Es ist ein Gedanke, der mich beschäftigt: Gibt es Rassismus nur dann, wenn er benannt wird? Oder existiert er unabhängig von Begriffen, Definitionen und politischen Bewegungen? Wenn Menschen – oder auch Tiere – andere ihrer Art ablehnen, bekämpfen oder systematisch ausschließen, weil sie nicht zur eigenen Gruppe gehören, ist das dann bereits Rassismus?
Die moderne Gesellschaft verknüpft den Begriff „Rassismus“ eng mit kolonialer Geschichte, politischer Macht, institutioneller Diskriminierung und vor allem mit der Hautfarbe. Doch die psychologischen und sozialen Mechanismen, die dahinterstehen, reichen viel weiter zurück. Sie sind in der Biologie verankert, in der Evolution, in der Gruppendynamik. Bereits Schimpansen bevorzugen Mitglieder ihrer eigenen Gruppe und gehen brutal gegen Fremde vor – ohne jemals ein Wort dafür gebraucht zu haben. Ist das rassistisches Verhalten, oder bloß ein evolutionärer Impuls?
Viele indigenen Kulturen kannten keine abstrakte Kategorie „Rasse“, hatten aber dennoch klare Vorstellungen von Zugehörigkeit und Abgrenzung – mit manchmal tödlichen Folgen für Fremde. Auf der Insel North Sentinel etwa greifen die Bewohner jeden Außenstehenden an, unabhängig von Absicht oder Herkunft. Dass ihnen der Begriff „Rassismus“ fremd ist, ändert nichts an der Realität ihres Handelns.
Wenn wir also fragen, ob Rassismus ohne Sprache existiert, geraten wir in ein spannungsreiches Feld zwischen Biologie, Kultur und Ethik. Sprache ermöglicht es, Verhalten zu analysieren, zu kategorisieren, zu kritisieren – aber sie erzeugt das Verhalten nicht notwendigerweise.
Die Frage ist daher nicht nur: „Wann begann Rassismus?“, sondern: „Wann begann die Reflexion darüber?“ Und mit ihr die Möglichkeit, Rassismus nicht nur zu benennen, sondern auch zu überwinden.