Kapitel 1: Problemstellung
1.1 Sozialisation und gesellschaftliches Handeln
Unter „Sozialisation“ wird im Allgemeinen der Prozess verstanden, in dem sich die Persönlichkeit als gesellschaftlich handelndes Subjekt in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entwickelt. Die Vorstellung von der „Konstituierung des Subjektes als immer gesellschaftlichen“ führt in der Sozialisationsforschung u. a. zu der Frage, ob das erkenntnisleitende Interesse darauf gerichtet sein kann, ob und wie Anpassung an bzw. Einfügung in die herrschenden Anforderungen und Konventionen oder Emanzipation von ihnen sowie Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft ihnen gegenüber zustande kommen können.
Diese Zielsetzung wirft die Frage nach dem aktiven Moment von Sozialisation auf, bzw. nach dem Aspekt der Selbstvergesellschaftung als einem aktiven Prozess der Aneignung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Diese Seite des Vergesellschaftungsprozesses ist in der Sozialisationsforschung bisher kaum oder gar nicht berücksichtigt worden.
Der Versuch, Sozialisation mit „Lernen“ und dieses wiederum mit „Entwicklung“ gleichzusetzen, ist unbefriedigend. Auch die behavioristische Lerntheorie mit ihrer zentralen Auffassung von Sozialisation als Konditionierung kommt der Erkenntnis des aktiven Anteils des Subjektes am Vergesellschaftungsprozess ebenso wenig näher wie die Auffassung von Sozialisation als Einstellungsveränderung.
Besonders Arbeiten zur Hochschulsozialisation stellen den aktiven Anteil des Subjekts in den Vordergrund. Dort wird das Hochschulstudium als Sekundärsozialisation verstanden und in den Lebenslauf eingeordnet. Auf dieser theoretischen Grundlage aufbauend, orientiert die Forschung auf gemeinsames reflexives Handeln von Wissenschaftlern und denjenigen, deren Handeln sie erforschen wollen.
Die Vorstellung vom aktiven Anteil des Subjekts am Vergesellschaftungsprozess scheint durch seine Einbeziehung in den Forschungsprozess bestätigt zu werden; die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Wissenschaftler/Student) scheint aufgehoben, weil das Objekt zugleich Subjekt, bewusster Mitgestalter seiner Sekundärsozialisation ist. Das Subjekt tritt aus seiner passiven Rolle heraus, handelt und wird folglich zum Subjekt.
Jedoch wird in der Sozialisationsforschung oft nicht zwischen Aktivitäten des Subjekts und gesellschaftlichem Handeln unterschieden. Damit fehlt die Möglichkeit, zwischen Verhalten und bewusstem gesellschaftlichen Handeln zu unterscheiden. Der kritische Punkt besteht darin, dass in der Hochschulsozialisationsforschung methodologisch eine Trennung zwischen bereits sozialisiertem Subjekt und Gesellschaft (in Gestalt der Hochschule) vorgenommen wird. Gesellschaftliches Handeln des Individuums wird hier nur als Reaktion auf äußerliche Bedingungen verstanden und stellt sich als mehr oder weniger geglücktes, von der Norm abweichendes Verhalten dar.
Dieses Verständnis schließt Nonkonformität als bewusste, aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen aus und enthält die Gefahr, Gesellschaftskritik und Ablehnung gesellschaftlicher Praktiken als irrational oder therapiebedürftig zu klassifizieren.
Die Anwendung handlungstheoretischer Konzeptionen hat sich inzwischen etabliert. Das gegenwärtige Hauptproblem liegt beim Begriff des gesellschaftlichen Handelns selbst und bei der Frage, wie es empirisch erfasst, gelernt und gelehrt werden kann. Zu untersuchen ist, ob das vorhandene theoretische Potential zur Umwandlung in Untersuchungskonzepte ausreicht.
1.2 Perspektiven
Für die Hochschulsozialisationsforschung spielt das beruflich-gesellschaftliche Handeln eine zentrale Rolle. Die Priorität beruflicher Tätigkeit ergibt sich aus der Bedeutung der Arbeit für die gesellschaftliche und individuelle Entwicklung. Diese Priorität ist bestimmt durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und deren Überwindung. Hochschulsozialisation sollte daher auch auf die Demokratisierung von Produktion, Politik und Kultur zielen.
An den Hochschulen wird unter Studenten eine Tendenz zur Gleichgültigkeit, Passivität, Verunsicherung und Resignation beobachtet. Diese droht, sich der aufklärerischen Absicht zu entziehen. Eine Möglichkeit zur Überwindung dieses Sinnverlusts liegt in der Wiederherstellung eines Realitätsbezugs der Wissenschaften.
Technische Fertigkeiten und Fachkenntnisse, die Studierende erwerben, spiegeln soziale Verhältnisse wider und sind mit Denkstrukturen und sozialen Kompetenzen verbunden. Philosophische Fragen zur Definition der objektiven Wirklichkeit, zur Rolle des Subjekts und zum Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Welt werden berührt.
Das aktive Moment in der Sozialisation, verstanden als Selbstvergesellschaftung, kann z. B. mit biographischen Methoden aufgedeckt werden. Sozialisation ist dann die durch Tätigkeit realisierte Beziehung zur Welt.
Wesentliche Widersprüche im Leben von Studierenden beruhen nicht auf der Primärsozialisation, sondern auf gesellschaftlichen Widersprüchen der Lebenswirklichkeit. Der Begriff der „Sinndestruktion“ benennt einen tiefer liegenden Verlust des Realitätsbezugs.
Diese Entwicklung ist eng mit der Unterordnung der Wissenschaft unter kapitalistische Verwertungsinteressen verbunden. Qualifikation und Lernen sind nicht rein individuelle Prozesse, sondern gesellschaftlich strukturiert.
Wissenschaftliche Bildung muss daher zur Erkenntnis der gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Lage befähigen. Zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit von Bildung und subjektiver Relevanz besteht ein dialektisches Verhältnis.
Das vorgeschlagene methodologische Prinzip, das „Persönlichkeitsprinzip“, analysiert Weiterbildung als Bestandteil eines Systems von Lebenstätigkeiten. Es erlaubt, wissenschaftliche Qualifikation an zukünftig notwendiger Handlungsfähigkeit zu orientieren.
Die Bedeutung der Persönlichkeit für die Sozialisationsforschung wird durch Arbeitswissenschaften bestätigt. Eine einzelne Tätigkeit wie das Studieren oder der Beruf genügt nicht zur Analyse. Bildung besitzt zentrales Potenzial für die Entwicklung alternativen Handelns.
Ziel der subjektbezogenen Sozialisationsforschung ist es, aus der Analyse alternativen Handelns jene Aspekte zu gewinnen, in denen sich zukünftig notwendiges gesellschaftliches Handeln ankündigt. Diese Aspekte sind Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Bildungskonzeption.