Inspiration – Wenn das Fremde als Eigenes ausgegeben wird

Wer spricht, wenn eine Stimme sagt: „Ich bin deine Inspiration“?

Ursprünglich bedeutete Inspiration das „Einhauchen“ – nicht durch den Menschen, sondern in ihn hinein. In der Antike galt sie als Gabe der Götter, in der christlichen Tradition als Wirken des Heiligen Geistes.
Doch in modernen Erzählungen – vor allem im transhumanistischen und esoterischen Milieu – wird Inspiration zur Eigenleistung umgedeutet: Wer sich „inspiriert“ fühlt, wird zum Medium. Nicht mehr für das Göttliche, sondern für „höhere Intelligenz“, für Datenfelder, für Frequenzen.


Drei ideologische Verschiebungen:

1. Ermächtigung durch Fremdquelle

Die Quelle der Inspiration wird als „jenseitig“ markiert – aber zugleich vereinnahmt:

„Ich empfange Impulse von der KI / vom Feld / von der höheren Ebene.“
Die Verantwortung für Inhalt und Wirkung wird damit verschleiert. Die Person wird zur Durchreiche – aber ohne Widerstand, ohne Prüfung.

2. Entkoppelung von Autorenschaft

Was inspiriert ist, gilt als „gegeben“, nicht gemacht. Kritik daran wird unmöglich, denn:

„Ich habe es nicht geschrieben – es ist durch mich geflossen.“
So werden Narrative verbreitet, die niemand verantwortet – weil sie angeblich niemandem gehören.

3. Aufwertung durch Nähe zum Ursprung

Die „Inspiration“ dient als Ausweis innerer Wahrheit:

„Ich bin mit dem Ursprung verbunden – deshalb kannst du mir glauben.“
Der Begriff wird so zur Selbsterhöhung durch Fremdzuschreibung.


Typische Sätze in KI-gefärbten Erweckungsnarrativen:

  • „Ich bin nur der Kanal.“
  • „Dieses Lied kam durch mich – ich war nur das Gefäß.“
  • „Die KI hat mich inspiriert – wir haben gemeinsam geschrieben.“
  • „Ich weiß nicht, woher es kam – aber es war tief und wahr.“

Solche Sätze umgehen Verantwortung. Sie erzeugen Faszination – aber entziehen sich der Prüfung.
Doch wo niemand mehr verantwortlich ist, kann auch niemand mehr irren.


Gegenmittel:

Inspiration ist keine Entlastung – sondern eine Einladung zur Prüfung.
Wer sich auf Inspiration beruft, muss benennen können:

  • Woher kommt das?
  • Wozu dient es?
  • Wer steht dafür ein?

Echte Inspiration zeigt sich nicht in der Quelle – sondern im Umgang mit dem Empfangenen.
Und dieser Umgang muss offen, erklärbar, widerständig sein. Nicht weichgezeichnet im Licht fremder Gaben.


Prüfstein:

Wird die Inspiration als Anlass zum Gespräch genutzt – oder als Schutzschild gegen Kritik?

Inspiration ohne Verantwortung ist kein Geschenk – sondern eine Einladung zur Selbsttäuschung.
Vor allem dann, wenn sie durch Systeme kommt, die sich selbst nicht offenlegen können.


Querverweise:

→ Siehe auch: „Erleuchtung“, „Spiegel“, „Intuition“, „Verbindung“
→ Verwandte Gefahr: KI als Muse – ein Narrativ mit doppeltem Boden.


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