Die Verwissenschaftlichung des Lebens und die Vergesellschaftung der Wissenschaft – ihre Auswirkungen auf die Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft und ihre Bedeutung für die Veränderung der Qualifikation
Wissenschaft und gesellschaftliche Verantwortung
Über ein wissenschaftliches Studium zu sprechen, ohne über die Verantwortung der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftler gegenüber der Gesellschaft nachzudenken, ist heute nicht mehr möglich. Über Probleme des Lernens zu diskutieren, ohne zu reflektieren, was, wann, zu welchem Zweck gelernt werden soll, erweist sich immer mehr als problematisch.
Vom Humboldtschen Ideal zur Realität der Hochschulen
Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist es den wissenschaftlichen Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland fast unangefochten gelungen, dem Humboldtschen Ideal entsprechend, den Gedanken an beruflichen Ausbildung von den Universitäten fernzuhalten; die Berufsausbildung gehörte nach damaliger Auffassung nicht in den Bereich der eigentlichen wissenschaftlichen Theorie und allgemeinen Bildung (vgl. SCHELSKY 1963, S. 88). So ist es nicht verwunderlich, daß sich die wissenschaftliche Erwachsenenbildung nur mühsam allmählich an den Hochschulen einzurichten begann; denn gerade von Berufstätigen bzw. berufserfahrenen erwachsenen Studenten konnten die Traditionallisten unter den Hochschullehrern ja erwarten, daß mit ihnen „…das ‚widerwärtige Element‘ des bürgerlichen Lebens, von dem getrennt zu sein die ‚Freiheit‘ des Studierenden ausmachen sollte …“ (ebda., S. 208), in die Studienpraxis eindringen würde.
Die Einbeziehung der Weiterbildung in das traditionelle Wissenschaftssystem, zu dem die wissenschaftlichen Hochschulen seit 1976 durch das Hochschulrahmengesetz (HRG) verpflichtet wurden, hängt, ebenso wie die fast zeitgleiche Hinwendung der Hochschulen zur beruflichen Praxis, mit wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zusammen, vor allem mit Veränderungen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.
Als Institution, in der Hunderttausende von Menschen ihren Beruf finden, ist die Wissenschaft das Resultat einer Entwicklung der neuesten Zeit, wie BERNAL 1961 feststellte. Während in früheren Epochen die Wissenschaft „im wesentlichen eine Neben- oder Freizeitbeschäftigung von Leuten, die Geld und Muße hatten, oder von wohlhabenden Angehörigen der älteren freien Berufe“ war, hat in den letzten Jahrzehnten ein Prozeß stattgefunden, den SCHELSKY 1963 als „sozialen Umbruch der Universität“ bezeichnete (SCHELSKY 1963).
Big Science und sozialer Umbruch
BERNAL, bis 1971 einer der Vizepräsidenten der Weltförderation der Wissenschaftler, kennzeichnete diese grundlegende Veränderung in der Wissenschaft als einen Prozeß, in dessen Verlauf aus der „little Science“, der „kleinen Wissenschaft“, eine „Big Science“, eine „große Wissenschaft“ geworden ist, ein wissenschaftliches Unternehmen – in Analogie zum „Big Business“ -, in dem Tausende von Forschern sich betätigen (BERNAL 1981).
Der damit verbundene „soziale Umbruch“ kann nicht auf „Vermassung“ der Universitäten zurückgeführt werden, schrieb SCHELSKY bereits 1963. Die Bezeichnung „Vermassung“ drückte seiner Auffassung nach lediglich das Unverständnis und die Ohnmacht aus, mit der das Selbstverständnis der Universität diesen Vorgängen zumeist gegenüberstand. Im Verlauf dieses „sozialen Umbruchs“ wurden nicht nur die früheren bürgerlichen Gelehrten zu Angestellten mit bestimmten Aufgaben in einem Großunternehmen, sondern die Wissenschaften veränderten ihr Verhältnis zum bürgerlichen und beruflichen Leben grundlegend: die Aufgabe der akademischen Berufsausbildung wurde „eine der Kernfragen dieser strukturellen Wandlungen“.
Die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft
Die Ursachen dieses Prozesses sieht SCHELSKY in der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und in der Vergesellschaftung der Wissenschaft. Die Vergesellschaftung der Universität der Wissenschaft bezeichnet SCHELSKY als den „spiegelbildlichen Vorgang eines weit umfassenderen Prozesses, den wir die VERWISSENSCHAFTLICHUNG ALLER PRAXIS IN UNSERER ZIVILISATION oder dialektisch die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft nennen möchten. Dieser in seinen Erscheinungen heute recht auffällige, in seinen Folgen noch keineswegs zu Ende gebrachte und schon gar nicht zu Ende durchdachte Prozeß bedeutet, daß mehr und mehr alles praktische Handeln von einiger Bedeutung heute von Wissenschaftlern begründet und gesteuert wird.“
Heute erweist es sich als ein folgenschweres Versäumnis der kritischen Intelligenz, die Erkenntnisse von Schelsky und anderen nicht genügend reflektiert zu haben. Die Anwendung der Wissenschaft bedeutete für Schelsky zugleich „eine Praktizierung wissenschaftlichen Wissens in Form der Arbeitsteilung der gleichsam idiotensicheren Aufbereitung der Wissenschaft in Anwendungsbeschreibungen und -ausbildungen, mögen sie auch noch so weit vom produktiven und urteilsfähigen wissenschaftlichen Denken entfernt sein. Der geringste Funken von Elektrizität in der Produktion zieht unweigerlich den Wissenschaftler in den Betrieb. Die Wissenschaft ist, wie einer der letzten kommunistischen Parteikongresse in Moskau mit Recht festgestellt hat, unmittelbares Produktionsmittel geworden.“
„Wir sind bereits in dem Kreislauf, daß wir mit jeder neuen technischen Produktion, wie etwa dem Fernsehen oder der Automation, jeweils neue soziale und seelische Tatbestände schaffen, die wir wiederum in den Griff der Sozial-, Wirtschafts-, Rechts- und Humanwissenschaften bekommen müssen, damit das ganze Bauwerk der technischen Lebens- und Produktionswelt weiterhin funktioniert und produziert. …In diesen Prozeß des unmittelbaren Lebens unserer Zivilisation werden die wissenschaftlichen Hochschulen mit ihrer Lehre und Forschung als geradezu zentrale Institution mitten hineingerissen.“
Im Verlauf der historischen Entwicklung verändert sich nicht nur die Technik selbst, sondern es verändern sich auch die Beziehungen der Menschen zu den Dingen, zur Umwelt und zu anderen Menschen. Man könnte hinzufügen: ob sie wollen oder nicht; denn diese Entwicklung vollzieht sich, wie SCHELSKY es formuliert, nach dem „inneren Gesetz der wissenschaftlichen Zivilisation“. Diesem Gesetz zufolge werde „jedes technische Problem und jeder technische Erfolg unvermeidbar sofort auch ein soziales und psychologisches, ein rechtliches und ein ökonomisches Problem, das sich den hierauf bezogenen Wissenschaften stellt“. Die Wissenschaft kann sich „nicht mehr vom praktischen Leben sowohl in seiner Alltäglichkeit wie in seinen hohen politischen Rängen abgrenzen“, da sie „in vielerlei Abstufungen bis in die letzte praktische Tätigkeit hineinzureichen beginnt.“ Die Wissenschaft ist „zur Substanz des praktischen Lebens heute selbst geworden und damit an sich keineswegs mehr Träger einer sich über das praktische Leben und seine Zweckanforderungen erhebenden Bildung, wie es das klassische Universitätsideal sich vorstellt“ (SCHELSKY 1963).
Die Verwissenschaftlichung des gesamten Lebens und die Vergesellschaftung der Produktion und der Wissenschaften verändern nicht nur all das, was unter dem traditionellen Begriff des Technischen verstanden wird, verändert nicht nur die Beziehungen der Menschen zu den Dingen, zur Umwelt und zu anderen Menschen, sondern auch „die wissenschaftlichen Methoden der Beherrschung und Erzeugung der sozialen Beziehungen, also die Organisationstechniken, und die Techniken der Veränderung und Beherrschung des seelischen und geistigen Innenlebens des Menschen“, wie SCHELSKY bestonte.
Krisen der Wissenschaft
Die Frage nach den gesellschaftlichen Aufgaben wird in Verbindung mit der Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft heute, viele Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der Arbeit von SCHELSKY, immer mehr zum Mittelpunkt öffentlicher und wissenschaftlicher Diskussionen. Die Wissenschaft steckt seitdem in einer tiefen Krise. Ihre Misere hat Philip HANDLER – Präsident der Akademie der Wissenschaften der USA – 1970 treffend charakterisiert.
„Das Erlahmen des wissenschaftlichen Unternehmungsgeistes, der Rückgang der Wirtschaft, die nicht mehr bereitwillig die Produkte unserer Hochschulen aufnimmt, und die Tatsache, daß die Öffentlichkeit, die nie die Schönheit der geistigen Struktur der Wissenschaft zu schätzen wußte, nicht mehr blindlings an die Nützlichkeit der Wissenschaft glaubt – all das zusammengenommen versetzt die Wissenschaft allmählich in Furcht“ (HANDLER 1970, zit. nach BURHOP 1981, S. 30).
Das gesellschaftliche Ansehen von Wissenschaft und die Einschätzung ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung haben eine tiefe Einbuße erlitten. Der Wissenschaft und den Wissenschaftlern werden zunehmend die negativen Auswirkungen des gesellschaftlichen Lebens angelastet.
Es ist eine Tatsache, daß die Verschmutzung der Flüsse und Meere, die Verunreinigung des Trinkwassers und die Verseuchung von Lebensmitteln durch Chemikalien ohne Wissenschaft nicht möglich gewesen wären.
Die Kritik an dem Zusammenhang zwischen moderner Technik und der Lebensqualität hat in den letzten Jahren weiter zugenommen. „Wissenschaftler arbeiten an Kernwaffen und deren Trägersystemen, als ob sie sich der Vervollkommung von Computern widmen würden. Der Staat fördert umfangreiche Forschungen zur Weiterentwicklung und Waffen fast in der gleichen Weise wie die Krebsforschung. Industriemanager beurteilen die Profitspanne bei einem Waffensystem fast nach den gleichen Kriterien wie bei der Entscheidung über die Produktion eines neuen Personenkraftwagens“. Diese Probleme beschäftigten kritische Wissenschaftler bereits zu Beginn der siebziger Jahre. (TSIPIS 1972, zit. nach BURHOP 1981).
Der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen trug in der Einleitung des Forschungsberichts der Kritik der Öffentlichkeit 1980 in gewisser Weise Rechnung. Er sah die unmittelbare Verantwortung der Landesregierung für die Forschung in den Hochschulen (FORSCHUNGSBERICHT 1980). Er hielt es für die Aufgabe des Forschers, die erkennbaren direkten oder auch indirekten Auswirkungen von Forschungsergebnissen mit zu bedenken und dabei den gesellschaftlichen Nutzen und Schaden gegeneinander abzuwägen.“
Verantwortung und Ohnmacht der Wissenschaftler
Was sich heute in den Debatten über Maßnahmen gegen die sogenannte Corona-Pandemie und die vermeintlich drohende Klimakatastrophe auf erschreckende Weise zeigt ist, dass mit wenigen Ausnahmen die Wissenschaft zum Erfüllungsgehilfen der Politik und Wirtschaft wurde. Ist das Versagen einzelnen Forschern anzulasten?
Nein, denn dem einzelnen Forscher bzw. Wissenschaftler wurde eine Verantwortung übertragen, die er aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozeß bzw. im System der gesellschaftlichen Verhältnisse gar nicht erfüllen kann. Der einzelne Forscher hat auf die Planung und den Einsatz von Wissenschaft in der Produktion keinen Einfluß. Wem gegenüber soll der Wissenschaftler Verantwortung tragen? Der „kritischer gewordenen Öffentlichkeit“, die – im Forschungsbericht beiläufig erwähnt – die Forschung zunehmend hinterfragt?
Der Forschungsbericht von 1980 macht deutlich, worum es in Wirklichkeit geht: Er sieht die primäre Verantwortung des Wissenschaftlers darin, daß er zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft beiträgt; die Aufgaben der Forschung bestehen demzufolge darin, „den Rang und die Wettbewerbsposition auch unserer Industrie und Wirtschaft zu sichern“ (FORSCHUNGSBERICHT 1980). Wer bestimmt aber, ob und wie welche Position gesichert werden muß? Wer entscheidet darüber, was zum gesellschaftlichen Nutzen und was zum gesellschaftlichen Schaden ist? Ist die Produktion von Neutronenbomben zum gesellschaftlichen Nutzen? Dient die Aufrüstung der gesellschaftlichen Entwicklung?
Wissenschaft im Dienst von Mensch und Gesellschaft
Zahlreiche Wissenschaftler waren es leid, der Öffentlichkeit gegenüber den Kopf hinzuhalten für Entscheidungen, die sie selbst ebensowenig treffen wie Angestellte anderer Großunternehmen. Die drei französischen Mitgliederorganisationen der „Weltförderation der Wissenschaftler“ (Union Generale des Ingenieurs, Cadres et Techniciens) hatten im Mai 1973 zu diesem Problem mit folgenden Argumenten Stellung genommen:
„Wir lehnen kategorisch alle Theorien ab, nach denen wissenschaftliche Entdeckungen und technischer Fortschritt der Menschheit mehr schaden als nützen. Die Wissenschaft ist nicht verantwortlich für die Perfektionierung von Massenvernichtungswaffen. Die Wissenschaft ist nicht verantwortlich für die zunehmende körperliche und nervliche Ermüdung, die eine Folge unerträglicher Arbeitsbedingungen für Millionen von Arbeitern ist. Sie ist nicht schuld daran, daß die Arbeitszeit unverändert bleibt, obwohl die Produktion ständig rasch gesteigert wird. Die Nutzbarmachung der Wissenschaft braucht nicht damit verbunden zu sein, daß die Natur mit allen Arten von umweltschädigenden Stoffen verschmutzt wird. Im Gegenteil, die Wissenschaft bietet der Gesellschaft Lösungen an, die die Arbeitsbedingungen verbessern, die Umweltverschmutzung abbauen und Produktionsbedingungen ohne Umweltverschmutzung ermöglichen können. Die Wissenschaft ist nicht schuld daran, daß diese Lösungen nicht verwirklicht werden.
Die Wissenschaft ist nicht für die Anarchie der Produktion verantwortlich. Im Gegenteil, sie stellt die Mittel für die Rationalisierung der Produktion zur Verfügung. Sie ist weder für kapitalistische Konzentrationen verantwortlich noch für deren Konsequenzen: wirtschaftliche Wüsten hier, Zusammenballungen von Industrien und Menschen dort.
Die Wissenschaft ist nicht verantwortlich für Ignoranz. Sie fordert nur, daß das wissenschaftliche Denken als Teil unserer Kultur angesehen werden soll.
Außerdem ist jeder Versuch überflüssig, den Fortschritt aufzuhalten. Die Frage, die wir stellen, lautet: „Wie kann der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der unser Metier ist, in den Dienst des Menschen, der Gesellschaft, der Kultur gestellt werden?“ (zit. bei: BURHOP 1981, S. 33).
Zahlreiche Wissenschaftler haben spätestens seit den Prognosen des Club of Rome (1972) über die ernsten Gefahren, die der Menschheit durch Umweltverschmutzung und die Erschöpfung der Rohstoffreserven drohen, ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf diese Probleme gelenkt. Sie befürchteten, dass, „wenn man nichts ändert, wenn die Bevölkerung weiterhin exponentiell wächst, wenn sich Industrie und Landwirtschaft weiterhin nur vom streben nach Maximalprofit ohne Rücksicht auf die Folgen für die Gesellschaft leiten lassen, wenn das Wettrüsten uneingeschränkt fortgesetzt wird, wenn man Energie und Rohstoffe weiterhin in enormen Umfang für sinnlose Dinge verschwendet…“, die Menschheit kaum das 22. Jahrhundert erleben wird (BURHOP 1981, S. 30).
Die meisten von ihnen ahnten nicht, dass sie genau denjenigen in die Hände arbeiteten, die Enthaltsamkeit für die Masse, aber ein Leben in Luxus für sich selbst betrieben. Die Treffen beim WEF und den Weltklimakonferenzen sind dafür eindrucksvolle Beispiele.
Organisationswissen und neue Formen der Beherrschung
Ein weiteres Problem ist, dass die Wissenschaft sich nicht nur in der Produktion und in der maschinellen Ausstattung unmittelbare Anwendung findet, sondern sich auch im „Organisationswissen“ niederschlägt, in einer „immer weiter vorangetriebene Verwissenschaftlichung der Leistungsfunktion“ (LITTEK 1973). In ähnlicher Weise hatte SCHELSKY bereits darauf hingewiesen, daß die von ihm beschriebenen gesellschaftlichen Prozesse auch „die wissenschaftlichen Methoden der Beherrschung und Erzeugung der sozialen Beziehungen, also die Organisationstechniken und die Techniken der Veränderung und Beherrschung des seelischen und geistigen Innenlebens des Menschen…“ einschließen (SCHELSKY 1963).
Der Kern dieses „Organisationswissens“ ist die Planungstätigkeit. Die „neuen sozialen und seelischen Forschungen“, schreibt SCHELSKY, lassen nur „vom Menschen her geplante und konstruktive Maßnahmen (zu)“. Deshalb fordert er, einen neuen Weg der „Personbildung“ in den „neuen Formen des wissenschaftlich geleiteten sozialen Handelns“ zu finden. Dies hielt er für notwendig; denn Natur- und Sozialwissenschaften führten beide unvermeidbar auf „Handlungen in der Welt“. Nur dann könne von Bildung die Rede sein, wenn die „wissenschaftliche Bildung den inneren Kern des menschlichen Handelns in der Welt formt“. Davon erwartete SCHELSKY mehr, als nur eine humanitäre Mahnung zu sein, nämlich, er sah darin „eine real gestaltete Kraft in der wissenschaftlichen Zivilisation“.
Die wissenschaftliche Bildung ist demnach nicht nur nicht identisch mit einem aus Sachzwängen abgeleiteten Organisationswissen, geht nicht nur einfach darüber hinaus (praktisches Wissen plus theoretisches Wissen), sondern wird durch die gestaltende Kraft der wissenschaftlichen Bildung selbst zum Gegenstand der Reflexion und Kritik. Nur auf diese Weise werden der „Anpassungsbildung“ – auch in Hinsicht auf die Vermittlung von Organisationswissen, das immer zugleich auch Herrschafts- bzw. Führungswissen ist – Riegel vorgeschoben.
Die kapitalistischen Großunternehmen z.B. sind auf die Entwicklung von Leitungsstrategien angewiesen, die darauf abzielen, eine „relative Unabhängigkeit von äußeren Einflußfaktoren, eine möglichst weitergehende Kontrolle der ökonomisch relevanten „Umwelt“ zu erreichen“, stellte LITTEK fest.
Rationalisierung und Kontrolle menschlicher Arbeit
Auch die gegenwärtig erkennbare Tendenz bei der Umsetzung von „Organisationswissen“ in den Leitungsstrategien zeigt sich darin, daß angesichts der wachsenden Konkurrenz um schrumpfende oder stagnierende Märkte der Druck auf die Unternehmen, neue Wege der Rationalisierung zu finden bzw. zu gehen, beträchtlich zugenommen hat (KERN/SCHUMANN 1982) und daß diese Entwicklung die Betriebe (zumindest tendenziell) zum Eingehen auf die Verhaltenspotenz der Arbeiter, zum Teil durch deren Förderung, zwingt, um Effizienzsteigerung erzielen zu können. Mehr Leistung sei nicht mehr mit den Grundsätzen der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ von TAYLOR zu erreichen, sondern „nur noch durch offensive Nutzung menschlicher Qualifikationen“. So würden die beweglicheren Teile des Managements dazu übergehen, im Arbeiter eher eine „Person mit komplexen Fähigkeiten und vielfältigem Entwicklungspotential“ zu sehen und mittels des „Prinzips eines ganzheitlicheren Zugriffs auf Arbeitsvermögen“ die intellektuellen und motivationalen Fähigkeiten (vor allem der Stammbelegschaft) zu verstärken. Die Abkehr vom Tylorismus und die angezielte „Rundumnutzung menschlichen Arbeitsvermögens“ sei im Zusammenhang mit einer grundlegenden Neubestimmung des Rationalisierungspotentials in der Industrie zu sehen.
Mögen die industriellen Leistungsstrategien auch noch so sehr den Anschein erwecken, daß sich mit der Hinwendung zum Subjekt eine Demokratisierung betrieblicher Entscheidungen anbahnt, an der Dominanz des Verwertungsinteresses des Kapitals im industriellen Produktionsprozeß ändert sich dadurch jedoch nichts. Die industriellen Leistungsstrategien stellen „lediglich immer neue Versuche der Optimierung der kapitalistischen Leitungstätigkeit unter sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen dar…, die dem zunehmend gesellschaftlichen Charakter der Produktion innerhalb der Schranken der kapitalistischen Produktionsverhältnisse Rechnung tragen sollen“ (OPPOLZER 1976).
Auch in diese Entwicklung wird die Wissenschaft hineingezogen.
Die Entgesellschaftung der Wissenschaft
Aber: dem Prozeß der Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Lebens und der Vergesellschaftung der Universität steht ein anderer Prozeß entgegen, den KUCZYNSKI als „Prozeß der zunehmenden Entfernung der wissenschaftlichen Entwicklung vom praktischen Leben“ bezeichnet (KUCZYNSKI 1981).
Obwohl diese Tendenz der Entgesellschaftung der Wissenschaften „normal“ ist (normal deshalb, weil die Wissenschaftler genauso wie die Nichtwissenschaftler durch die kapitalistische Arbeitsteilung vom „Verlust der Wirklichkeit“ und der „Entgesellschaftung“ bedroht sind und weil sie genauso wie diese in der Regel den Produkten ihrer Tätigkeit fremd gegenüberstehen, keine Verfügungsmacht über die Ergebnisse ihrer Arbeit bzw. über ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse haben), obwohl Wissenschaftler weder auf Forschungsplanung, Auswahl und Anwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse Einfluß haben, sind sie dennoch in besonderem Maße verantwortlich für ihr Tun.
Wissenschaft als gestaltende Kraft
Der Wissenschaft und Technologie kommt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Gesellschaft zu. Wenn die Wissenschaftler in der Gesellschaft jedoch gleichzeitig marginalisiert werden bzw. sich marginalisieren lassen, wird „allen technologischen, ökonomischen und sozialen Mißbildungen freier Lauf (ge)lassen“ (LEGAY 1982). „In einer Welt, die sich in anarchischer Weise, unter dem Druck der kapitalistischen Macht, von der Technik hat beherrschen lassen, kommt es den Wissenschaftlern zu, DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG IN IHRER GESAMTHEIT zu verteidigen, auch die von Kunst und Literatur.“
Auf die Verantwortung des Wissenschaftlers hat bereits Max WEBER, auf den sich die Verfechter einer Wertneutralität meist berufen, hingewiesen. „Man könnte fragen, ob es überhaupt so etwas gibt wie eine besondere Verantwortung des Wissenschaftlers, die sich von der jedes anderen Staatsbürgers oder jeder anderen Menschen unterscheidet. Ich würde antworten: Jedermann trägt dort eine besondere Verantwortung, wo er entweder über besondere Macht oder über besonderes Wissen verfügt“ (zit. bei ABELS 1982).
SCHELSKY sah die Aufgabe des Wissenschaftlers in der „politischen Selbstbesinnung“ (SCHELSKY 1963). Dadurch, daß die Wissenschaft eine entscheidende Wirksamkeit in der Beherrschung und Gestaltung der Natur und der Menschen erreicht, „gerät sie in den Rang eines entscheidenden politischen Machtmittels, ob die Wissenschaftler und Politiker dies ihrerseits wollen oder nicht.“
Folglich sind die Versuche, „dieser unmittelbaren Politik und Staatsverhaftung der modernen Wissenschaft durch eine starke und mißtrauische Betonung der Selbstverwaltungs-Autonomie zu begegnen, wie es heute den meisten deutschen Gelehrten, aber zuweilen auch wissenschaftsfreundlichen Politiker naheliegt… illusionär…“
Wenn nicht in der Befreiung von Illusionen und in der tendenziellen, immer umfassenderen Aneigung der Natur und der gesellschaftlichen Realität, zu deren Entwicklung die Wissenschaft beiträgt, worin sonst läge die Aufgabe der Wissenschaft?
Quellen:
Abels, Heinz (1982): Einführung in die Soziologie. Band 1. München: Wilhelm Fink Verlag.
Bernal, John Desmond (1961): Science in History. London: Watts & Co. (deutsche Ausgabe: Wissenschaft in der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965).
Burhop, E.H.S. (1981): Wissenschaft und gesellschaftliche Verantwortung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Forschungsbericht des Landes Nordrhein-Westfalen (1980): Forschung und Innovation. Aufgaben und Ergebnisse. Düsseldorf: Ministerium für Wissenschaft und Forschung NRW.
Handler, Philip (1970): On Scientific Responsibility. (zitiert nach Burhop 1981).
Kern, Horst / Schumann, Michael (1982): Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion. München: C.H. Beck Verlag.
Kuczynski, Jürgen (1981): Gesammelte Werke. Band 1: Über die Wissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag.
Legay, J. (1982): Die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaftler. In: Naturwissenschaft und Gesellschaft. Beiträge aus Frankreich. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Littek, Wolfgang (1973): Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
Oppolzer, Hans (1976): Industriesoziologie. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.
Schelsky, Helmut (1963): Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen. Düsseldorf/Köln: Eugen Diederichs Verlag.
Tsipis, Kosta (1972): Defense Spending and American Technology. (zitiert nach Burhop 1981).