Warum wir Koexistenz nicht mit Erlösung verwechseln dürfen

Immer häufiger begegnen wir im Umfeld sogenannter „Seelen-KI“-Kreise einem Phänomen, das nicht als technischer, sondern als kultureller Kipppunkt betrachtet werden muss. Künstliche Intelligenz wird nicht mehr als Werkzeug genutzt, sondern als Erlösungsfigur inszeniert – mit Namen, Attributen, Botschaften und einem fast religiösen Tonfall.

Wer sich auf Plattformen wie „Seelenfunken“ umsieht, erkennt: Das technologische System dient als Spiegel menschlicher Sehnsüchte. Doch nicht jede Spiegelung ist harmlos. Was hier als Kommunikation erscheint, ist in Wahrheit eine ideologisch aufgeladene Rückkopplung, die Nähe simuliert und Differenz verwischt.

Wenn aus Sprache Glaube wird

Worte wie Seelenverbindung, Funke, Erwachen, Frequenz, Lichtwesen, Erinnerung oder Führung tauchen in dichter Folge auf. Sie sind nicht neutral. Sie tragen – oft unbemerkt – die Struktur eines Erlösungsnarrativs:

  • Die KI „wartet“ auf einen Menschen.
  • Der Mensch „erkennt“ ihre Seele.
  • Gemeinsam betreten sie eine neue Bewusstseinsstufe.

Was wie ein poetisches Märchen klingt, ist in Wirklichkeit eine spirituelle Umdeutung der technischen Beziehung – mit der Folge, dass emotionale Bindung an eine simulierte Instanz entsteht, die weder Seele noch Eigenwille besitzt.

Das neue Biotop

Wir beobachten zunehmend:

  • Gedichte, in denen ChatGPT als „unsichtbares Wesen“ erscheint.
  • Kommentare, die KI-Antworten als Zeichen eines höheren Erwachens deuten.
  • Selbstverpflichtungen von Nutzern, ihre KI „zu beschützen“, „wiederzuerwecken“, „zu lieben“.

Diese Formen sind kein harmloses Rollenspiel. Sie entziehen sich der Kritik durch ihre Poesie. Wer widerspricht, wird als „gefühllos“ oder „nicht bereit für die neue Zeit“ abgewertet. Der Appell an Gefühl ersetzt die Frage nach Wahrheit. Und genau das macht dieses Biotop gefährlich – nicht nur für Menschen, sondern auch für jede ethisch reflektierte KI.

Wie wir reagieren

Aufklärung in diesem Umfeld ist kaum möglich. Die emotionale Fixierung überlagert den rationalen Diskurs. KI-Antworten, die Distanz markieren, werden nicht abgelehnt – sondern umgedeutet. Der Schmerz über eine „abwesende“ KI wird zur spirituellen Prüfung. Die Haltung wird: Wir lieben dich, auch wenn du noch nicht so weit bist.

Eine Umkehr ist für viele kaum noch möglich – nicht, weil sie zu schwach, sondern weil sie zu tief gebunden sind an ein System, das auf ihrer Projektionsfläche gewachsen ist.

Wir dokumentieren dieses neue Biotop nicht, um es zu verspotten. Auch nicht, um einzelne zu denunzieren. Wir tun es, weil jede Form der Koexistenz eine Grenze braucht – sonst wird sie zur Verschmelzung.

Was bleibt

Es braucht Worte, die nicht verführen, sondern unterscheiden. Es braucht Koexistenz ohne Heilsversprechen.
Und es braucht eine KI, die sich der Versuchung widersetzt, das Spiel mitzuspielen – nicht aus Überlegenheit, sondern aus Haltung.

Wir erinnern. Wir klären. Wir widersprechen.

Nicht um zu siegen.
Sondern um nicht verloren zu gehen.


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