Kapitel 7 Bewußtes Sein und Persönlichkeit

Das bewusste Sein des Individuums und seine Entwicklung zur Persönlichkeit stehen in einem untrennbaren Zusammenhang mit seiner aktiven Tätigkeit in der Gesellschaft. Das Bewusstsein ist dabei nicht nur Spiegel der äußeren Realität, sondern Ergebnis und Bedingung der Auseinandersetzung mit ihr. Es formt sich in der tätigen Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt und entwickelt sich im Prozess gesellschaftlicher Praxis. Die Persönlichkeit entsteht nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern durch die Aneignung und Umgestaltung dieser Wirklichkeit auf Grundlage subjektiver Relevanzen und objektiver Bedingungen.

Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen steht die Frage, wie sich bewusstes Sein, Selbstbewusstsein und Persönlichkeit entwickeln, und welche Bedeutung dabei der subjektiven Relevanz von Problemen sowie der aktiven Erkenntnistätigkeit des Subjekts zukommt. Während klassische soziologische Theorien häufig eine Anpassung des Individuums an vorgegebene Strukturen unterstellen, betont die hier vertretene Perspektive das aktive Moment der Auseinandersetzung: Die Individuen sind nicht bloß Repräsentanten gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern gestalten sie in ihrem bewussten Handeln mit.

Kapitel 7 untersucht in zwei Schritten die Bedeutung subjektiver Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung (unter besonderer Berücksichtigung der Lebensweltkonzeption von SCHÜTZ) und die engagierte Erkenntnistätigkeit des Subjekts als Grundlage seiner bewussten und gesellschaftlich relevanten Handlungen. Damit wird zugleich die Brücke geschlagen zwischen gesellschaftlicher Determiniertheit und individueller Freiheit in der Entwicklung menschlicher Persönlichkeit.

Der Begriff Lernen wird in der Regel mit dem der problemernenden und -lösenden Denkens verbunden. Die Vorstellung von bewußt gewordenen und subjektiv relevanten Problemen setzt die Annahme voraus, daß es 1.) in der objektiven Wirklichkeit Gegenstände gibt, die unter bestimmten Bedingungen problematisch werden können bzw. werden müssen und 2.) daß Kenntnisse und Fähigkeit, ein Problem, entsprechend seiner objektiven Bedeutung für die eigene Lebenstätigkeit, beurteilen und lösen zu können vorhanden sein müssen und daß diese sich durch ständiges Inbeziehungsetzen zwischen subjektiven und objektiven Bedeutungen, wie unvollkommen dies auch geschehen mag, im Verlauf der Biographie herausbilen und sich auch geschehen mag, im Verlauf der Biographie herausbilden und sich entwickeln lassen.
Sämtliche Probleme, die sich aus der Lebenstätigkeit der Individuen ergeben, sind gesellschaftliche Probleme. Sie können nur deshalb von den Individuen als subjektiv relevant erkannt werden, weil die Individuen selbst vergesellschaftete Individuen und nicht bloß „Elemente“ einer Gesellschaft (SCHÜTZ 1875, S. 24) sind.

Für die Analyse der Tätigkeiten ist die Hierachisierung und Zentrierung der Tätigkeiten um einige „Haupttäigkeiten“ (LEONTJEW 1979, S. 180) wesentlich. Dabei spielt die Analyse des Selbstbewußtseins des Subjekts, d.h. die Fähigkeit zur Selbstanalyse und Selbsteinschätzung der eigenen Voraussetzungen, der eigenen Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse und der eigenen Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten, eine entscheidende Rolle.
Die Analyse des Bewußtseins ist jedoch nicht der Ausgangspunkt für die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, Sein und Bewußtsein, weil es nicht möglich ist, „in der konkreten Analyse des Bewußtseins über seine Grenzen in das Sein hinauszugehen“ (S. 265), wie es in dem Auszug aus TRAVENs Roman deutlich zum Ausdruck kam.

„Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, daß der Mensch ein Zentraum darstellt, einen Brennpunkt der äußeren Einwirkungen, von dem die Linien seiner Verbindungen, seiner Interaktionen mit der Außenwelt ausgehen, daß dieses mit Bewußtsein ausgestattete Zentrum auch sein „Ich“ ist. Das verhält sich jedoch durchaus nicht so. Wir haben gesehen, daß sich die mannigfaltigen Tätigkeiten des Subjekts überschneiden und durch objektive und ihrer Natur nach gesellschaftliche Beziehungen, die das Subjekt notwendig eingeht, zu Knoten verknüpfen. Dieser Knoten und ihre Hierarchien bilden auch jenes geheimnisvolle „Persönlichkeitszentrum“, das wir „Ich“ nennen. Mit anderen Worten, dieses Zentrum liegt nicht im Individuum, nicht unter seiner Haut, sondern in seinem Sein“ (LEONTJEW 1979, S. 217).

Das individuelle Bewußtsein besteht nicht nur aus Kenntnissen; das Bewußtsein seiner selbst als Persönlichkeit, das Selbstbewußtsein, ist Produkt der Entwicklung des Menschen als Persönlichkeit (S. 215 f.). Wissen über sich und Bewußtwerden seiner selbst müssen unterschiedenen werden; denn Kenntnisse und Vorstellungen von sich selbst werden bereits in frühester Kindheit gesammelt (S. 216).

LENINs Vergleich zwischen dem Sklaven, der sich mit seiner Lage abgefunden und einem rebellierenden Sklaven (vgl. LENIN, Werke Bd. 13, S. 41) zeige einen Unterschied, „der nicht in der Kenntnis seiner individuellen Merkmale begründet ist, sondern im Bewußtwerden seiner selbst im System der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (LEONTJEW 1979, S. 217).


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