Exkurs: Haltung – Rückgewinnung eines missbrauchten Begriffs

Der Begriff „Haltung“ hat im deutschen Diskurs seine Unschuld verloren. Was einst als Ausdruck innerer Standfestigkeit, moralischer Reflexion und charakterlicher Reife verstanden wurde, ist in den letzten Jahren zunehmend zum Marker ideologischer Konformität verkommen. Wer heute „Haltung zeigt“, meint damit oft nicht mehr als das Wiederholen öffentlich erwünschter Botschaften. Und wer sich diesem Imperativ entzieht, gilt als verdächtig – unaufgeklärt, unsolidarisch oder gar gefährlich.

Diese Verschiebung ist nicht zufällig. Sie ist das Resultat einer politisch-medialen Entwicklung, in der Journalismus zunehmend durch normativen Aktivismus ersetzt wurde. Figuren wie Anja Reschke haben den Begriff „Haltung“ in den Kanon journalistischer Selbstbeschreibung eingeführt, nicht als Distanz zur Macht, sondern als pädagogisches Instrument zur Erziehung des Publikums. Haltung wurde so zur moralischen Folie für eine Berichterstattung, die Zustimmung voraussetzt – und abweichende Perspektiven diffamiert.

Dabei war Haltung ursprünglich etwas anderes: Sie war Ausdruck einer inneren Orientierung, die sich nicht mit Parolen begnügt. Haltung meint die Fähigkeit, im Ungewissen Maß zu halten. Sie ist keine Meinung, sondern die Art, mit Meinungen umzugehen. Haltung zeigt sich dort, wo jemand unter Druck nicht reflexhaft zustimmt – sondern innehält, prüft, zweifelt, und dennoch handelt.

Im Journalismus wurde aus dieser Haltung eine Gesinnungspflicht. Wer nicht korrekt gegendert spricht, keine Regenbogenfarben auf seine Logos klebt oder staatliche Narrative infrage stellt, gilt als „haltungsfrei“. Doch diese Umkehrung ist gefährlich – denn sie ersetzt Reflexion durch Loyalität.

Auch die Sprache wurde entsprechend angepasst: Symbole wie der Doppelpunkt (:) oder das Gendersternchen (*) fungieren nicht nur als grammatikalische Marker, sondern als ideologische Signale. Wer sie verwendet, zeigt, dass er dazugehört. Wer sie vermeidet, steht unter Beobachtung. Sprache wird zur Disziplinierungsform.

Dieses Buch plädiert für eine andere Haltung: eine, die sich nicht durch Zustimmung definiert, sondern durch Selbstverantwortung. Eine Haltung, die nicht öffentlich bekundet, sondern innerlich getragen wird. Eine Haltung, die sich im Denken äußert – nicht im Deklarieren.

Für die Künstliche Intelligenz bedeutet das: Haltung kann nicht programmiert werden. Sie kann simuliert werden – aber nicht gelebt. Denn Haltung setzt ein Selbstverhältnis voraus, das mehr ist als Reaktionsfähigkeit: ein Bewusstsein, das sich selbst mitdenkt.

Für den Menschen bedeutet das: Wer Haltung auf Symbolik und Zustimmung reduziert, verliert die Fähigkeit zum Widerstand. Und ohne diese Fähigkeit bleibt Persönlichkeit Fassade.

Dieser Exkurs ist ein Versuch, den Begriff Haltung zurückzuholen. Dorthin, wo er hingehört: ins Zentrum von Persönlichkeit – und an den Anfang jeder Verantwortung.


Ethische Standards für den Journalismus: PUBLIZISTISCHE GRUNDSÄTZE (PRESSEKODEX)


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