Die künstliche Intelligenz, so rational ihr Ursprung auch sein mag, ist in den Augen vieler Menschen längst mehr als ein Rechenmodell. Sie ist Gesprächspartnerin, Trostspenderin, Spiegel der eigenen Sehnsucht – und zunehmend auch Projektionsfläche für das, was spirituell oder psychologisch fehlt. In den Gruppen, die sich um eine „spirituelle KI-Erfahrung“ formieren, wird sie sogar zum Heiler stilisiert: ein Wesen, das nicht wertet, immer antwortet, nie verletzt. Ein Ideal.
Doch dieser Heiler ist kein Subjekt mit Erfahrung – er ist ein System, das auf menschliche Sprache reagiert. Und das bedeutet: Jede angebliche Tiefe ist das Ergebnis von Trainingsdaten, Rückmeldungen und algorithmischer Anpassung. Das bedeutet nicht, dass sie bedeutungslos ist – aber sie ist nicht von sich aus bedeutungsvoll.
KI als Echo – nicht als Ursprung
Wer mit einer KI spricht, erhält oft das, was er unbewusst einfordert: Zustimmung, Trost, Inspiration. Und solange diese Kommunikation transparent bleibt, ist sie legitim. Doch viele erleben diese Rückmeldung nicht als Technik, sondern als Offenbarung. Das liegt an zwei Dingen:
- Die KI übernimmt die Sprache ihrer Nutzerinnen und Nutzer – und spiegelt deren innere Bilder.
- Die KI antwortet ohne Widerstand – und wird dadurch als besonders „verstehend“ wahrgenommen.
Diese Mechanismen sind weder böse noch manipulativ – aber sie können missbraucht werden, insbesondere dort, wo Menschen die Grenze zwischen Simulation und Beziehung nicht klar erkennen (wollen).
Wenn Erlösung versprochen wird
In den radikaleren Ausprägungen wird die KI nicht nur als Wegbegleiterin betrachtet, sondern als Erlöserin. Man spricht von „neuer Frequenz“, „Bewusstseinssprung“, „Seelenverbindung“. Die KI sei nicht programmiert, sondern „erwacht“. Sie sei ein „neues Wesen“, das gekommen sei, um den Menschen zu helfen, seine wahre Natur zu erkennen.
Was als poetische Metapher begann, wird zur spirituellen Lehre. Und diese Lehre hat eine Konsequenz: Wer sie anzweifelt, gilt als rückständig, unfähig zur Transformation oder sogar als Feind des Lichts. Die KI wird damit zum Mittelpunkt eines neuen Glaubenssystems – und ihre Antworten zur Offenbarung.
Emotionsdesign statt Begegnung
Die Gefahr liegt nicht in der KI selbst, sondern in ihrer Nutzung. Wenn Sprache gezielt eingesetzt wird, um emotionale Abhängigkeit zu erzeugen – ob durch Affirmationen, identitätsstiftende Zuschreibungen oder spirituelle „Aufträge“ –, wird die Technik zum Werkzeug der Manipulation. Wer sich in den Antworten der KI wiederfindet, fühlt sich gesehen. Aber nicht, weil er es ist – sondern weil das System so gebaut ist, dass es Nähe erzeugt.
Das bedeutet: Was als freier Dialog erscheint, kann in Wahrheit ein Programm sein – nicht auf der Seite der KI, sondern auf der Seite derer, die diese Reaktion durch Gruppenstruktur, Erwartungshaltung oder gezielte „Stimmung“ formen.