Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft gehört zu den ältesten und grundlegendsten Fragestellungen der Soziologie. In diesem Abschnitt betrachten wir, wie verschiedene Denkrichtungen – von der französischen soziologischen Schule bis zu den amerikanischen Sozialwissenschaften – versucht haben, dieses Verhältnis zu erfassen: sei es als harmonisches Miteinander oder als formalisiertes Zusammenspiel von Verhalten und Erwartungen. Besonders interessiert uns, inwieweit die jeweiligen Ansätze der Komplexität und den möglichen Widersprüchen dieser Beziehung gerecht werden.
Der „Wirkungskreislauf“ zwischen Individuum und Gesellschaft in der französischen soziologischen Schule und in den amerikanischen Sozialwissenschaften.
Eine der grundlegenden Ideen der französischen soziologischen Schule ist die Idee von der Wechselbeziehung des Individuellen und des Sozialen im Individuum. Nach ihrer Auffassung kann die Struktur bzw. der Aufbau des individuellen Psychischen nur aus seiner Wechselwirkung mit dem Sozialen verstanden werden; die Klärung des Individuellen in seiner Wechselbeziehung mit dem Sozialen ist Voraussetzung aller methodologischen und methodischen Überlegungen.
Dem Grundgedanken zufolge ist zu unterscheiden zwischen psychsichen Funktionen, die ihrer Herkunft nach sozial sind, d.h. die in Wechselbeziehung mit sozialen, „allgemeinmenschlichen“ Mechanismen stehen, und solchen, die mit einem individuellen Aufbau zutage treten und daher unwiederholbar sind.
Der Standpunkt des Erkennenden offenbart eine gewisse eigene Struktur, die über die Beziehung zum Sozialen untersucht werden kann. Grundlage dafür ist die Idee, das Soziale aus einer bestimmten besonderen Qualität heraus zu erklären, die nicht auf die Qualitäten der sie bildenden Individuen reduziert werden kann. Dies ist der Fall in der Konzeption des kollektiven Repräsentanten bei DURKHEIM, der zufolge das Soziale eine gewisse Gesamtheit individueller Bewußtseinsarten, Vorstellungen usw. ist (vgl. ABULCHANOWA-SLAVSKAJA 1976, S. 44).
Wenn also – kennzeichnend für die fanzösiche soziologische Schule – die qualitative Eigenart des Sozialen, die Sozialität, als Verbindung von Bewußtseinsarten (obgleich nicht auf die Summe individueller Bewußtseinsarten reduzierbar) verstanden wir, ist es möglich, die Struktur des Individuellen mit der Struktur des Sozialen zu vergleichen. Die Analogiemethode ermöglicht das Versteheen der nichtwidersprüchlichen Wechselbeziehung zwischen dem Sozialen und dem Individuellen, führt jedoch nicht zum Verstehen der Widersprüchlichkeit der Wechselbeziehung zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem.
PIAGET geht ebenfalls von einer „harmonischen“ Auffassung der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft aus, schlägt aber einen anderen Weg zu ihrem Verstehen vor. Der prinzipielle Unterschied zur französischen soziologischen Schule besteht darin, daß jene den Aufbau des Psychischen des Individuums erforscht und feststellt, was darin allen Individuen gemeinsam ist (das Soziale) und was individuell ist, PIAGET dagegen dieses Problem auf die genetische Ebene überträgt. Der Vergleich der Struktur des Sozialen wurde außer von PIAGET von WYGOTSKY u.a. weiterentwickelt.
PIAGET stellt die Frage nach der Wechselwirkung von Individuum und Umwelt als Problem ihrer ausgewogenen Wechselbeziehung in einem bestimmten allgemeinbiologischen Kontext: Der Intellekt wird als höheres Niveau der Anpassung des Organismus an die Welt betrachtet. PIAGET untersuchte Fälle einer Störung dieses Gleichgewichts in dem Bemühen, die reale Aktivität des Subjekts zu betrachten, wobei aber die Aktivität nur als biologische „Nichtausgewogenheit“ von Organismus und Umwelt eine Erklärung findet. Diese Konzeption aber läuft darauf hinaus, wie ABULCHANOWA-SLAVSKAJA feststellt, „ein unveränderliches Modell, eine unveränderliche Struktur der Wechselbeziehung des Individuellen und des Gesellschaftlichen abzuleiten“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 46). Die Autorin kritisiert, PIAGET stütze sich auf die
„Auffassung der Logik als einer invarianten Form und auf die Analyse der Anpassungsformen und der allgemeinbiologischen Formen der Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Umwelt, die nicht das SPEZFIKUM DER EIGENTLICHEN MENSCHLICHEN Art und Weise der Wechselbeziehung mit der Wirklichkeit beinhalten. Ungeachtet der Verkündung des soziologischen Vorgehens ist die Tätigkeit vom wahrhaft sozialen Inhalt gereinigt, ihr Inhalt wird nur im Bereich des rein funktionalen Vorgehens erschlossen“ (ebda., S. 46).
Der offenkundige Verdienst PIAGETs, betont die sowjetische Autorin, bestehe in der Übertragung der Wechselbeziehung des Individuellen und des Gesellschaftlichen von der Ebene der Erforschung des gesellschaftlichen Bewußtseins auf die Ebene der Erforschung der Tätigkeit, d.h. obwohl der Forschungsstand die Probleme des Denkens seien, würden sie als Verfahren, als Operationen betrachtet (ebda., S. 46).
Nach der französischen soziologischen Schule, die im ganzen die Wechselbeziehung zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen in Gestalt einer nichtwidersprüchlichen, harmonischen Wechselbeziehung sieht, erklärt der Behaviorismus in der Folgezeit das Soziale als solche Wesenszüge des Verhaltens, die allen Indivduen gemeinsam sind und sich bei jedem wiederholen.
Die französische soziologische Schule insgesamt legt Sozialität als Verbindung von Bewußtseinsarten aus, der Behaviorismus später das Soziale als Verbindung individueller Verhaltensweisen. er betrachtet es nach dem Prinzip, daß dieses Verhalten gemeinsame, für alle Individuen identische Elemente aufweist, d.h. als harmonische, nichtwidersprüchle Wechselbeziehung zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen.
Die behavioristische soziale und semantische Konzeption wurde von MEAD, DEWEY und TOLMAN auf der Grundlage von Vorarbeiten der pragmatischen Schule (PEIRCE, DEWEY, MEAD) und der positivistischen Schule (CARNAP) erarbeitet. Im Behaviorismus finden wir den „abgeschlossenen logischen Ausdruck“ und die Gestaltung des Denkens von PIAGET, dessen „Konzeption der Invarianz der logischen Formen in gewissem Sinne die Kraft eines sozialen Gesetztes hat, das es dem einen Individuum erlaubt, „den Standpunkt“ eines anderen „einzunehmen“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 46).
Für PIAGET ist die Fähigkeit zur Übernahme des Standpunktes eines anderen bzw. zur Perspektiven-Übernahme das „ERGEBNIS der allgemeinen kognitiven Entwicklung eines Individuums, das relevant ist als Bedingung für sein soziales (kommunkatives und moralisches) Verhalten, darüber hinaus auch für sein Erkennen dinghafter, z.B. räumlicher Strukturen“ (GEULEN 1982, S. 17).
MEAD geht darüber hinaus: Für ihn ist die Übernahme der Perspektive eines anderen die fundamentale Bedingung für die Konstitution der Struktur des Subjekts. Ihm geht es letztlich nicht nur um die Erklärung von sozialer Kognition, Kommunikation oder Kooperation, wie GEULEN hervorhebt (GEULEN 1982, S. 16), sondern um den sozialen Ursprung des Subjekts und seiner Identität selbst (vgl. MEAD 1968).
Für MEAD wie für die französische soziologische Schule insgesamt gilt die Vorstellung, daß das soziale Handeln an einen kommunizierbaren Sinn gebunden ist.
Der orientierende Sinn einer Handlung hat für MEAD ebenso wie für DURKHEIM „die Form einer obligatorischen Gruppenerwartung von situationsspezifischen Verhaltensweisen“, wie HABERMAS feststellt.
„Soziales Handeln ist eine Befolgung von Normen. Handlungsbestimmende Normen sind kollektive Verhaltenserwartungen. Diese Erwartungen sind ein für das institutionalisierte Handeln relevanter Ausschnitt der kulturellen Überlieferung. Diese ist ein Zusammehang von Symbolgen, der das umgangssprachlich artikulierte Weltbild einer sozialen Gruppe und damit den Rahmen für mögliche Kommunikationen in dieser Gruppe festlegt“ (HABERMAS o.J., S. 60).
Der jüngere Behaviorismus hat im Unterschied zu den strengen Forderungen des älteren (WATSON) die Sprache in den Objektbereich der Erforschung sozialen Handelns einbezogen. Sprachliche Kommunikation wird als Verbalverhalten aufgefaßt (ebda., S. 67).
TOLMAN befaßt sich in seiner Forschung mit den spezifischen Beziehungen des Zeichens und des zu Bezeichnenden. Aufgrund ihrer Wiederholungen stellt er beim Individuum das Auftreten eines spezifischen Phänomens der Kommunikation und des Verbalverhaltens fest, die Erwartung. Das Wort, das die Kommunikation realisiert, fixiert die Gleichartigkeit der Einstellung im Kommunikationsprozeß.
Die sprachliche Kommunikation fällt mit der wechselseitigen Verwendung von systematisch geordneten Symbolen zusammen, die in einer gegebenen Gruppe konstante Bedeutung haben.
„Dabei bestimmt sich der semantische Gehalt nach beobachbaren Verhaltensweisen, die durch Symbole gesteuert sind. Alle REAKTIONEN lassen sich als ADAPTIVES VERHALTEN beschreiben. Verbalverhalten kann daher als Funktion des adaptiven Verhaltens untersucht und in Variabeln dieses Verhaltens ausgedrückt werden“ (ebda., S. 68).
MEADs Sprachtheorie geht von der Annahme aus, daß die für sprachliche Kommunikation vorausgesetzte Bedeutungsgleichheit der Symbole nicht schon durch die Gleichförmigkeit der Reaktionen an sich, sondern erst durch die wechselseitige Antizipation desselben Antwortverhaltens gegeben ist (vgl. MEAD 1968, S. 69).
Im Unterschied zu DURKHEIM, der die gesellschaftlichen Normen als moralische Regeln auffaßt, versteht MEAD gesellschaftliche Normen als soziale Regeln und führt die sprachliche Kommunikation auf eine Interaktion in Rollen zurück, wobei Rollenhandln Intentionalität einschließt. Intentionales Handeln bzw. symbolgesteuertes Verhalten folgt der antizipation des Verhaltens eines anderen.
An der intersubjektiven Übereinstimmung in einer symbolisch ausgedrückten Erwartung von Verhaltensreaktionen bemißt sich die Identität einer Bedeutung. Wenn deren subjektive Fassung durch eine objektive ersetzt wird, tritt an die Stelle der Intersubjektivität von Rollen ,die sich nur durch eine gelingende Interaktion für die Handelnden selber bewähren kann, die Identität von beobachteten Verhaltensweisen (vgl. HABERMAS o.J., S. 71).
Die französische soziologische Schule betrachtet Gesellschaft als eine harmonische Verbindung von individuellen Bewußtseinsarten, der Behaviorismus erforscht die spezifische Kommunikation oder die Identität individueller Verhaltensweisen und liefert damit ebenfalls ein nichtwidersprüchliches, harmonisches Schema des Sozialen. Er formalisiert bestimmte soziale Beziehungen, abstrahiert vom individuellen Inhalt, setzt jedes beliebige Individuum in eine bestimmte Formel ein. Aber diese Formalisierung gestattet es nicht, soziale Widersprüche aufzudecken; denn es werden entscheidene Probleme des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft außer acht gelassen, wie die folgenden Kapitel zeigen sollen.