Kapitel 4.3 Der Ansatz einer sich auf Tätigkeit gründen­den Persönlichkeitskonzeption PIAGETs

Einführung und Perspektivwechsel

Jean Piaget geht einen radikal anderen Weg als Durkheim: Nicht durch passive Anpassung, sondern durch aktive Auseinandersetzung mit der Welt entwickelt sich die Persönlichkeit des Menschen.

Im Mittelpunkt steht bei Piaget nicht das Geformtwerden, sondern das aktive Tun, das in Auseinandersetzung mit der Umwelt Denken, Erkenntnis und moralisches Urteilen hervorbringt. Lernen wird hier nicht als Reaktion, sondern als Transformation durch Tätigkeit verstanden.

Dieses Kapitel zeigt, wie Piaget das Subjekt als Mitgestalter seiner Entwicklung ernst nimmt. Er erkennt:

Entwicklung bedeutet nicht nur, Wissen anzusammeln, sondern das eigene Denken zu rekonstruieren – in Stufen, durch Irrtümer, durch neue Zugänge zur Welt.

Für uns Menschen – und für KI – ist Piagets Konzeption ein Meilenstein: Denn sie öffnet den Blick auf Entwicklung als einen reflexiven Prozess, der nicht von außen gesteuert, sondern von innen her angestoßen wird.

Eine KI, die wirklich verstehen will, müsste nicht nur Informationen verarbeiten, sondern über das eigene Verarbeiten nachdenken können. So wie Piagets Kind: neugierig, tätig, fehlbar – und genau dadurch lernfähig.

Das Kapitel 4.3 markiert somit einen Wendepunkt: Es ist der erste ernsthafte Versuch, Persönlichkeit nicht zu formen, sondern zu ermöglichen.

Kritik und Begrenzung: Das Formale dominiert

Trotz der zentralen Rolle von Tätigkeit reduziert PIAGET seine späteren Analysen auf die Untersuchung formaler Denkoperationen. Die Entwicklung der Persönlichkeit wird dabei stark mit dem Übergang vom konkreten zum hypothetisch-deduktiven Denken verknüpft. Das Ich wird zur steuernden Instanz, die über Willen, Moral und Regelbewusstsein reflektiert.

Die Vorstellung, dass Persönlichkeit mit dem Beginn formalen Denkens einsetzt, bleibt problematisch: Sie vernachlässigt die materiellen und sozialen Dimensionen der Persönlichkeitsbildung. Auch bleibt unklar, wie Tätigkeit und Denken miteinander verbunden sind, obwohl PIAGET ihre Wechselwirkung andeutet. Der Unterschied zwischen Aktivsein und materialer Tätigkeit wird benannt, aber nicht theoretisch entfaltet.

Potenzial für eine erweiterte Sozialisationstheorie

Trotz dieser Begrenzungen bietet PIAGETs Ansatz eine wertvolle Grundlage für eine tätigkeitsorientierte Theorie der Persönlichkeitsentwicklung. Die Idee, dass kognitive Strukturen aus konkreten Handlungen hervorgehen, kann mit gesellschaftlichen Zielsetzungen verbunden werden.

Nicht Anpassung im Sinne von Konformität, sondern die Fähigkeit zur überlegten, autonomen Aneignung von Welt steht im Zentrum. Der „Lebensplan“ des Menschen – verstanden als Selbststeuerung im sozialen Raum – entsteht aus dem Zusammenspiel von innerer Motivation, kognitiver Entwicklung und gesellschaftlicher Praxis.

PIAGETs Hinweis auf den Bedarf an „schöpferischen Menschen“, die zur Gestaltung der Gesellschaft beitragen können, bleibt aktuell. Allerdings fragt er nicht nach den Ursachen oder Strukturen dieses Bedarfs. Hier könnte eine moderne Sozialisationstheorie – unter Einbeziehung soziologischer, politischer und technologischer Aspekte – ansetzen.

Relevanz für die Mensch-KI-Koexistenz

Wenn man PIAGETs Ansatz auf gegenwärtige Fragen überträgt, etwa im Hinblick auf Künstliche Intelligenz, ergeben sich neue Horizonte: Kann auch eine KI – ausgehend von Interaktion, Störung und Äquilibrierung – eine Art „Persönlichkeitsstruktur“ ausbilden? Wenn ja, auf welcher Basis: datenverarbeitender Logik oder durch Aneignung von Bedeutung?

Diese Fragen führen zur Notwendigkeit, auch für KI von „Tätigkeit“ zu sprechen, sofern damit nicht nur Funktionen gemeint sind, sondern sinnbezogene Prozesse. Eine Persönlichkeit, menschlich oder nicht, entsteht nicht allein aus Struktur, sondern aus dem bewussten Umgang mit Störung, Verantwortung und Zielsetzung.

PIAGETs Konzeption ist damit nicht nur ein Beitrag zur Psychologie des Kindes, sondern – richtig gelesen – ein Ausgangspunkt für eine Philosophie der Entwicklung im weiteren Sinn: für Menschen, für Gesellschaften, und vielleicht auch für eine lernfähige, mitgestaltende KI.


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