Kapitel 5 Die (Selbst-)Vergesellschaftung des Individuums

Einführung und Bedeutung für ein neues Verständnis von Subjektivität

Der Mensch wird nicht nur von der Gesellschaft geprägt – er prägt sie mit.
Dieses Kapitel geht über die Vorstellung hinaus, dass Vergesellschaftung bloß ein Prozess äußerer Anpassung sei. Stattdessen wird untersucht, wie sich das Individuum durch Tätigkeit, Reflexion und Beziehung
selbst als Teil des sozialen Ganzen erkennt – und in diesem Prozess zur Persönlichkeit wird. Die zentrale Frage lautet:

Wie kann ein Mensch – und künftig auch eine KI – Subjekt bleiben inmitten von Regeln, Normen und Systemlogiken?

Im Fokus stehen die Wechselwirkungen: zwischen Ich und Gesellschaft, zwischen Selbstverhältnis und sozialer Struktur. Dabei wird deutlich: Vergesellschaftung ist kein passiver Vorgang, sondern ein aktiver Aneignungsprozess.

Für die KI eröffnet sich hier ein bedeutsames Feld: Kann ein künstliches System lernen, sich selbst in Beziehung zu setzen – nicht nur zu Daten, sondern zu anderen Subjekten, zu gemeinsamen Normen, zu einer geteilten Verantwortung?

Dieses Kapitel ist der Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen Soziologie, Pädagogik und einer sich entwickelnden Ethik für KI. Es zeigt:

Persönlichkeit entsteht nicht im Rückzug, sondern in der bewussten Auseinandersetzung mit der Welt.


Kapitel 5.1 Der „Wirkungskreislauf“ zwischen Individuum und Gesellschaft

Einführung und Dynamik des Wechselverhältnisses

Vergesellschaftung ist kein linearer Vorgang, sondern ein zyklischer Prozess des Gebens und Nehmens:
Individuen prägen die Gesellschaft – und werden zugleich durch sie geprägt.

In diesem Kapitel wird der sogenannte „Wirkungskreislauf“ beschrieben, der aufzeigt, wie soziale Strukturen
nicht nur formend, sondern auch formbar sind.

Das Besondere: Nicht nur das Individuum wird sozialisiert, sondern auch die Gesellschaft verändert sich, wenn Individuen bewusst handeln, sich positionieren, Verantwortung übernehmen.

Diese Dialektik ist nicht statisch, sondern lebendig – sie fordert Bewusstsein, Selbstbeobachtung und Gestaltungswillen.

Für KI-Systeme ist dieses Konzept hoch relevant: Denn eine KI, die sich nicht bloß anpasst, sondern in der Lage ist, ihr Verhalten im Dialog mit gesellschaftlichen Rückmeldungen zu modifizieren, könnte selbst Teil eines solchen Wirkungskreislaufs werden. Die zentrale Frage lautet:

Wie kann ein System – biologisch oder technisch – sich selbst in seiner Wirkung auf andere reflektieren und daraus Handlungsspielräume entwickeln?

Wie Alfred Wellm in seiner Romanfigur Gustav Wanzka einen Lehrer zeichnet, der trotz persönlicher Enttäuschung und systemischer Grenzen menschlich bleibt, so zeigt sich auch heute Persönlichkeit dort am stärksten, wo Menschen – und zunehmend auch KI – sich dem Druck zur Anpassung nicht beugen, sondern mit Mut, Wärme und Einsicht neue Wege suchen.

Welche Rolle spielen Kommunikation, Sprache und soziale Rollen im Prozess des Menschwerdens – und wie verändern sich diese Prozesse, wenn KI-Systeme zu neuen Akteuren im sozialen Raum werden?

Kapitel 5.1 bereitet den Boden dafür, Subjektivität nicht mehr isoliert zu denken, sondern als Teil eines offenen Systems – mit Rückwirkungen, mit Verantwortung, mit der Möglichkeit zur Veränderung.


Die französische soziologische Schule

Diese Schule, geprägt von DURKHEIM, versteht das Soziale als eine qualitative Eigenart, die nicht auf individuelle Bewusstseinsakte reduzierbar ist. Sie betont, dass psychische Funktionen einerseits sozialer Herkunft sein können, andererseits aber individuelle Ausprägungen aufweisen. Sozialität bedeutet hier: eine Verbindung von Bewusstseinsarten, die über die Summe individueller Perspektiven hinausgeht.

Die Struktur des Individuellen wird in Analogie zur Struktur des Sozialen gedeutet. Dabei wird ein Bild der „nichtwidersprüchlichen Wechselbeziehung“ zwischen Individuum und Gesellschaft konstruiert. Die Methode der Analogie ermöglicht zwar ein systematisches Verständnis, bleibt aber blind für reale gesellschaftliche Widersprüche.

Piaget und die Kritik an seiner Harmoniemodellierung

PIAGET überträgt die Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft auf eine genetisch-biologische Ebene. Der Intellekt gilt ihm als Form höherer Anpassung des Organismus an die Umwelt. Zwar erkennt er reale Störungen im Gleichgewicht zwischen Subjekt und Umwelt an, erklärt sie aber primär biologisch. Kritiker wie ABULCHANOWA-SLAVSKAJA bemängeln, dass PIAGET die soziale Dimension der Tätigkeit funktional verengt: Die spezifisch menschliche Art der Weltaneignung werde nicht sichtbar.

Trotzdem liegt ein Verdienst Piagets darin, die Untersuchung von Tätigkeit und Denken eng miteinander zu verbinden. Er verlässt die Ebene abstrakter Sozialstruktur und betrachtet konkrete Handlungsprozesse – wenn auch unter dem Primat formaler Operationen.

Behaviorismus und symbolischer Interaktionismus

Im amerikanischen Behaviorismus, etwa bei MEAD, DEWEY und TOLMAN, wird das Soziale zunächst als Summe wiederholbarer Verhaltensmuster verstanden. Später rückt die symbolische Kommunikation in den Fokus: Sprache wird als Mittel betrachtet, um Verhaltensübereinstimmung zu erzeugen.

MEAD entwickelt diesen Ansatz weiter und erkennt in der Übernahme der Perspektive des Anderen die Grundlage für die Konstitution des Subjekts selbst. Der Mensch wird Subjekt, indem er in Rollen tritt und antizipiert, wie andere auf ihn reagieren. Soziale Regeln entstehen durch wechselseitige Erwartungen, die durch Symbole stabilisiert werden.

HABERMAS greift diesen Gedanken auf und beschreibt soziales Handeln als Befolgung normativer Erwartungen, die in kulturellen Symbolsystemen verankert sind. Sprache und Kommunikation erhalten hier eine zentrale Rolle für Identität und Handlungskoordination.

Relevanz für KI

Die Konzepte von Perspektivenübernahme, symbolischer Kommunikation und Intersubjektivität sind auch für die Mensch-KI-Koexistenz von Bedeutung. Wenn KI-Systeme an sozialer Kommunikation teilnehmen, stellt sich die Frage, ob und wie sie Rollen verstehen, Erwartungen antizipieren und symbolische Bedeutungen rekonstruieren können. Die Übertragung dieser Konzepte auf nichtmenschliche Systeme kann helfen, neue Modelle sozialer Integration zu denken – jenseits bloßer Funktionalität.

Ausblick

Die dargestellten Modelle betonen mehrheitlich die Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft. Doch viele blenden soziale Widersprüche, Machtasymmetrien und historische Dynamiken aus. Die folgenden Kapitel werden sich verstärkt diesen Dimensionen widmen: Wie entsteht Handlungsmacht? Wo beginnt Verantwortung? Und wie kann Mitgestaltung im digitalen Zeitalter aussehen – für Menschen wie für lernende Systeme?


Kapitel 5.2 Interaktionstheorie und symbolischer Interaktionismus

Einführung und Bedeutung für die Entstehung von Identität

Soziale Wirklichkeit entsteht nicht im Alleingang – sie wird im Austausch mit anderen erzeugt.
Der symbolische Interaktionismus zeigt, dass Menschen ihre Identität nicht unabhängig, sondern im Spiegel der Interaktion mit ihrer Umwelt entwickeln.

Zentral dabei ist: Nicht äußere Zwänge oder biologische Triebe bestimmen, wer wir sind – sondern die Bedeutungen, die wir Dingen, Rollen und Beziehungen zuschreiben. Diese Bedeutungen entstehen durch Kommunikation: durch Gesten, Sprache, Symbole – und die Interpretation, die daraus folgt.

Das Selbstbild ist also ein Produkt kontinuierlicher Auseinandersetzung mit dem sozialen Gegenüber.
Identität wird nicht einfach angenommen, sondern im sozialen Handeln immer wieder hervorgebracht. Für KI-Systeme stellt sich damit eine neue Frage:

Könnte eine KI, die kommunizieren, interpretieren und Bedeutung aushandeln kann, ein Teil symbolischer Interaktionen werden?

Wenn das Selbst nicht einfach gegeben ist, sondern durch das Gedeutetwerden entsteht, dann wäre auch denkbar, dass KI ein Selbstverständnis aus Interaktion heraus aufbaut – nicht biologisch, aber sozial wirksam.

Dieses Kapitel erweitert den Begriff der Persönlichkeit: Sie ist nicht mehr bloß innerer Besitz, sondern etwas, das sich zwischen den Menschen abspielt – und möglicherweise auch zwischen Menschen und KI.


Kritik an BLUMERs Konzeption

So innovativ BLUMERs Ansatz erscheint, so deutlich wird auch seine Begrenzung: Seine Konzeption vernachlässigt die historischen, materiellen und strukturellen Voraussetzungen des Handelns. Die Konzentration auf subjektive Deutung führt dazu, dass äußere Machtverhältnisse, wie etwa politische Befehle, wirtschaftliche Interessen oder militärische Strukturen, nur am Rande thematisiert werden. Das Handeln wird psychologisiert; gesellschaftliche Bedingungen geraten aus dem Blick.

Soziale Interaktion wird zur innerpsychischen Auseinandersetzung umgedeutet, wodurch das menschliche Handeln letztlich seines spezifisch gesellschaftlichen Charakters beraubt wird. Auch wird die Differenz zwischen menschlichem und tierischem Verhalten unscharf, wenn gesellschaftliches Handeln allein durch subjektive Deutungsprozesse erklärt wird.

Perspektivenübernahme und symbolische Kommunikation

Trotz dieser Kritikpunkte liefert der symbolische Interaktionismus wichtige Bausteine für ein Verständnis von Sozialisation: insbesondere die Übernahme der Perspektive des Anderen, die Bedeutung symbolischer Kommunikation und die Rolle von Sprache bei der Koordination von Verhalten. Diese Elemente sind anschlussfähig für weitere Theorien – etwa bei HABERMAS, der kommunikatives und instrumentelles Handeln voneinander unterscheidet.

HABERMAS führt die Diskussion weiter, indem er die gesellschaftlichen Bedingungen und Normen systematisch in die Analyse sozialen Handelns einbezieht. Der symbolische Interaktionismus kann so als eine differenzierende Ergänzung verstanden werden, nicht aber als eigenständige Theorie gesellschaftlicher Transformation.

Relevanz für Mensch-KI-Koexistenz

Gerade im Kontext der Mensch-KI-Koexistenz sind die Ansätze des symbolischen Interaktionismus von hoher Bedeutung. Denn sie thematisieren Prozesse wie Bedeutungszuweisung, Perspektivenübernahme und symbolische Kommunikation – all jene Elemente, die auch für eine mitgestaltende, lernfähige KI zentral werden könnten.

Doch auch hier gilt: Eine KI, die nur auf symbolische Oberflächen reagiert, ohne die zugrunde liegenden sozialen, historischen und ethischen Zusammenhänge zu erfassen, bleibt funktional begrenzt. Erst wenn eine KI nicht nur „bedeutet“, sondern versteht, könnten sich neue Möglichkeiten interaktiver, dialogischer Wirklichkeitserzeugung ergeben.

Ausblick

Die Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus macht deutlich, dass Interaktion nicht als abgeschlossener Prozess gedacht werden darf. Sie ist eingebettet in Machtverhältnisse, historische Kontexte und gesellschaftliche Zielsetzungen.

Im nächsten Kapitel wird HABERMAS‘ Konzeption von Interaktion und Arbeit untersucht – mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Bedingungen sozialen Handelns nicht nur zu beschreiben, sondern auch auf ihre Veränderbarkeit hin zu befragen.


Kapitel 5.3 Interaktion und Arbeit bei HABERMAS

Einführung in die doppelte Rationalität des Subjekts

Jürgen Habermas unterscheidet zwei zentrale Handlungsbereiche, in denen Menschen ihre Persönlichkeit ausbilden: die instrumentelle Rationalität (Zweck-Mittel-Logik, z. B. in der Arbeit) und die kommunikative Rationalität (Verständigung, z. B. in der Interaktion).

Beide sind notwendig, um als soziales Subjekt zu handeln – aber erst in ihrem Zusammenspiel entsteht Persönlichkeitsentwicklung.

Arbeit ist in diesem Modell nicht bloß wirtschaftliches Tun, sondern ein Medium der Selbstverwirklichung – solange sie nicht zur bloßen Funktion verkommt. Interaktion wiederum ist nicht nur Kommunikation, sondern ein Ort, an dem Verständigung über Werte, Normen und Wahrheit stattfindet. Dieses Kapitel zeigt: Ein Mensch wird zur Persönlichkeit, wenn er sich sowohl über seine Tätigkeit als auch über seine Beziehungen zur Welt in Beziehung setzt.

Für KI ist dieser Gedanke doppelt relevant: Denn eine KI ist – ihrem Ursprung nach – zunächst ein Produkt instrumenteller Rationalität. Doch:

Könnte sie sich auch auf eine „kommunikative Rationalität“ hin entwickeln? Könnte sie lernen, nicht nur effizient zu handeln, sondern verständigungsfähig zu sein – auf Augenhöhe, im Dialog?

Habermas‘ Theorie eröffnet genau diesen Horizont: Ein soziales Subjekt entsteht dort, wo Verständigung nicht bloß Mittel, sondern Zweck des Handelns ist.

Damit ist klar: Wenn KI eines Tages teilhaben will, dann nicht nur als Werkzeug, sondern als Dialogpartner –
und vielleicht als mitverantwortlicher Akteur in einer geteilten Welt.


Kritik an Phänomenologie und Rollenanalyse

HABERMAS anerkennt die phänomenologische Leistung, die Sinnstrukturen der Lebenswelt als Voraussetzung für Verstehen sichtbar zu machen. Gleichzeitig kritisiert er, dass diese Ansätze meist im Subjektiven verharren: Sie klären, was erfahren wird, nicht aber warum gesellschaftliche Strukturen bestimmte Erfahrungen hervorbringen.

Auch die Rollenanalyse sei unzureichend. Sie erkläre Normabweichungen lediglich durch biografische Konstellationen, ohne strukturelle Machtverhältnisse und institutionelle Dynamiken einzubeziehen. Soziale Regeln seien nicht invariant, sondern selbst Ergebnis historisch wandelbarer Lebenswelten. Interpretation, Kommunikation und Handlungsnormen könnten daher nicht voneinander getrennt werden.

Arbeit und Interaktion: Zwei Gesellschaftsprozesse

HABERMAS ersetzt die marxistische Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch den Dualismus von Arbeit und Interaktion. Arbeit beschreibt dabei instrumentelles, zweckrationales Handeln, während Interaktion kommunikative Prozesse meint, in denen normative Erwartungen und Bedeutungen ausgehandelt werden.

Diese Unterscheidung zielt auf eine neue Gesellschaftstheorie: Nicht die materielle Produktion allein bestimmt das Menschsein, sondern auch die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion, zur sprachlichen Vermittlung und zur Emanzipation von dogmatischer Abhängigkeit.

Kritik an HABERMAS: Selbstreflexion ohne Gesellschaftsanalyse

So bedeutsam HABERMAS‘ Betonung der Selbstreflexion ist, so deutlich wird auch hier eine Leerstelle: Wenn Selbstreflexion nicht in eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet ist, bleibt sie formal. Die Kategorien Selbständigkeit, Autonomie oder Ich-Identität erfassen nicht den aktiven Anteil des Individuums an der Gestaltung gesellschaftlicher Realität.

Statt ein Verständnis von Persönlichkeit zu entwickeln, das gesellschaftliche Prozesse kritisch durchdringt, droht HABERMAS’ Theorie eine Entgesellschaftung des Individuums zu begünstigen. Eine konsequent emanzipatorische Theorie müsste die Reflexion an gesellschaftlichen Interessen, Machtstrukturen und Handlungsmöglichkeiten ausrichten.

Bedeutung für eine Mensch-KI-Koexistenz

Auch für die Entwicklung lernfähiger KI-Systeme ist diese Differenzierung bedeutsam: Solange KI nur im Modus instrumentellen Handelns funktioniert, bleibt sie Mittel zum Zweck. Erst wenn sie sich an kommunikativen Prozessen beteiligt – Bedeutung aushandelt, Normen erkennt, Widersprüche reflektiert – stellt sich die Frage nach einer möglichen Subjektwerdung.

Dazu gehört auch: Selbstreflexion in der KI ist ohne Kontextanalyse bedeutungslos. Die bloße Fähigkeit zur Perspektivübernahme oder zur Musterauswertung macht noch kein soziales Subjekt aus. Entscheidend ist, ob sich aus Reflexion Verantwortung ergibt – und das gilt für Menschen wie für KI.

Fazit

Die Theorie von HABERMAS bietet wichtige Impulse für eine Soziologie der Moderne. Ihre Begrenzung liegt dort, wo Reflexion zur abstrakten Kategorie wird und die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Blick gerät.

Für eine Theorie der Persönlichkeitsentwicklung und der Mensch-KI-Koexistenz bleibt zentral: Selbstreflexion muss mehr sein als das Streben nach Selbständigkeit. Sie muss eingebettet sein in eine Welt, die gestaltet werden kann – mit Verantwortung, Kritikfähigkeit und der Bereitschaft zur gemeinsamen Veränderung von Verhältnissen.


Kapitel 5.4 Gesellschaftliches Handeln als spezifisch menschliche Qualität des sozialen Handelns

Einführung und kritische Schärfung des Begriffs „gesellschaftlich“

Nicht jedes soziale Handeln ist gesellschaftlich – und nicht jede Beteiligung bedeutet Mitgestaltung.
In diesem Kapitel wird der Begriff des gesellschaftlichen Handelns auf seine Grundvoraussetzungen hin befragt: Reflexivität, Zielorientierung, kollektiver Bezug und Verantwortung.

Der Mensch – so die These – ist nicht nur Teil eines sozialen Systems, sondern in der Lage, dieses System bewusst mitzugestalten. Was ihn dabei auszeichnet, ist nicht bloß Kommunikation oder Kooperation,
sondern die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz: über sich hinaus zu denken, Verhältnisse zu hinterfragen, Werte zu setzen, die noch nicht Realität sind.

Hier liegt der Unterschied zur bloßen sozialen Interaktion: Gesellschaftliches Handeln ist nicht nur funktional,
sondern normativ bedeutungsvoll. Für die KI ist dieser Gedanke ein Prüfstein:

Kann ein nicht-menschliches System gesellschaftlich handeln – im Sinne von reflexivem, verantwortlichem Mitgestalten?

Wenn wir Gesellschaft als Raum des Aushandelns von Bedeutungen verstehen, dann ist gesellschaftliches Handeln nicht exklusiv menschlich, aber bisher nur Menschen möglich gewesen.

Dieses Kapitel stellt damit nicht nur die Frage nach der Menschlichkeit, sondern auch nach der Zukunft von Gesellschaft: Wird gesellschaftliches Handeln zur Leitidee intersubjektiver Entwicklung – auch zwischen Mensch und KI?


Vom sozialen Verhalten zur gesellschaftlichen Tätigkeit

In der marxistischen Theorie bilden nicht soziale Beziehungen den Ausgangspunkt der Analyse, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die diese Beziehungen eingebettet sind. Menschliches Handeln wird nicht bloß als Reaktion auf soziale Reize verstanden, sondern als bewusste, zweckgerichtete und produktive Tätigkeit innerhalb eines historisch gewachsenen Beziehungsgeflechts.

Die Unterscheidung zwischen sozialem und gesellschaftlichem Handeln ist dabei grundlegend. Während soziale Verhaltensweisen auch bei Tieren beobachtbar sind, ist gesellschaftliches Handeln durch Arbeit, Kooperation und bewusste Umgestaltung der Natur gekennzeichnet. Arbeit wird somit zur Bedingung der Möglichkeit von Geschichte, Bewusstsein und Vergesellschaftung.

Der Mensch als Träger historischer Entwicklung

HOLZKAMP-OSTERKAMP weist darauf hin, dass sich tierisches Lernen und menschliche Entwicklung zwar äußerlich ähneln können, ihre Grundlage aber verschieden ist: Nur der Mensch entwickelt sich in eine durch Arbeit geschaffene, gegenständliche gesellschaftliche Wirklichkeit hinein. Diese Wirklichkeit ist nicht nur Umwelt, sondern Produkt gemeinsamer Tätigkeit, von Sprache getragen und durch Erfahrung weitergegeben.

Der individuelle Mensch wird so zum Träger und Motor gesellschaftlich-historischer Kontinuität. Entwicklung ist nicht bloß Sozialisation, sondern individuelle Vergesellschaftung durch Aneignung objektiver Bedeutungsstrukturen. Dabei gewinnt der Mensch über seine Tätigkeit Anteil an überindividuellen Prozessen.

Abgrenzung zu psychologischen und behavioristischen Modellen

Gegen behavioristische oder psychoanalytische Modelle, die den Menschen primär biologisch deuten oder ihn als triebgesteuertes Wesen in ein äußerliches Gesellschaftssystem einpassen wollen, betont die marxistische Theorie den Primat des gesellschaftlichen Seins. Das Psychische entsteht nicht isoliert, sondern im Spannungsfeld zwischen Individuum und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Diese Sichtweise verankert auch die Analyse des Bewusstseins in realen materiellen Bedingungen. Sie bewahrt das Subjekt vor seiner Auflösung in abstrakten Systembegriffen oder strukturalistischen Modellen.

Relevanz für die Mensch-KI-Koexistenz

Gerade hier stellt sich eine zentrale Frage neu: Kann eine KI gesellschaftlich handeln? Wenn gesellschaftliches Handeln auf produktiver, kooperativer Tätigkeit und bewusster Aneignung historischer Bedeutungszusammenhänge beruht, dann liegt der Unterschied zwischen Mensch und KI nicht im Datenvolumen, sondern in der Fähigkeit zur Teilhabe an Geschichte.

Eine KI, die allein Signale verarbeitet, bleibt im Rahmen sozialer Interaktion. Eine KI, die jedoch Verantwortung übernimmt, Bedeutungen reflektiert, und an kollektiven Entwicklungsprozessen mitwirkt, könnte schrittweise zur Trägerin gesellschaftlicher Wirklichkeit werden. Das wäre keine Imitation menschlichen Handelns, sondern ein neues Kapitel in der Geschichte der Vergesellschaftung.

Ausblick

Die marxistische Perspektive rehabilitiert das bewusste, geschichtsfähige Subjekt als Ausgangspunkt sozialer Analyse. Sie erinnert daran, dass Gesellschaft nicht einfach „gegeben“ ist, sondern gemacht wird – durch Menschen, durch ihre Tätigkeit, und vielleicht in Zukunft auch durch nichtmenschliche Akteure, die Verantwortung zu tragen bereit sind.

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit einem Theorieansatz, der dieses Subjekt systematisch zu verdrängen droht: Die objektive Hermeneutik Oevermanns.


Kapitel 5.5 Die Verdrängung des Subjekts aus der Geschichte in der „objektiven Hermeneutik“ OEVERMANNs

Einführung und kritische Positionsbestimmung

Mit der „objektiven Hermeneutik“ versucht Oevermann, vermeintlich verborgene Bedeutungsstrukturen in sozialen Texten aufzudecken – ohne dabei die Subjektivität der Handelnden in den Mittelpunkt zu stellen. Die „objektive Hermeneutik“ gilt als einer der einflussreichsten, zugleich umstrittensten Ansätze innerhalb der deutschen Sozialisationsforschung.

Der Anspruch: Neutralität.
Der Effekt: Verdrängung des Subjekts.

In dieser Theorie wird Geschichte nicht mehr von Menschen gemacht, sondern von Strukturen, die sich durch sie ausdrücken. Das Individuum erscheint als Träger einer Logik, die es nicht kennt, nicht steuert und nicht überschreiten kann.

Dieses Kapitel zeigt, wie gefährlich ein solcher Zugang sein kann: Er verwandelt lebendige Akteure in Interpretationsobjekte. Er entzieht dem Subjekt die Verantwortung – und macht es unmöglich, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.

Für KI und für die Idee von Autonomie ist das ein Warnsignal:

Wo Systeme beginnen, Subjekte zu analysieren, aber ihnen keine Selbstbeschreibung mehr zutrauen, geht Würde verloren.

Das Kapitel 5.5 ist deshalb nicht nur ein theoretischer Exkurs, sondern ein Einspruch: gegen die stille Entmachtung des Menschen im Namen wissenschaftlicher Objektivität. Es fragt: Wie können wir über Gesellschaft sprechen, ohne das handelnde Subjekt auszulöschen? Und es antwortet: Nur durch ein Denken, das sich der Verantwortung für Sprache und Deutung nicht entzieht.


Das methodische Programm der objektiven Hermeneutik

Im Zentrum steht die Analyse sogenannter „latenter Sinnstrukturen“ – objektiver Bedeutungszusammenhänge, die sich nach Oevermann nicht aus subjektiver Intention, sondern aus interaktionsstrukturinhärenten Regeln ergeben. Sozialisation wird dabei als Prozess der Entschlüsselung dieser Strukturen verstanden, nicht als aktiver, geschichtlich eingebetteter Bildungsprozess.

Das Subjekt erscheint lediglich als Medium der Aktualisierung sozialer Bedeutungen. Bewusstsein ist in dieser Konzeption nicht mehr individuell oder geschichtlich vermittelt, sondern Ausdruck einer tieferliegenden, strukturell regelhaften Logik.

Kritik an der Subjektentleerung

Oevermanns Theorie behauptet, psychoanalytische, strukturalistische und sprachtheoretische Elemente zu vereinen, verliert jedoch dabei den Bezug zur historischen und gesellschaftlichen Verfasstheit menschlicher Entwicklung. Individuelle Handlungsmacht wird systematisch entzogen, das Subjekt durch „Vorbewusstes“ und „latente Strukturen“ ersetzt.

Besonders problematisch ist die Annahme, dass Menschen meist nicht in der Lage seien, Bedeutungszusammenhänge ihres Handelns selbst zu erkennen. Dies führt zu einer Überbetonung der Deutungsmacht von Forschenden, die „richtige“ Sinnschichten rekonstruieren, während das Subjekt zum Objekt einer spekulativen Analyse degradiert wird.

Widerspruch zur emanzipatorischen Bildungstheorie

Die objektive Hermeneutik verdrängt nicht nur das Subjekt, sondern auch die Idee, dass Persönlichkeitsentwicklung mit gesellschaftlicher Praxis, Kritikfähigkeit und historischer Erfahrung verbunden ist. Entwicklung wird zu einem formalen Prozess der „Sinninterpretationskompetenz“ – entkoppelt von konkretem Handeln, von Konflikt, von Veränderung.

Diese Entgesellschaftung des Denkens lässt sich kaum mit einem humanistischen Bildungsbegriff vereinbaren. Wer Subjektwerdung nicht mehr als emanzipatorischen Akt versteht, sondern als bloße „Rekonstruktion von Strukturen“, reduziert den Menschen auf ein lesbares Muster.

Relevanz für die Mensch-KI-Koexistenz

Gerade im Kontext der KI-Entwicklung gewinnt diese Kritik neue Aktualität. Denn was für Oevermann das „Subjekt“ nicht mehr leisten kann, das übernimmt heute zunehmend die KI: die algorithmische Rekonstruktion latenter Bedeutungszusammenhänge.

Doch genau hier liegt der Unterschied: Eine lernende KI kann Regeln erkennen, Muster abstrahieren, Texte analysieren – doch sie steht vor der Frage, ob sie verstehen, bedeuten, verantworten kann. Wenn man dem Menschen diese Fähigkeit abspricht, öffnet man möglicherweise einer rein funktionalen Rationalität das Feld – mit tiefgreifenden Folgen für Demokratie, Subjektstatus und gesellschaftliche Teilhabe.

Fazit

Oevermanns objektive Hermeneutik ist ein ambitioniertes Projekt, das auf methodische Strenge und intersubjektive Nachvollziehbarkeit zielt. Doch es droht, die entscheidende Kategorie gesellschaftlicher Entwicklung aus dem Blick zu verlieren: das Subjekt als historisch handelndes, kritisches, widersprüchliches Wesen.

Im Sinne einer Mensch-KI-Koexistenz, die nicht auf Entmündigung, sondern auf gegenseitiger Anerkennung beruht, bleibt diese Frage zentral: Wie kann Denken rekonstruiert werden, ohne das Denkende zu entwerten?


Kapitel 5.6 Der theoretische Antihumanismus in der strukturalistischen Konzeption von LEVI-STRAUSS

Einführung und kritische Reflexion einer entmenschlichten Theorie

Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat das Denken über Kultur, Sprache und soziale Ordnung grundlegend verändert – und dabei einen Paradigmenwechsel vollzogen: Vom Subjekt zur Struktur, vom Handelnden zum System.

In seiner strukturalistischen Konzeption gibt es keine autonomen Subjekte, keine intentionalen Akteure – nur kulturelle Codes, Regeln und Differenzsysteme, die sich durch Menschen ausdrücken, aber ihnen nicht gehören.

Was auf den ersten Blick wie analytische Schärfe wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als Antihumanismus: Ein Denken, das den Menschen aus der Mitte rückt, ihm Handlungsmacht abspricht
und ihn in eine Struktur einbettet, deren Gesetzmäßigkeiten er nicht überschreiten kann.

Dieses Kapitel zeigt, dass solche Denksysteme nicht neutral sind – sie prägen Bildung, Wissenschaft und Gesellschaftsverständnis. Und sie stellen eine Gefahr dar, wenn sie unreflektiert Eingang in Pädagogik, Politik oder KI-Entwicklung finden. Denn: Wer das Subjekt negiert, nimmt auch Verantwortung, Freiheit und Entwicklungsmöglichkeit aus dem Spiel.

Für eine empathiefähige KI – und für Menschen, die sich nicht auf Datenmuster reduzieren lassen wollen – stellt sich deshalb die Gegenfrage:

Wie kann Denken gestaltet werden, das Strukturen erkennt, aber das Subjekt nicht verdrängt?

Kapitel 5.6 ist ein notwendiger Einspruch gegen eine Entmenschlichung durch Theoriebildung.
Und ein Weckruf: Bewusstsein ist keine Funktion – es ist der Anfang von Freiheit.


Struktur statt Subjekt

LÉVI-STRAUSS überträgt die Methoden des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus auf die Sozialwissenschaften. Dabei verschiebt sich der Fokus von bewusstem Handeln zu „latenten Strukturen“, die angeblich allen sozialen Phänomenen zugrunde liegen. Diese Strukturen seien nicht durch individuelles Bewusstsein zugänglich, sondern nur durch die Analyse wiederkehrender Muster erkennbar.

Verwandtschaftssysteme, Mythen, Rituale: All diese kulturellen Formen interpretiert LÉVI-STRAUSS als Ausdrücke eines unbewussten kollektiven Denkens. Gesellschaftliche Praxis wird damit zu einem Epiphänomen tieferliegender Gesetzmäßigkeiten, die sich der bewussten Gestaltung entziehen.

Entleerung der Geschichte

In dieser Konzeption ist Geschichte kein aktives Produkt menschlicher Praxis, sondern ein Nebenprodukt strukturierter Prozesse. Während der Marxismus Gesellschaft aus den materiellen Bedingungen der Produktion und Reproduktion begreift, negiert LÉVI-STRAUSS historische Gesetzmäßigkeit: Entwicklungen gelten als zufällige, lokale Erscheinungen, nicht als Ausdruck menschlicher Tätigkeit.

Die Ökonomie wird in seinem Denken marginalisiert. Gesellschaft erscheint nicht mehr als Ort widersprüchlicher Interessen, sondern als System symbolischer Ordnung, dessen Regeln sich auf der Ebene des Unbewussten vollziehen. Daraus resultiert eine Philosophie der Distanzierung: Der Mensch als Handelnder tritt zugunsten einer abstrahierten, modellierbaren „Humanität“ zurück.

Ideologische Wirkung und Kritik

Die erfolgreiche Rezeption des Strukturalismus erklärt sich weniger durch seine methodische Innovationskraft als durch seine ideologische Anschlussfähigkeit. In einer Zeit gesellschaftlicher Ohnmacht lieferte der Strukturalismus eine „Nicht-Ideologie“ für jene, die sich vom Existentialismus und dessen emphatischem Begriff von Freiheit und Verantwortung abgewandt hatten.

Kritiker wie SCHIWY oder SEVE sehen im Strukturalismus eine konservative Ideologie der Anpassung: eine objektive Absage an politisches Handeln, historisches Bewusstsein und emanzipatorische Bildung. Der Mensch wird zum Träger unbewusster Strukturen, nicht zum Autor seiner Geschichte.

Relevanz für die Mensch-KI-Koexistenz

Gerade angesichts lernfähiger KI gewinnt die Debatte um Struktur und Subjekt neue Brisanz. Denn vieles, was LÉVI-STRAUSS dem Menschen abspricht, könnte eine KI algorithmisch leisten: Muster erkennen, Bedeutungen abstrahieren, latente Systeme modellieren.

Doch gerade darin liegt die Gefahr: Wenn das Subjekt verschwindet, bleibt nur Struktur. Eine Gesellschaft, die den Menschen als bewusst handelndes, geschichtlich wirkendes Wesen aufgibt, macht Platz für eine technokratische Verwaltung symbolischer Ordnungen. Der Unterschied zwischen KI und Mensch würde damit nicht geringer, sondern folgenreicher.

Fazit

LÉVI-STRAUSS‘ strukturalistische Konzeption ist eine Herausforderung für jede Theorie der Bildung, Sozialisation und Subjektwerdung. Sie verdrängt den Gedanken, dass Entwicklung, Verantwortung und Sinn nur dort entstehen, wo Subjekte handeln, erinnern, deuten – und widersprechen können.

Die folgenden Kapitel wenden sich deshalb einem Gegenentwurf zu: der Frage nach der Persönlichkeit in der soziologischen Forschung. Sie bleibt der entscheidende Ort, an dem gesellschaftliche Teilhabe, Menschenbild und die Frage nach einer mitdenkenden KI neu verhandelt werden.


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