Kapitel 7.2.1 Erweiterung der Wirklichkeit

Die Fähigkeit des Subjekts zur Erweiterung seiner Wirklichkeit ist ein grundlegendes Moment seiner Persönlichkeitsentwicklung. Anders als Konzeptionen, die das Bewusstsein lediglich als Abbild bestehender sozialer Tätigkeitsstrukturen begreifen, hebt die hier vertretene Auffassung die dynamische Offenheit des Bewusstseins gegenüber neuen Erfahrungen und sozialen Einflüssen hervor.

Die Entwicklung des Individuums vollzieht sich nicht als bloße Wiederholung vorhandener Tätigkeitsmuster, sondern als aktive Aneignung, Erweiterung und Neugestaltung der Wirklichkeit. In der gegenständlichen Tätigkeit tritt das Individuum in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedingungen, verändert sie und wird zugleich selbst verändert. Diese beständige Erweiterung der erkennbaren und gestaltbaren Welt führt zu neuen Bedürfnissen, neuen Motiven und neuen Tätigkeitsformen, die die Persönlichkeit in ihrer Vielfalt und Tiefe prägen.

Das folgende Kapitel untersucht, wie die Persönlichkeit durch die aktive Erweiterung der Wirklichkeit gebildet und entwickelt wird, welche Rolle dabei die Motive, Ziele und Handlungen spielen, und warum eine umfassende, reiche Beziehung zur Welt für eine allseitige Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbar ist.


Der Unterschied in der Frage, ob das Bewußtsein nach bestimmten abstrakten Prinzipien der sozialen Tätigkeit aufgebaut ist, die Struktur der Tätigkeit nur wiederholt, oder es immer geöffnet ist für neue Einwirkungen des Sozialen über die Tätigkeit des Individuums, ist wesentlich, weil nur die letztere Auffassung den Weg für die Erforschung der Entwicklung der Persönlichkeit eröffnet.

„Dabei ist wichtig, zu betonen, daß das Problem der Entwicklung damit erstmals über die Grenzen des Problems der Kindheit, der Entwicklung der der „Kultivierung“ des Kindes vermittels der gesellschaftlichen Erfahrung hinausgeführt wurde. Es wurde die methodologische Voraussetzung für die Erforschung der Entwicklung der Herausbildung der erwachsenen Persönlichkeit in Abhängigkeit von den konkreten Bedingungen ihrer Tätigkeit formuliert“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, s. 63).

Zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Subjekt und dem Produkt seiner Tätigkeit ist die gegenständliche Tätigkeit das vermittelnde Glied.

„Wenn ich mich in meiner Tätigkeit objektiviere, beziehe ich mich damit selbst in den objektiven Kontext der von mir, von meinem Willen unabhängigen Situation ein. Ich trete im Prozeß der wechselseitigen Durchdringung von Handlung und Gegenstand in die objektive, von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten deterinierte Situation ein, und die objektiven Ergebnisse meiner Tätigkeit werden bestimmt durch die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, in die ich mich einbezogen habe, die Produkte meiner Tätigkeit sind Produkte der gesellschaftlichen Tätigkeit“ (RUBINSTEIN o.A., zit. von ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1978, S. 64).

Eingebettet in den Prozeß der gesellschaftlichen Tätigkeit wiederholt der Mensch nicht die Tätigkeit in seinem Bewußtsein, sondern er erweitert seine Wirklichkeit.

„Der Mensch lebt in eine Wirklichkeit, die sich ihm gleichsam ständig erweitert. Zuerst ist dies der ernge Kreis der ihn unmittelbar umgebenden Menschen und Gegenstände, die Wechselwirkung mit ihnen, ihre sinnliche Wahrnehmung und die aneignung von Bekanntem über sie, die Aneignung ihrer Bedeutung. Später aber öffnet sich ihm die Wirklichkeit, die weit jenseits seiner praktischen Tätigkeit und direkten Kommunikation liegt; die Grenzen der erkennbaren und vorstellbaren Welt erweitern sich. Das tatsächliche „Feld“, das nunmehr seiner Handlungen bestimmt, ist nicht einfach das Vorhandene, sondern das Existierende – das Objektiv und mitunter nur illusorisch Existierende. Die Kenntnis dieses Existeirenden eilt stets seiner Umwandlung in das tätigkeitsbestimmende Wissen voraus“ (LEONTJEW 1979, S. 199 f.).

Die Entwicklung ist durch ein dynamisches Zusammenwirken von Motiven – Zielen – Handlungen – neuen Motiven gekennzeichnet.

„Die Entwicklung der Persönlichkeit setzt die Entwicklung der Zielbildung und entsprechend die Entwicklung der Handlungen des Subjekts voraus. Die Handlungen werden immer reicher, sie wachsen gleichsam über jenen Kreis von Tätigkeiten hinaus, die sie realisieren können, und geraten in Widerspruch zu deren Motiven. … Dadurch ergibt sich eine Verschiebung der Motive auf die Ziele, eine Änderung ihrer hierarchie und die Entstehung neuer MOtive – neuer Tätigkeitsarten; die früheren Ziele werden psychologisch diskreditiert und die ihnen entsprechenden Handlungen hören entweder völlig zu existieren auf oder sie verwandeln sich in persönlichkeitsunspezifische Operationen“ (S. 200).

Die Entwicklung des Individuums hängt von dem Reichtum seiner Beziehungen zur Umwelt, zu den Gegenständen und zu anderen Menschen ab, die er in seiner Tätigkeit realisiert. Aufbauend auf der Vorstellung von MARX, daß der „reiche Mensch“ der „einer Totalität der menschlichen Lebensäußerungen BEDÜRFTIGE Mensch“ ist, „der Mensch, in dem seine eigene Verwirklichung als innere Notwendigkeit, als NOT existiert“ (MARX 1968, S. 544), entwickelt der sowjetische Philosoph MITROCHIN diesen Gedanken weiter.

„Daraus läßt sich eine wichtige Schlußfolgerung ableiten: Unter der Herausbildung einer „reichen“, „harmonischen“, „allseitig entwickelten“ Persönlichkeit, die sich den gesellschaftlichen Reichtum aneignet, ist nicht die Organisierung eines Systems zur Verteilung verschiedener ethischer, kultureller und sonstiger Werte an die Menschen zu verstehen, denen nur übrigbleibt, sie so vollständig wie möglich aufzunehmen. Das wäre das bürgerlich-bürokratische Denkschema, in dem das „Volk“ nur als Objekt für hochherzige philantropische Anwandlungen fungiert. Das gesellschaftliche Wesen das menschen läßt sich nur in dessen aktiven Tätigkeit, nur in der direkten Teilnahme am gesellschaftichen Schaffensprozeß aneignen; erst dadurch bildet sich ein bestimmter sozialen Persönlichkeitstyp heraus“ (MITROCHIN 1972, S. 31).

Diese geistige, psychische Entwicklung einzelner menschen ist „das Produkt eines besonderen Prozesses – der Aneignung“ (LEONTJEW 1973, S. 232).


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