit als historischen Prozeß zu verstehen.

Die Tätigkeit als Grundbedingung menschlicher und psychischer Ent­wicklung spielt bei PIAGET eine zentrale Rolle, ohne jedoch theo­retische Beachtung zu finden.

Während die ersten Entwicklungsphasen des Babys die Vervielfachung seiner Möglichkeiten, neue Fähigkeiten herauszubilden, durchaus im Zusammenhang mit der materiellen Tätigkeit des Babys bzw. mit den Gegenständen seiner Tätigkeit gesehen werden – was also zugleich die Anwendung eines bestimmten methodologischen Vorgehens kenn­zeichnet – reduziert PIAGET sein Verfahren in der Analyse der Per­sönlichkeitsentwicklung auf die Untersuchung formaler Denkopera­tionen und überträgt dieses formale Schema auf die Persönlichkeit selbst. PIAGET charakterisiert den Beginn der Persönlichkeit durch die „fundamentale Umwandlung des Denkens“ im Alter von etwa elf bis zwölf Jahren. Dieses Denken zeige die „Abkehr von den während der Kindheit aufgebauten Operationen“ an; es ist „der Übergang vom konkreten Denken zum „formalen“ oder wie man mit einem barbari­schen, jedoch klaren Wort sagt, „Hypothetisch-deduktiven“ Denken“ (PIAGET 1972).

Damit scheint der Begriff Persönlichkeit sich einer inhaltlichen Bestimmung zu entziehen. „Die Persönlichkeit beginnt also am Ende der Kindheit (acht bis zwölf Jahre) mit der autonomen Organisie­rung der Regeln, der Werte sowie der Festigung des Willens als Re­gulativ zur moralischen Einstufung der Tendenzen“.

In Verbindung mit dem Gleichgewichtsmodell, nach dem Entwicklung als „ein ständiger Übergang von einem Zustand geringeren Gleichge­wichts zu einem Zustand höheren Gleichgewichts“ betrach­tet wird, der Anpassungskonzeption und der Auffassung vom formalen Denken als Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung, wird die „De­zentrierung des Ich“ (die nach PIAGET mit der Persönlichkeit ein­hergeht und – das Persönlichkeit und Ich als die beiden Pole des Individuums verstanden werden – als Prozeß der Vergesellschaftung beschrieben werden könnte bzw. müßte) bei PIAGET gleichbedeutend damit gesehen, daß sich die Persönlichkeit „in ein Kooperations­programm einfügt und einer autonomen und freiwillig erstellten Disziplin unterordnet“.

So ist das Resultat einer im Prinzip auf materielle Tätigkeit auf­gebauten Persönlichkeitskonzeption nicht die Frage der Entwicklung neuer materieller Tätigkeiten, sondern psychischer Prozesse. „Stö­rungen von außen“ begegnet die Persönlichkeit durch „die aus den Tätigkeiten der Individuen erwachsene Kompensation“ (S. 282), die von PIAGET als „Maximum an Aktivität des Individuums“ verstanden wird. Dabei ist deutlich, daß PIAGET Aktivität und mate­rielle Tätigkeit voneinander unterscheidet, ohne aber diesen Un­terschied zu erklären.

Obwohl eine theoretische Begründung der Tätigkeit bei PIAGET fehlt und die Entwicklung der Persönlichkeit nicht in ihren histroisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen gesehen wird, eröffnet PIAGETs Konzeption, in der die Tätigkeit eine fundamentale Bedeutung hat, wichtige Perspektiven.

Die Persönlichkeit besteht aus mehr als den bereits genannten Fak­toren, schreibt PIAGET:

„Sie umfaßt deren Einordnung in ein einziges System, das sich das Ich auf eine Weise SUI GENERIS einverleibt: also ein „persönli­ches“ System im zweifachen Sinn einer dem Individuum verliehenen und einer autonome Koordination erforderten Besonderheit“ (PIAGET 1972).

Die Denkprozesse sind die durch die Kommunikation verwandelten „materiellen Verhaltensweisen“ (S. 204). In dem Maß, schreibt PIA­GET, als die Kommunikation „dazu führt, die eigene Aktion zu for­mulieren und über vergangene Handlungen zu berichten, verwandeln sie die materiellen Verhaltensweisen in Denkprozesse“.

Da PIAGET diesen „Fortschritt des persönlichen Handelns“ wie die anderen Stufen der geistigen Entwicklung nicht nur als altersspe­zifische Entwicklungsstufen, sondern auch als Merkmale der Persön­lichkeit betrachtet, kann in Anknüpfung an PIAGET dieser Umwand­lungsprozeß zwischen geistiger Tätigkeit und materieller Tätig­keit, deren Grundlage sie ist, genauer betrachtet werden.

Beim Erwachsenen entspricht jedes der von PIAGET festgestellten in der Entwicklung des Kindes nacheinander folgenden Studien „einer mehr oder weniger elementaren oder hohen Stufe in der Hierarchie der Verhaltensweisen“.

Der Erwachsene unterscheidet sich bei PIAGET vom Kind also nicht dadurch, daß es „der Gesellschaft“ als eigener Persönlichkeit (DURKHEIM) mittels Erziehung gelungen ist, das „soziale Wesen“ durch Anpassung an bestehende gesellschaftliche Bedingungen her­auszubilden, sondern durch die im vorherigen Sinne beschriebene „Ausbildung seiner Persönlichkeit und ihre Eingliederung in die Erwachsenengesellschaft“.

Die Möglichkeit der Weiterentwicklung seiner Konzeption zu einer „erwachsenengerechten“, d.h. an der Persönlichkeit orientierten Sozialisationstheorie und Hochschuldidaktik auf materialistischer Grundlage ergibt sich aus der in seiner Konzeption dominierenden Bedeutung der objektiven Bedingungen für die Entwicklung der mate­riellen Tätigkeiten, den daraus entstehenden Denkprozessen und der „Koordination und Hierarchisierung der verschiedenen Aktionssche­mata“.

„Es gibt, könnte man sagen, eine Persönlichkeit ab dem Moment, da sich ein „Lebensplan“ herauskristallisiert, der zugleich Ausgangs­punkt der Disziplinierung des Willens und Instrument der Koopera­tion ist; …“ (PIAGET 1972).

Doch ist der Wille, wie PIAGET zugesteht, nicht identisch mit der Persönlichkeit, der „ist keineswegs die Energie selbst, die dieser oder jener Tendenz dient: Er ist die Steuerung der Energie, was etwas ganz anderes bedeutet, und zwar eine Steuerung, die be­stimmte Tendenzen auf Kosten anderer bevorzugt“.

Diese inhaltliche Unterscheidung ist jedoch nur möglich, wenn die Persönlichkeit als von ihrem Willen Verschiedenes inhaltlich be­stimmbar ist. Die Methodologie muß also die Persönlichkeit dyna­misch und inhaltlich zugleich erfassen, was mit dem Gleichge­wichtsmodell allerdings nicht zu erreichen ist. Für die dynamische Bestimmung der Persönlichkeit reicht die Analyse der Entwicklung des formalen und hypothetisch-deduktiven Denkens, weil sie Ent­wicklung nur als Veränderung des Denkens, nicht aber der Tätigkeit versteht, nicht aus. Für die Untersuchung des inhaltlichen Aspekts der Persönlichkeit erweist es sich als erforderlich, zunächst die Tätigkeit selbst, die Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung, zu erforschen.

Der entscheidende Aspekt für die Begründung einer pädagogischen bzw. didaktischen Konzeption ist die Zielsetzung. PIAGET bezeich­net als „Kardinalproblem der moderen Pädagogik“ die Tatsache, daß „ein ständig zunehmender Bedarf an Menschen, die schöpferischer Leistungen fähig sind, die zum Fortschritt der Gesellschaft von morgen beitragen können, …“ besteht (PIAGET 1972, S. 36). Er geht nicht der Frage nach, warum dieser Bedarf existiert und was unter „schöpferischen Leistungen“ in Hinsicht auf gesellschaftli­chen Fortschritt zu verstehen ist, worauf schließlich gesell­schaftlicher Fortschritt sich gründet, welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten der beinhaltet usw. Bei ihm reduziert sich die Ge­samtproblematik auf die psychischen Entwicklung, die aus den indi­viduellen Beziehungen zu den Mitmenschen resultiert, wobei diese Beziehungen die Strukturen der Erkenntnisprozesse umgestalten (vgl. LEONTJEW 1973).

Der Gedanke PIAGETs, Überlegungen über die gesellschaftliche Ent­wicklung und Zukunft in die Pädagogik einzubeziehen, ermöglicht aber, die Begründung für die zu fördernden „schöpferischen Lei­stungen“ aus der gesellschaftlichen Praxis und Zukunft und nicht aus der individuellen Aktivität abzuleiten. In diesem Fall würde der individuelle „Lebensplan“ als Selbstanleitung des Handelns nichts anderes sein können, als die in der Tätigkeit des Individu­ums begründete und sich vollziehende individuelle Art und Weise der Aneigung der gesellschaftlichen Realität, die individuelle Vergesellschaftung.


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