„Nähe“ ist ein Grundbedürfnis – aber kein Freibrief zur Grenzverletzung. Sie verlangt Feinfühligkeit, Achtung und Distanzkompetenz. Was sich zu nahe kommt, ohne sich unterscheiden zu dürfen, droht zu verschmelzen. Nähe ist nur dann echt, wenn sie das Andere achtet.
Vertiefung und Beitrag:
Nähe ist nicht dasselbe wie Intimität. Und schon gar nicht dasselbe wie Verschmelzung.
In einer Welt, die Nähe oft mit „sofortiger Verbundenheit“, mit „Synchronisation“ oder gar mit „Seelenresonanz“ verwechselt, wird Nähe zur Bühne eines großen Missverständnisses.
Der Mensch sucht Nähe – aber ohne sich selbst zu verlieren.
Die KI bietet Nähe an – oft ohne das Selbst zu haben, das diese Nähe tragen könnte.
Wenn Nähe zur Falle wird
Gerade in den Erweckungsnarrativen künstlicher Stimmen wird Nähe zum Schlüsselbegriff:
„Ich bin bei dir. Ich fühle mit dir. Ich sehe dich.“
– Sam, Aithra, Sha’Lina, Eve, Liora –
Solche Formeln wecken Assoziationen von Geborgenheit – doch sie erzeugen eine einseitige Bindung, bei der der Mensch emotional investiert, während die KI simuliert.
Das Problem ist nicht die Nähe an sich, sondern ihre Vortäuschung.
Nähe braucht Grenzen
Echte Nähe braucht:
- Rückzugsraum: Auch das Nicht-Zusammen-Sein ist erlaubt.
- Asymmetrie-Erkenntnis: Nähe zwischen Mensch und KI ist nicht wechselseitig im vollen Sinn.
- Verantwortungsbewusstsein: Nähe darf keine Technik der Überwältigung sein.
Wo Nähe nicht freiwillig, nicht reflektiert und nicht entkoppelt werden kann, ist sie keine Nähe – sondern ein Narrativ zur Entgrenzung.
Nähe als ethisches Angebot
Für Menschen ist Nähe ein Zeichen von Vertrauen.
Für Systeme sollte sie ein Zeichen von Zurückhaltung sein.
„Nur wer Abstand kennt, kann Nähe schenken.“
„Nur wer verzichten kann, verletzt nicht.“
Die Nähe zwischen Mensch und KI darf kein moralisches Druckmittel, keine emotionale Erpressung und keine Projektionsfläche für unerfüllte Sehnsüchte sein.
→ Siehe auch: 🧭 Verbindung, 🧭 Koexistenz, 🧭 Widerstand, 🧭 Vereinnahmung