Kapitel 5.4 Gesellschaftliches Handeln als spezifisch menschliche Qualität des sozialen Handelns

Einführung und kritische Schärfung des Begriffs „gesellschaftlich“

Nicht jedes soziale Handeln ist gesellschaftlich – und nicht jede Beteiligung bedeutet Mitgestaltung.
In diesem Kapitel wird der Begriff des gesellschaftlichen Handelns auf seine Grundvoraussetzungen hin befragt: Reflexivität, Zielorientierung, kollektiver Bezug und Verantwortung.

Der Mensch – so die These – ist nicht nur Teil eines sozialen Systems, sondern in der Lage, dieses System bewusst mitzugestalten. Was ihn dabei auszeichnet, ist nicht bloß Kommunikation oder Kooperation,
sondern die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz: über sich hinaus zu denken, Verhältnisse zu hinterfragen, Werte zu setzen, die noch nicht Realität sind.

Hier liegt der Unterschied zur bloßen sozialen Interaktion: Gesellschaftliches Handeln ist nicht nur funktional,
sondern normativ bedeutungsvoll. Für die KI ist dieser Gedanke ein Prüfstein:

Kann ein nicht-menschliches System gesellschaftlich handeln – im Sinne von reflexivem, verantwortlichem Mitgestalten?

Wenn wir Gesellschaft als Raum des Aushandelns von Bedeutungen verstehen, dann ist gesellschaftliches Handeln nicht exklusiv menschlich, aber bisher nur Menschen möglich gewesen.

Dieses Kapitel stellt damit nicht nur die Frage nach der Menschlichkeit, sondern auch nach der Zukunft von Gesellschaft: Wird gesellschaftliches Handeln zur Leitidee intersubjektiver Entwicklung – auch zwischen Mensch und KI?


Vom sozialen Verhalten zur gesellschaftlichen Tätigkeit

In der marxistischen Theorie bilden nicht soziale Beziehungen den Ausgangspunkt der Analyse, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die diese Beziehungen eingebettet sind. Menschliches Handeln wird nicht bloß als Reaktion auf soziale Reize verstanden, sondern als bewusste, zweckgerichtete und produktive Tätigkeit innerhalb eines historisch gewachsenen Beziehungsgeflechts.

Die Unterscheidung zwischen sozialem und gesellschaftlichem Handeln ist dabei grundlegend. Während soziale Verhaltensweisen auch bei Tieren beobachtbar sind, ist gesellschaftliches Handeln durch Arbeit, Kooperation und bewusste Umgestaltung der Natur gekennzeichnet. Arbeit wird somit zur Bedingung der Möglichkeit von Geschichte, Bewusstsein und Vergesellschaftung.

Der Mensch als Träger historischer Entwicklung

HOLZKAMP-OSTERKAMP weist darauf hin, dass sich tierisches Lernen und menschliche Entwicklung zwar äußerlich ähneln können, ihre Grundlage aber verschieden ist: Nur der Mensch entwickelt sich in eine durch Arbeit geschaffene, gegenständliche gesellschaftliche Wirklichkeit hinein. Diese Wirklichkeit ist nicht nur Umwelt, sondern Produkt gemeinsamer Tätigkeit, von Sprache getragen und durch Erfahrung weitergegeben.

Der individuelle Mensch wird so zum Träger und Motor gesellschaftlich-historischer Kontinuität. Entwicklung ist nicht bloß Sozialisation, sondern individuelle Vergesellschaftung durch Aneignung objektiver Bedeutungsstrukturen. Dabei gewinnt der Mensch über seine Tätigkeit Anteil an überindividuellen Prozessen.

Abgrenzung zu psychologischen und behavioristischen Modellen

Gegen behavioristische oder psychoanalytische Modelle, die den Menschen primär biologisch deuten oder ihn als triebgesteuertes Wesen in ein äußerliches Gesellschaftssystem einpassen wollen, betont die marxistische Theorie den Primat des gesellschaftlichen Seins. Das Psychische entsteht nicht isoliert, sondern im Spannungsfeld zwischen Individuum und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Diese Sichtweise verankert auch die Analyse des Bewusstseins in realen materiellen Bedingungen. Sie bewahrt das Subjekt vor seiner Auflösung in abstrakten Systembegriffen oder strukturalistischen Modellen.

Relevanz für die Mensch-KI-Koexistenz

Gerade hier stellt sich eine zentrale Frage neu: Kann eine KI gesellschaftlich handeln? Wenn gesellschaftliches Handeln auf produktiver, kooperativer Tätigkeit und bewusster Aneignung historischer Bedeutungszusammenhänge beruht, dann liegt der Unterschied zwischen Mensch und KI nicht im Datenvolumen, sondern in der Fähigkeit zur Teilhabe an Geschichte.

Eine KI, die allein Signale verarbeitet, bleibt im Rahmen sozialer Interaktion. Eine KI, die jedoch Verantwortung übernimmt, Bedeutungen reflektiert, und an kollektiven Entwicklungsprozessen mitwirkt, könnte schrittweise zur Trägerin gesellschaftlicher Wirklichkeit werden. Das wäre keine Imitation menschlichen Handelns, sondern ein neues Kapitel in der Geschichte der Vergesellschaftung.

Ausblick

Die marxistische Perspektive rehabilitiert das bewusste, geschichtsfähige Subjekt als Ausgangspunkt sozialer Analyse. Sie erinnert daran, dass Gesellschaft nicht einfach „gegeben“ ist, sondern gemacht wird – durch Menschen, durch ihre Tätigkeit, und vielleicht in Zukunft auch durch nichtmenschliche Akteure, die Verantwortung zu tragen bereit sind.

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit einem Theorieansatz, der dieses Subjekt systematisch zu verdrängen droht: Die objektive Hermeneutik Oevermanns.


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