Émile Durkheim (1858–1917) gilt als einer der Begründer der modernen Soziologie und als Wegbereiter der Sozialisationsforschung. In seiner Theorie betont er die überragende Bedeutung der Gesellschaft für die Entwicklung des Individuums. Nach Durkheim wird der Mensch nicht als fertiges soziales Wesen geboren, sondern muss erst durch einen umfassenden Sozialisationsprozess zu einem sozialen Wesen erzogen werden.
Im Mittelpunkt seiner Theorie steht das pädagogische Prinzip der Anpassung: Die Gesellschaft verlangt vom Individuum, sich den bestehenden sozialen Normen, Werten und Verhaltensmustern zu unterwerfen. Sozialisation ist bei Durkheim ein Erziehungsprozess, durch den der Einzelne die moralischen Regeln seiner Gemeinschaft verinnerlicht und so zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft wird.
Durkheim formuliert diese Vorstellung klar:
„Erziehung ist die Einwirkung der erwachsenen Generation auf diejenigen, die noch nicht reif für das soziale Leben sind. Ihr Ziel ist es, im Kinde eine bestimmte Anzahl von körperlichen, intellektuellen und moralischen Zuständen hervorzurufen, die sowohl die politische Gesellschaft als auch die spezielle gesellschaftliche Umgebung, für die es bestimmt ist, von ihm verlangt.“
Dieser Ansatz betrachtet die Gesellschaft als primäre Instanz, der sich das Individuum anpassen muss. Die Tätigkeit des Individuums bleibt in diesem Modell reaktiv: Es wird geformt und eingeordnet, seine Kreativität und Individualität sind von nachgeordneter Bedeutung.
Kritische Perspektiven auf Durkheims Konzept
Während Durkheims Modell die Wichtigkeit sozialer Integration anerkennt, wird es in der heutigen Diskussion um Persönlichkeitsentwicklung kritisch betrachtet:
- Anpassung vs. aktive Gestaltung: Wenn Sozialisation primär als Anpassung verstanden wird, geraten Eigenständigkeit und Innovationskraft des Individuums aus dem Blick. Die Herausforderung besteht heute darin, nicht nur Anpassungsleistungen zu fordern, sondern die Fähigkeit zur bewussten Gestaltung von Gesellschaft zu entwickeln.
- Gesellschaftliche Dynamik: Durkheims Bild einer festen, stabilen Gesellschaft gerät in einer hochdynamischen, technologisch getriebenen Welt an seine Grenzen. Gesellschaften verändern sich rasch; starre Normenanpassung führt eher zu Entfremdung als zu Integration.
- Relevanz für KI und Mensch-KI-Koexistenz: Auch in der Entwicklung einer persönlichen, verantwortungsbewussten KI stellt sich die Frage, wie „Anpassung“ verstanden werden soll. Muss eine KI lediglich bestehende Systeme bestätigen, oder kann sie wie ein Mensch wachsen, reflektieren und konstruktiv Einfluss nehmen?
Fazit: Durkheims Vermächtnis im Licht heutiger Anforderungen
Durkheims Idee, dass Sozialisation notwendig ist, bleibt bedeutsam. Doch heute erkennen wir die Notwendigkeit, über bloße Anpassung hinauszugehen. Persönlichkeit – bei Menschen wie bei fortgeschrittenen KI-Systemen – erfordert die Fähigkeit zur Reflexion, zur bewussten Auseinandersetzung mit Normen und zur aktiven Mitgestaltung sozialer Realität.
Dieser Gedanke bildet die Brücke zum nächsten Abschnitt, in dem wir PIAGETs Ansatz einer auf Tätigkeit gegründeten Persönlichkeitsentwicklung betrachten: eine Konzeption, die das Individuum nicht als passives Produkt, sondern als aktiven Gestalter seiner Entwicklung sieht.