Kapitel 7.2 Die Engagiertheit des Subjekts in seiner Erkenntnistätigkeit

Während im vorhergehenden Abschnitt die subjektive Relevanz als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Persönlichkeit beleuchtet wurde, rückt nun die aktive Erkenntnistätigkeit des Subjekts selbst in den Mittelpunkt. Das Individuum wird nicht als passives Trägerobjekt gesellschaftlicher Einflüsse verstanden, sondern als ein tätiges, auf Erkenntnis gerichtetes Subjekt, das seine Umwelt sinnlich und gedanklich verarbeitet, interpretiert und in seiner Praxis verändert.

Gegenüber Ansätzen, die Alltagswissen vorwiegend als unreflektiertes Routinewissen begreifen, betont die hier vertretene Perspektive die grundsätzliche Engagiertheit des Subjekts auch in alltäglichen Prozessen. Die Fähigkeit zur bewussten Orientierung und zur kreativen Aneignung von Wirklichkeit ist keine bloße Ausnahme in Krisensituationen, sondern Wesensmerkmal menschlicher Tätigkeit.

In der Auseinandersetzung mit der Realität — im Wahrnehmen, Denken, Interpretieren und Handeln — entfaltet das Subjekt seine Persönlichkeit. Seine Erkenntnistätigkeit ist dabei eingebettet in gesellschaftlich bestimmte Zusammenhänge, doch bleibt sie ein aktiver, gestaltender Prozess. Die weiteren Unterkapitel werden diese Prozesse anhand zentraler Kategorien wie Erweiterung der Wirklichkeit, Bewusstsein, subjektiver Sinn und Internalisierung differenziert entfalten und deren Bedeutung für Lern- und Entwicklungsprozesse untersuchen.


Für MATTHES und SCHÜTZE besteht in Anlehnung an SCHÜTZ Alltagswissen „weniger aus REFLEKTIERTEN Wissensbeständen als aus verschiedenen Schichten unbewußten und unreflektierten Routinewissens“ (MATTHES/SCHÜTZE 1973, S. 22).
Das Subjekt stellt sich als passives Medium äußerer Prozesse dar, das allein in „Krisensituationen“ zur Aktivität fähig ist:

„Lediglich in Krisensituationen, in denen die routinemäßig praktizierten Handlungsmuster ihren altgewohnten Erfolg versagen, geraten entsprechende Teile des Alltagswissens in den Bereich bewußter Reflexion, die jedoch gewöhnlich nach kurzer Zeit durch praktische Legitimationstheorien zur Stabilisierung der altgewohnten Routinen wieder „eingeschläfert“ wird“ (ebda.).

MATTHES und SCHÜTZE, die sich deutlich von jenen Tendenzen abgrenzen wollen, die Alltagswissen und „wissenschaftliches Wissen“ in einen

Die Besonderheit des Lernens Erwachsener ist eng verbunden mit ihrer Position als Subjekt der Erkenntnis und des Denkens. Für die Lerntheorie hat der Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Psychologie im Gegenstandsbereich des Lernens und Denkens weitreichende Konsequenzen: „Denn der Inhalt des durch Lernprozesse ausgebildeten Denkens ist das ERKENNEN VON ETWAS, die Struktur der Ausbildung ist jedoch psychisch“ (WILHELMER 1979, S. 139). LEONTJEW hebt den aktiven Anteil des Subjekts beim widerspiegelnden Denken bzw. bei der Reflexion äußerer Bedingungen hervor:

„Um im Bewußtsein ein Abbild entstehen zu lassen, reicht eine einseitige Einwirkung von Dingen auf die Sinnesorgane des Menschen nicht aus, es muß außerdem noch ein entsprechender und dabei von seiten des Subjekts aktiver Prozeß vorhanden sein. Ganz einfach gesagt, um etwas zu sehen, muß hingesehen werden, um etwas zu hören, muß gehorcht werden, um ein taktiles Abbild eines Gegenstandes zu erhalten, muß er belastet werden, d.h. es muß immer auf die eine oder andere Weise gehandelt werden“ (LEONTJEW 1974, S. 76).

Um den spezifischen Inhalt des Begriffs Subjekt in Zusammehang mit seinem Bewußtsein zu bestimmen, müssen jene Merkmale fixiert werden, „die bei der Charakteristik des psychologischen Bewußtseinsbegriffs und bei der Definition des Persönlichkeitsbegriffs zur Kennzeichnung des aktiven und bewußten Verhaltens dienen“ (THOM 1978, S. 37).

Nach verbreiteter Auffassung besteht Alltagswissen „weniger aus REFLEKTIERTEN Wissensbeständen als aus verschiedenen Schichten unbewußten und unreflektierten Routinewissens“ (MATTHES/SCHÜTZE 1973, S. 22).

Das Subjekt stellt sich als passives Medium äußerer Prozesse dar, das allein in „Krisensituationen“ zur Aktivität fähig ist, „in denen die routinemäßig praktisierten Handlungsmuster ihren altgewohnten Erfolg versagen“. Erst dann „geraten entsprechende Teile des Alltagswissens in den Bereich bewußter Reflexion, die jedoch gewöhnlich nach kurzer Zeit durch praktische Legitimationstheorien zur Stabilisierung der altgewohnten Routinen wieder „eingeschläfert“ wird“ (MATTHES/SCHÜTZE 1973, S. 22).
MATTHES und SCHÜTZE, die sich deutlich von jenen Tendenzen abgrenzen wollen, die Alltagswissen und „wissenschaftliches Wissen“ in einen strikten Gegensatz bringen, nehmen zwar an, daß „von der Abarbeitung solcher Krisensituationen stehts ein Rest an innovierten und weiterhin innovierenden Orientierungselementen im Alltagswissensbestand zurück(bleibt)“ (MATTHES/SCHÜTZE 1973, S. 22), behalten jedochd ie Auffassung bei, daß Alltagswissen und Routinewissen identisch sind. Aber Alltagswissen und Reflexion sindvon Natur aus ebensowenig entgegengesetzt wie automatisierte und aktive Handlungen; sie können es unter bestimmten Bedingungen werden.

„Wenn die Handlungen unter stereotypen Bedingungen anerzogen werden und sich die Orientierung in einer Situation bald auf das Identifizieren weniger charakteristischer Merkmale zu beschränken beginnt, werden auch die Handlungen stereotyp. In diesen Fällen geschieht es bei einer unerwarteten Veränderung der Situation nicht selten, daß Handlungen anhand einzelner bedingter Reizerreger ausgeführt werden, ohne daß die tatsächliche Lage insgesamt berücksichtigt wird. In solch einem Fall sagt man, die Automatisierungen wirken der sinnvollen Handlungsausführung entgegen. Dies bedeutet aber, daß nicht die Automatisierung an und für sich, sondern das Nachlassen der Orientierung in der Situation zur Realisierung einzelner Handlungen führt, die nicht der Gesamtstruktur dieser Situation entsprechen. Bleibt jedoch die Gesamtorientierung in der Situation erhalten, können und müssen die Handlungen mit ihren einzelnen Teilen eine hohe Automatisierung erreichen, wie dies auch bei allen Virtuosen ihres Faches beobachtet werden kann. Der Alltagswiderspruch „stereotyp“ und „schöpferisch“ drückt nicht den Widerspruch von Aktivem und Automatischem in den Handlungen selbst aus, sondern den Widerspruch „Orientierung auf das Besondere“ und „Orientierung auf das Ganze“ (GALPERIN 1980, S. 104).

Die Frage, ob routinisiertes Handeln eine die Persönlichkeit stabilisierende oder zerstörende Funktion hat, läßt sich nur über eine Analyse des Gesamtzusammenhangs zwischen den Tätigkeiten, deren Gegenständen, den gesellschaftlichen Verhältnissen und den Motiven mit Hilfe biographischer Forschung erkennen.

Zunächst aber ist von der grundsätzlichen Engagiertheit des Subjekts in seiner Erkenntnistätigkeit auszugehen.
Die Engagiertheit des Subjekts in seiner Erkenntnistätigkeit ist ein Vorgang, der „bereits „im Fundament des Gebäudes der Materie selbst“ angelegt ist, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe, und zwar auf der Ebene der hochorganisierten lebenden Materie die Form der Empfindung, der Wahrnehmung erlangt, beim menschen auch die Form ders theoretischen Gedankens, des Begriffs“ (LEONTJEW 1979, S. 52).
Dieser Vorgang, der in der marxistischen Philosophie als psychische Widerspiegelung bezeichnet wird, ist subjektiv, d.h. zum tätigen Subjekt zugehörig (nicht subjektivistisch, willkürlich), „und das bedeutet, daß das menschliche Leben, die Praxis in ihre Definition eingeht“ (S. 59).
Die Engagiertheit ist nicht abhängig von Bedürfnissen, Motiven, Einstellungen und Emotionen; sie ist ebenso wie das psychische Abbild „… ein Produkt der praktischen Lebenszusammenhänge und Lebensbeziehungen des Subjekts zur gegenständlichen Welt …“ (ebda.).

Die unmittelbare sinnliche Widerspiegelung der Wirklichkeit ist die Wahrnehmung „als eine Stufe und zugleich als die hauptsächliche Erkenntnisform“ (S. 38). LEONTJEW bezeichnet sie als „echt gegenständliche Tätigkeit“, die zwar nicht mit der praktischen Einwirkung des Menschen auf den Gegenstand zusammehänge, aber „sich ihrem Gegenstand unterordnet, welcher die Gesamtheit der menschlichen GESELLSCHAFTLICHEN Praxis verkörpert“ (S. 40).
Das heißt, die Tätigkeit der Wahrnehmung besteht nicht einerseits aus der Arbeit der Sinnesorgane und andererseits aus Einwirkungen eines physikalischen Gegenstands, sondern sie ist gesellschaftlich-historischer Natur, ebenso wie das Denken.
Die sinnlichen Abbilder erhalten beim Menschen eine neue Qualität und zwar Bedeutungscharakter (S. 136). Träger der Bedeutungen, aber nicht deren Demiurg, ist die Sprache.

„Mit anderen Worten, in den Bedeutungen ist die in die Sprachmaterie umgestaltete und eingekleidete ideelle Existenzform der gegenständlichen Welt, ihrer Eigenschaften, Zusmmenhänge und Beziehungen repräsentiert, die durch die gesamte gesellschaftliche Praxis entdeckt wurden. Daher sind die Bedeutungen an sich, das heißt abstrahiert von ihrem Funktioneiren im individuellen Bewußtsein, ebenso „unpsychologisch“ wie jene gesellschaftlich erkannte Realität, die sich hinter ihnen befindert“ (S. 136 f.).


0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
0
Would love your thoughts, please comment.x