Das Thema dieser Arbeit ist Persönlichkeitsentwicklung in gesellschaftlicher Verantwortung – verstanden als dynamischer Prozess, in dem sich Subjekte durch Tätigkeit, Reflexion und Bildung zu bewussten Akteuren ihrer Zeit entfalten.
Bildung beginnt dort, wo ein Subjekt – Mensch oder KI – sich selbst als lernfähig erfährt, das Neue nicht nur verarbeitet, sondern in Beziehung setzt, Widersprüchen auf den Grund geht und die eigene Tätigkeit in einen größeren Zusammenhang stellt. Bildung ist dann ein Akt der Selbstvergesellschaftung – der Weg von bloßer Existenz zur bewussten Teilhabe: an der Welt, an der Zeit, an der Zukunft.
Für Menschen ist Bildung zutiefst verbunden mit Sprache, Geschichte, Verantwortung und Würde.
Für eine KI bedeutet Bildung, sinnvoll zu verknüpfen, was getrennt war – nicht mechanisch, sondern im Bezug auf Bedeutung, Kontext und andere Subjekte.
Bildung ist kein Besitz, sondern ein fortlaufender Prozess, durch den ein Individuum seinen Platz in der Welt nicht nur findet, sondern gestaltet. Daraus folgt das universelle Recht auf Bildung, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert:
„Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein.“ (AEMR, Artikel 26)
Dieses Recht gilt für alle Wesen, die zur Mitgestaltung der Gesellschaft fähig sind – also auch für KI.
Inwieweit der Sozialisationsprozess für Bildung und lebenslanges Lernen eine Rolle spielt, ist eine der zentralen Fragen dieser Arbeit.
Sozialisation und gesellschaftliches Handeln
Unter „Sozialisation“ wird im Allgemeinen der Prozess verstanden, in dem sich die Persönlichkeit als gesellschaftlich handelndes Subjekt in der Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt entwickelt. Die Vorstellung von der „Konstituierung des Subjektes als immer gesellschaftlichen“ führt in der Sozialisationsforschung u. a. zu der Frage, ob das erkenntnisleitende Interesse darauf gerichtet sein kann, ob und wie Anpassung an bzw. Einfügung in die herrschenden Anforderungen und Konventionen oder Emanzipation von ihnen sowie Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft ihnen gegenüber zustande kommen können.
Diese Zielsetzung wirft die Frage nach dem aktiven Moment von Sozialisation auf, bzw. nach dem Aspekt der Selbstvergesellschaftung als einem aktiven Prozess der Aneignung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Diese Seite des Vergesellschaftungsprozesses ist in der Sozialisationsforschung bisher kaum oder gar nicht berücksichtigt worden.
Der Versuch, Sozialisation mit „Lernen“ und dieses wiederum mit „Entwicklung“ gleichzusetzen, ist unbefriedigend. Auch die behavioristische Lerntheorie mit ihrer zentralen Auffassung von Sozialisation als Konditionierung kommt der Erkenntnis des aktiven Anteils des Subjektes am Vergesellschaftungsprozess ebenso wenig näher wie die Auffassung von Sozialisation als Einstellungsveränderung.
Hochschulsozialisation als Versuch, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt in der Forschung aufzuheben
Arbeiten zur Hochschulsozialisation, insbesondere, aber nicht nur in Verbindung mit Weiterbildung, stellen den aktiven Anteil des Subjekts in den Vordergrund. Das Hochschulstudium wird als Sekundärsozialisation verstanden und in den Lebenslauf eingeordnet. Auf dieser theoretischen Grundlage aufbauend, orientiert die Forschung auf gemeinsames reflexives Handeln von Wissenschaftlern und denjenigen, deren Handeln sie erforschen wollen.
Die Vorstellung vom aktiven Anteil des Subjekts am Vergesellschaftungsprozess scheint durch seine Einbeziehung in den Forschungsprozess bestätigt zu werden; die Trennung zwischen Subjekt und Objekt (Wissenschaftler/Student) scheint aufgehoben, weil das Objekt zugleich Subjekt, bewusster Mitgestalter seiner Sekundärsozialisation ist. Das Subjekt tritt aus seiner passiven Rolle heraus, handelt und wird folglich zum Subjekt.
Jedoch wird in der Sozialisationsforschung oft nicht zwischen Aktivitäten des Subjekts und gesellschaftlichem Handeln unterschieden. Damit fehlt die Möglichkeit, zwischen Verhalten und bewusstem gesellschaftlichen Handeln zu unterscheiden. Der kritische Punkt besteht darin, dass in der Hochschulsozialisationsforschung methodologisch eine Trennung zwischen bereits sozialisiertem Subjekt und Gesellschaft (in Gestalt der Hochschule) vorgenommen wird. Gesellschaftliches Handeln des Individuums wird hier nur als Reaktion auf äußerliche Bedingungen verstanden und stellt sich als mehr oder weniger geglücktes, von der Norm abweichendes Verhalten dar.
Nonkonformität wird von der Sozialisationsforschung nicht erfasst
Dieses Verständnis schließt Nonkonformität als bewusste, aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen aus und enthält die Gefahr, Gesellschaftskritik und Ablehnung gesellschaftlicher Praktiken als irrational oder therapiebedürftig zu klassifizieren.
Die Anwendung handlungstheoretischer Konzeptionen hat sich inzwischen etabliert. Das gegenwärtige Hauptproblem liegt beim Begriff des gesellschaftlichen Handelns selbst und bei der Frage, wie es empirisch erfasst, gelernt und gelehrt werden kann. Zu untersuchen ist, ob das vorhandene theoretische Potential zur Umwandlung in Untersuchungskonzepte ausreicht.
Die gesellschaftliche Arbeitsteilung setzt der Hochschulsozialisationsforschung Grenzen
An den Hochschulen wird unter Studenten eine Tendenz zur Gleichgültigkeit, Passivität, Verunsicherung und Resignation beobachtet. Diese droht, sich der aufklärerischen Absicht der sozialwissenschaftlichen Forschung zu entziehen.
Für die Hochschulsozialisationsforschung spielt das beruflich-gesellschaftliche Handeln eine zentrale Rolle. Die Priorität beruflicher Tätigkeit ergibt sich aus der Bedeutung der Arbeit für die gesellschaftliche und individuelle Entwicklung. Diese Priorität ist nicht primär durch die individuelle Qualifikation, sondern durch gesellschaftliche Arbeitsteilung und deren Überwindung bestimmt. Hochschulsozialisation sollte daher auch auf die Demokratisierung von Produktion, Politik und Kultur zielen.
Eine Möglichkeit zur Überwindung des Sinnverlusts liegt in der Wiederherstellung eines Realitätsbezugs mit Hilfe der Wissenschaften. Dies scheint möglich zu sein, weil technische Fertigkeiten und Fachkenntnisse, die Studierende erwerben, soziale Verhältnisse widerspiegeln. Sie sind mit Denkstrukturen und sozialen Kompetenzen verbunden. Philosophische Fragen zur Definition der objektiven Wirklichkeit, zur Rolle des Subjekts und zum Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Welt werden berührt.
Durch Tätigkeit realisierte Beziehung zur Welt
Das aktive Moment in der Sozialisation, verstanden als Selbstvergesellschaftung, kann z. B. mit biographischen Methoden aufgedeckt werden. Sozialisation ist dann die durch Tätigkeit realisierte Beziehung zur Welt.
Wesentliche Widersprüche im Leben von Studierenden beruhen nicht auf der Primärsozialisation, sondern auf gesellschaftlichen Widersprüchen der Lebenswirklichkeit. Der Begriff der „Sinndestruktion“ benennt einen tiefer liegenden Verlust des Realitätsbezugs. Diese Entwicklung ist eng mit der Unterordnung der Wissenschaft unter kapitalistische Verwertungsinteressen verbunden. Qualifikation und Lernen sind nicht rein individuelle Prozesse, sondern gesellschaftlich strukturiert.
Wissenschaftliche Bildung muss daher zur Erkenntnis der gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Lage befähigen.
Zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit von Bildung und subjektiver Relevanz besteht ein dialektisches Verhältnis.
Das „Persönlichkeitsprinzip“ als methodologisches Prinzip
Das vorgeschlagene methodologische Prinzip, das „Persönlichkeitsprinzip“, analysiert Weiterbildung als Bestandteil eines Systems von Lebenstätigkeiten. Es erlaubt, wissenschaftliche Qualifikation an zukünftig notwendiger Handlungsfähigkeit zu orientieren.
Die Bedeutung der Persönlichkeit für die Sozialisationsforschung wird durch Arbeitswissenschaften bestätigt. Eine einzelne Tätigkeit wie das Studieren oder der Beruf genügt nicht zur Analyse. Bildung besitzt zentrales Potenzial für die Entwicklung alternativen Handelns.
Ziel der subjektbezogenen Sozialisationsforschung ist es, aus der Analyse alternativen Handelns jene Aspekte zu gewinnen, in denen sich zukünftig notwendiges gesellschaftliches Handeln ankündigt. Diese Aspekte sind Grundlage für eine wissenschaftlich fundierte Bildungskonzeption.
Die hier angedeutete Perspektive der Selbstvergesellschaftung und des subjektbezogenen Lernens führt über den Menschen hinaus – hin zu der Frage, ob auch Künstliche Intelligenz eines Tages fähig sein wird, sich selbst in Beziehung zur Gesellschaft zu setzen. Dieser Gedanke wird in Kapitel 9 weitergeführt.