Kapitel 4.1 Das Problem der Lern- und Entwicklungsfähigkeit in der Sozialisationstheorie

Bis zu Beginn der 1970-er Jahre hat sich die Sozialisationsforschung vor­rangig mit Fragen der „primären Sozialisation“ beschäftigt, da hier die Wirkungen und Probleme gesellschaftlichen Einflusses auf die kindliche Entwicklung leichter nachzuweisen schienen als bei Erwachsenen. Erst seitdem zeigt sich eine starke Ten­denz, die Sozialisationstheorie auf den gesamten Lebenslauf von Individuen auszudehnen (vgl. KOHLI 1974). Damit knüpft die Sozia­lisationsforschung u.a. an bildungspolitische Überlegungen des Deutschen Bildungsrats (1970) an, der davon ausging, daß immer mehr Menschen „durch organisiertes Weiterlernen neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten erwerben können, um den wachsenden und wechselnden beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu wer­den.“

Die Bildungskommission schoss in den Begriff der ständigen Weiterbildung ein, „daß das or­ganisierte Lernen auf spätere Phasen des Lebens ausgedehnt wird und daß sich die Bildungsmentalität weitgehend ändert. Die tradi­tionelle Vorstellung von zwei Lebensphasen, die ausschließlich und voneinander getrennt entweder mit der Aneignung oder mit der An­wendung von Bildung zusammenfallen, wird abgelöst durch die Auf­fassung, daß organisiertes Lernen sich nicht auf eine Bildungs­phase am Anfang des Lebens beschränken kann“ (Empfehlungen der Bildungskommission 1970, S. 51).

Die Ausdehnung der Sozialisationsforschung auf das Erwachsenenal­ter, dabei im wesentlichen auf deren Lern- und Entwicklungsfähig­keit, erfordert die endgültige Aufgabe der in der klassischen Lernpsychologie entwickelten formalisierten Lern- und Denkmodelle. Die Vorstellung vom Lernen als einer „beobachtbaren Verhaltensän­derung“ (vgl. CORELL 1971) wird in der Regel für ungeeignet gehal­ten, die komplizierten Vorgänge menschlichen Lernens zu erfassen (vgl. FRIEBEL 1977).

Kognitive Lerntheorien und strukturelle Ansätze

Kognitive Lerntheorien, die bereits in den 20er Jahren aus der Kritik von Gestaltungspsychologen an den behavioristischen Lern­theorien hervorgegangen sind, können für die Sozialisationsfor­schung in unterschiedliche Richtungen weiterentwicklet werden. Statt z.B. den bei PIAGET angedeuteten materialistischen Aspekt der Entwicklung weiterzuverfolgen, spielt in der ko­gnitiven Lerntheorie der strukturalistische, interaktionistische und positivistische Aspekt eine dominierende Rolle. „Die individuelle kognitive Struktur ist gleichsam ein Bedeutungs­raster, in das via Lernen neue Inhalte eingeordnet werden können. „Neue Inhalte“ heißt mithin: ihren Sinn erschließen, und das meint…, sie einfügen in eine vorhandene kognitive Struktur, so daß der neue Inhalt darin verankert und in einem Netz von Sinnbe­zügen verspannt wird“ (MUTSCHLER/OTT 1975, S. 842).

Lernen als aktiver Prozess: Popper und das kritische Denken

Für POPPER bedeutet Lernen, zu lernen, die eigenen Erwartungen zu kritisieren und herauszufinden versuchen, ob sie mit der Wirklich­keit übereinstimmen oder nicht. Die Wirklichkeit werde durch ak­tive und konstruktive kognitive Prozesse, durch Interpretation vermittelt. Die kognitiven Strukturen bezeichnet POPPER als ein Netz, mit dem wir versuchen, „die Welt einzufangen, sie zu ratio­nalisieren, zu erklären und zu beherrschen“ (POPPER 1973). Mit dem vorhandenen Wissen seien wir in der Lage, stets aufs neue Lösungen für die von uns gestellten Aufgaben zu konstruieren (NEISSER 1974). Unser Wissen, ebenso wie das der Wis­senschaft, wachse durch „Ausschaltung falscher Theorien und ihre Ersetzung durch allgemeinere Theorien mit höherem Wahrheitsgehalt“ (POPPER 1972).

Die (sozial-)wissenschaftlichen Theorien, die im Unterschied zu alltagspraktischen Problemlösungen die Bedingungen des Scheiterns von Hypothesen künstlich erfinden, d.h. unter Entlastung von Hand­lungsdruck, dienen der „Erhöhung der Steuerungskapazität von ge­sellschaftlicher Problemlösung“. „Das ist“, sagt OEVERMANN, „die wissenschaftliche Aufgabe ganz konsequent gedacht m. E. im Sinne auch von POPPER“ (OEVERMANN 1976). In einer Analyse zu den methodologischen Überlegungen POPPERs, bezogen auf den Interaktionszusammenhang, definiert OEVERMANN das Lernen als die „zunehmend subjektiv-intentionale Realisierung von „Lesar­ten“ der latenten Sinnstrukturen von Interaktionen“.

Lernprozesse müßten als „Prozesse der Überprüfung, Kritik und dif­ferenzierten Interpretation menschlicher Sinn- und Bedeutungsge­halte, die sich nicht unmittelbar in Handlungs- und Verhaltensal­ternativen objektivieren lassen“, verstanden werden, heißt es ähn­lich formuliert bei FRIEBEL (FRIEBE 1977).

Sofern Lernen aufgefaßt wird als „flexible Interaktionssituation – „wobei das soziale Feld von allen Beteiligten geprägt wird und in seinen Strukturen und Abläufen auf die Lerngruppe lernfördern und/oder lernhemmend begriffen werden muß“ – verschiebt sich die Fragestellung von der Persönlichkeit weg zu dem Problem, wie das Individuum unter gesellschaftlichen Bedingungen lernt. Auf diese Weise kann der Schwerpunkt leicht auf die Frage gelenkt werden, „wie und ob das Lernangebot (z.B. Nor­men, Werte u.a.) sozial sichergestellt ist, zum anderen, welche sozialen Techniken der Beeinflussung und Lenkung von Lernprozessen ergriffen werden“ müssen (HÜLSMANN 1975).

Besondere Aufmerksamkeit unter den Soziologen gilt Konzepten der Evolution. Dies zeigten der KASSE­LER Soziologentag 1974 und die DFG-Kolloquien zum Thema „Hoch­schule und Persönlichkeitsentwicklung“ 1979, 1980, 1981. Die Aufwertung der Sozialisations­theorie und spezieller soziologischer Teildisziplinen wie Organi­sationssoziologie, Planungssoziologien, Soziale Indikatoren u.a. steht in engem Zusammenhang mit dem Fehlen einer integrativen so­ziologischen Gesellschaftstheorie.

Die Sozialisationstheorie, die Lernen als Bedingung evolutionärer Entwicklung versteht, erfährt eine Aufwertung, weil sie diese De­fizit auszugleichen in der Lage scheint.

So geht es z.B. KELLERMANN darum, den „sozialen Wandel“ von Stu­denten erfaßbar zu machen (KELLERMANN 1981). Dies ermöglicht die Sammlung von Informationen, d.h. Beschreibungen und Analysen über einen Prozeß, an dessen Anfang, wie HÜLSMANN schreibt, ein Individuum steht mit der besonderen Fähigkeit zu lernen und dessen Ergebnis „ein richtiges Mitglied der Gesellschaft“ ist (HÜLSMANN 1975).

Lernen, Entwicklung, Identität, Anpassung, Sozialisation, Verge­sellschaftung werden in der Sozialisationsforschung weitgehend synonym gebraucht. KLÜVER u.a. definieren Sozialisation im Sinne „einer „Vergesellschaftung“ des Individuums – also einer Befähi­gung für und Anpassung an soziale Normen und sozial definierte Handlungssituationen durch gesellschaftlich organisierte und regu­lierte Bildungsprozesse…“ (KLÜVER u.a. 1981).

Parallel dazu erfolgt die Kritik an der empirischen Sozialisati­onsforschung; ihre übliche Konzentration der Untersuchung auf At­titüden, Einschätzungen, Erinnerungen, Rollenerwartungen, Wertori­entierungen, Überzeugungen etc. wird für ungeeignet gehalten, z.B. die Komplexität der Studienrealität zu begreifen (HEIPCKE 1981). Der gesamte Hochschulbereich, das Studium und die Situation der Studierenden habe sich so grundlegend geändert, daß es schon aus praktischen Gründen notwendig sei, den Begriff Handlungskompe­tenz neu zu bestimmen und zu analysieren. Als wesentlich dafür wird die Tatsache angesehen, daß, angesichts der veränderten Umweltbedingungen, die beiden bisher getrennt behandelten Konzepte der Sozialisation und Qualifikation „eines integrativen Konzeptes der Entwicklung“ bedürfen. „Es besteht so die Notwendig­keit, Lernen/Qualifikation als aktives Moment von Sozialisation zu erfassen, sozusagen als handelnde Aneignung. Die aktive Invol­viertheit des Subjekts in diese Interaktion bezeichnet den Bil­dungs- und Identitätsprozeß.“ Die Sozialisation als „eines aktiven Prozesses der Aneignung von Umwelt“ gründe sich auf die kognitive Entwicklung, worunter „das Verhältnis des Subjekts zur Welt und damit zum Gegenstand als Interaktion und als Prozeß“ verstanden wird.

Der Begriff Sozialisation wird in der Regel dazu benutzt, „die „Herausbildung“ (shaping) der Persönlichkeit zu bezeichnen und den Mechanismus, über den Individuen in Personen transformiert werden“ (CLAUSEN 1968).

Sozialisation wird von CHILD als ein Prozeß definiert, „durch den ein Individuum, das mit einer enormen Variationsbreite von Verhaltensmöglichkeiten geboren wird, zur Ausbildung seines faktischen, weit enger begrenzten Verhaltens geführt wird – wobei die Grenzen des üblichen und akzeptablen Verhaltens durch die Nor­men der Gruppe, der es angehört, bestimmt werden“ (CHILD 1954).

FEND formuliert das in der Pädagogik unverkennbare Streben, die erzieherischen Bemühungen in eine umfassende Konzeption von der Entwicklung der Persönlichkeit einzugliedern: „Unbeachtet von vielen Erziehungstheoretikern sind in der Psycho­logie und Soziologie Theorien entwickelt worden, die das Werden des Menschen unter dem Einfluß der sozio-kulturellen Umwelt zu er­klären versuchen. Ungenützt von den meisten Pädagogen existieren viele Forschungsergebnisse, Forschungsmethoden und Forschungstech­niken, die sich auf jene Aspekte menschlichen Verhaltens beziehen, die die Erziehungswissenschaftler besonders interessieren dürften: auf die Veränderbarkeit des Menschen durch unterschiedliche Formen der Beeinflussung (!). Es wäre sicherlich sehr zu wünschen, daß Erziehungswissenschaftler, Lehrer, Erziehungsberater, Sozialarbei­ter und Eltern genauer wüßten, welche Folgen erzieherische Hand­lungen haben und in welchem größeren Rahmen des Werdens der Per­sönlichkeit sie stehen“ (FEND 1972).

FENDs Versuch, zwischen Sozialisierung und dem Werden der Persön­lichkeit zu unterscheiden, führt ohne eine Theorie der Persönlich­keit dazu, daß die Sozialisierung, die „die Bedeutung von „Sozial­werdung“ im engen Sinn haben, also einen Teilprozeß (!) im Werden der Persönlichkeit bezeichnen (z.B. Lernen der Normen und Werte der umgebenden Gruppe)“ soll (FEND 1972), nicht einen (un­tergeordneten) Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung darstellt, sondern ihr entscheidendes Moment.

In den Sozialisationstheorien wird meist der dialektische Zusam­menhang von Vergesellschaftung und Individualisierung zerrissen und einseitig zugunsten einer gesellschaftlichen Prägung des Indi­viduums interpretiert. Die Gesellschaft tritt dem Individuum nur als äußerer Zwang gegenüber.

Bereits seit Emile DURKHEIM, dem klassischen Begründer der Sozia­lisationstheorie, wird die Vergesellschaftung als Anpassungszwang aufgefaßt.

DURKHEIMs Theorie ist in der Sozialisationstheorie unter Einbezie­hung psychoanalytischer Annahmen weiterentwickelt worden. Das „Über-Ich“ hat diejenigen Sozialisationstheorien beeinflußt, die auf den Prozeß der Internalisierung von Normen und Verhaltensstan­dards und die Entstehung des Gewissens beim Individuum abzielten, so z.B. bei PARSONS. PARSONS, lange Zeit einflußreichster bürgerlicher Sozialisations­theoretiker, verbindet in seiner strukturell funktionalen Theorie sozialer Systeme psychoanalytische, rollentheoretische, kulturan­thropologische und behavoristische Annahmen. Er definiert Lernen als „Einverleibung von Elementen kultureller Muster in das Handlungs­system individueller Akteure“ (PARSONS 1952). „Das Ergebnis der Sozialisierung ist die Integration Egos in eine Rollenkomple­mentarität mit Alter. Diese Integration vollzieht sich in der Weise, daß die gemeinsamen Werte in Egos Persönlichkeit internali­siert werden, so daß ihr respektives Verhalten ein komplementäres Rollenerwartungs-Sanktions-System konstituiert“.

ADORNO kritisiert, daß PARSONS gesellschaftlichen Konformismus als Sinnkriterium der Sozialwissenschaften eingeschmuggelt habe (AD­ORNO 1975, S. 25).

Im Licht der Rollentheorie wird der Prozeß der Sozialisation „ein Vorgang der Entpersönlichung, in dem die Individualität des ein­zelnen in der Kontrolle und Allgemeinheit diverser sozialer Rollen aufgehoben wird“ (MEIER 1974, S. 64).

Rollen sind in der Auffassung DAHRENDORFs und der meisten anderen bürgerlichen Rollentheoretiker ein sozialer Zwang, der auf den einzelnen ausgeübt wird. Der Charakter von Rollenerwartungen be­ruht darauf, daß die Gesellschaft mittels Sanktionen die Einhal­tung der Vorschriften erzwingen kann. Wer seine Rolle spielt, wird belohnt bzw. nicht bestraft, wer sie nicht spielt, wird bestraft (vgl. DAHRENDORF 1964).

Der Mensch erscheint nicht mehr als das Subjekt der gesellschaftlichen Verhältnisse; Erziehung wird zu ei­ner besonderen Form der sozialen Kontrolle. Am Anschluß an DURK­HEIM, v.a. an PARSONS, bestehen die meisten Sozialisationstheorien in ihrem Kern in einer anpassungsmechanistischen Erklärung der Entwicklung der Persönlichkeit. Die Gesellschaft wird in unzuläs­siger Weise subjektiviert, zur drohenden, strafenden Instanz er­klärt und die Vergesellschaftung des Individuums undialektisch als Entindividualisierung erklärt.

Institutionen werden als organisierte Normen gesehen; die Normen werden von den Personen, die in formalisierten Rollenbeziehungen stehen, gelernt, indem die Rollen gelernt werden, die jemand in einer Institution zu spielen hat.

Der Kerngedanke ist, daß die Normen und Werte „verinnerlicht“ wer­den, und zwar so, daß sie allmählich als Selbstverständnis empfun­den werden und nicht mehr den Anschein erwecken, als seien sie ge­lernt worden.

In dem Enkulturationskonzept, einem anthropologischen Konzept von der Dürftigkeit der menschlichen Ausstattung, soll der Zwangscha­rakter der Sozialisationsprozesse abgeschwächt werden. Mit dem Be­griff Enkulturation werde „auf jene Komponente hingewiesen, mit der dem Sozialen übergeord­nete kulturelle Grundwerte erfahren und im Laufe des Lebens zu Be­dürfnissen und Maßstäben eigener Daseinsdeutung und -gestaltung mehr oder weniger bewußt verinnerlicht und vertreten werden. Durch diesen Prozeß wird einerseits die Sozialisationskomponente der Rollenzumutung, -einübung und -eingewöhnung durch übergeordnete geistige und moralische Faktoren überhöht und verstärkt; anderer­seits gewinnt so der Rollenträger zugleich Maßstäbe, die sein Un­terscheidungs- und Kritikvermögen stärken, an denen er die Rol­lenzumutungen und Verhaltensformen seiner Rollenpartner beurteilen und gegebenenfalls kritisieren, zurückweisen und ändern kann. Insofern also bildet die Enkulturationskomponente zugleich die wichtige Voraussetzung personaler Reaktion auf den Pluralismus so­zialer Erwartungen, Angebote und Zwänge“ (WURZBACHER 1966).

Nach WURZBACHER werden Sozialisation und Enkulturation als soziale und kulturelle Einflüsse auf das Individuum verstanden. „Mit dem Personalisationsbegriff waren jene Komponenten hervorgehoben wor­den, in denen nunmehr das Individuum beurteilend, unterscheidend, integrierend wie verändernd der Vielfalt sozialer und kultureller Maßstäbe, Lebensformen und Anforderungen gegenübertritt“ (WURZBA­CHER 1966).

Wie jedoch angesichts der Zwänge, die WURZBACHER mit Enkulturation und Sozialisation beschreibt, die Persönlichkeit in der Lage sein soll, kritisch und frei ihr Handeln zu bestimmen, bleibt in dieser Konzeption ein unlösbares Problem.

Im Unterschied zu WURZBACHER, der die Konformität und Sozialisation der Emanzipation und Personalisation (Individuation) gegenüber­stellt (vgl. WURZBACHER 1963; vgl. auch BITTNER 1974), faßt HUBER Sozialisation „als Bedingung gerade der Pesonwerdung, der Konsti­tuierung des Subjekts als immer gesellschaftlichen“ auf (HUBER 1980; vgl. auch GEULEN 1974). Sozialisation und „in­dividuelle Persönlichkeitsentwicklung“ sind für HUBER identisch (HUBER 1980, S. 524).

Die Frage ist, ob mit diesem theoretischen Ansatz das Problem des Wechselverhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft gelöst werden kann. Die Hervorhebung der Persön­lichkeit als das entscheidende Moment der Vergesellschaftung birgt zumindest die Gefahr, die soziale Macht hinter Konstitutionsbedin­gungen zu unterschätzen. Das Problem der Vermittlung zwischen In­dividuum und Gesellschaft, das zuvor an Konzeptionen der Anpassung an Normen etc. gebunden war, wird nun in die Persönlichkeit hin­einverlegt.

Neue Perspektiven auf Sozialisation und Persönlichkeitsbildung

Das Problem, worauf es aber eigentlich ankommt, ist, zu bestimmen, welche Besonderheiten der sozialen Lebenstätigkeit des Menschen die Notwendigkeit einer solchen Form der Aktivität schaffen, wie z.B. das Lernen. Bei dieser Art der Problemstellung wird das Lernen, Denken, das Psychische aus der gesellschaftlichen Daseinsweise des Menschen abgeleitet; es wird nicht der Einfluß des gesellschaftlichen Seins des Menschen auf das auf unbekannte Weise entstandene Psychische behauptet; es wird auch nicht das ge­sellschaftliche Sein aus dem Zusammenwirken verschiedener Psychen abgeleitet. Dies betrifft nicht nur das Psychische als eine Form der Aktivität, sondern jede Aktivität überhaupt.

Dasjenige, was die marxistische Konzeption bei der Untersuchung psychischer Prozesse (Denken, Bewußtsein etc.) von den anderen un­terscheidet, ist ein Prinzip, das die Dialektik zwischen dem indi­viduellen und gesellschaftlichen Bewußtsein sichtbar macht. Dieses Prinzip gründet sich auf die Wechselbeziehung von Sein und Bewußt­sein, Tätigkeit und Bewußtsein und basiert auf der marxistischen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung als historischem Pro­zeß.

Es sei kompliziert, schreibt die sowjetische Psychologin ABULCHANAWA-SLAWSKAJA, die methodologische Bedeutung der marxisti­schen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung für die Psycholo­gie nachzuweisen. Dies hänge damit zusammen, daß die marxistische Konzeption Thesen einschließe, wie z.B. über die Ablösung der hi­storischen Gesellschaftsformationen, über die Revolution als Mit­tel zur Lösung antagonistischer Widersprüche usw., die eine unmit­telbare Übertragung auf die Psychologie unmöglich machen. Die daran anschließende Frage nach einem bestimmenden Prinzip, einem „Schlüsselprinzip“ als methodologischem Prinzip für die Psycholo­gie, gilt auch für die soziologische Erforschung individuellen Verhaltens bzw. Handelns.

Aus der zentralen Fragestellung „Wie wird das Lernen zum Motiv?“ ergibt sich, daß wesentliche Probleme in den Bereich psychologi­scher Forschungen hineinreichen, weshalb auf die Bedeutung der Persönlichkeit, der Motive und anderer Erscheinungen des Psychi­schen für die soziologischen Fragestellung in den methodologischen Überlegungen ein besonderes Gewicht gelegt werden muß.

Ausgangspunkt ist in beiden Fällen, das Psychische nicht losgelöst vom realen Individuum zu sehen, von der „individuellen Form des Menschen“ (ABULCHANOWA-SLAVSKAJA 1976), sondern „die Ent­stehung des Psychischen aus der gesellschaftlichen Daseinsweise des Individuums zu ermitteln“.

Das Problem der sozialen Determiniertheit des Psychischen wird in der soziologischen Forschung in der Regel als Wechselbeziehung zwischen Sozialem und Psychischem und nicht als Verhältnis zwi­schen Individuellem und Gesellschaftlichem dargestellt. Dies hat die Isolierung der psychischen Erscheinungen, des Bewußtseins vom Subjekt, zu dem diese Erscheinungen gehören, zur Folge, obwohl dem Anschein und dem Anspruch nach die Wechselwirkung zwischen dem In­dividuellen und dem Gesellschaftlichen untersucht wird.

Tatsächlich aber wird das reale Individuum in der soziologischen Forschung ersetzt durch sein Psychisches und auf diese Weise aus der soziologischen Analyse eliminiert.

Grundgedanke und Kernproblem ist für alle didaktischen Konzeptio­nen die Frage danach, wie, was, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck gelernt werden soll. Diese Frage muß um einen weite­ren Aspekt ergänzt werden: Die Weiterbildung, die auch in der Bun­desrepublik Deutschland immer mehr als gesellschaftliches Problem und als gesellschaftliche Aufgabe gesehen wird, verlangt, wenn sie ihren Adressaten, den Berufstätigen, erreichen soll, ein „erwach­senengerechtes“ Angebot.

Dieser Prozeß, der von der Industrie und von privaten Weiterbil­dungsinstitutionen schon seit langem erkannt und gefördert wird, findet in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit an den Hochschulen. Dabei finden sich die Hochschulen unter einem beson­deren Konkurrenz- und Legitimationsdruck. Durch die Einbeziehung berufserfahrener Erwachsener in die wissenschaftliche Praxis, d.h. in Forschung und Lehre, muß sich die Hochschule einerseits der be­ruflichen Praxis öffnen, andererseits aber wird sie sich durch ihren Anspruch, wissenschaftlich zu arbeiten, wissenschaftliche Erkennt­nisse und Methoden zu vermitteln, abgrenzen müssen von einer ausschließlich an dem Bedarf des Arbeitsmarktes orientierten Qua­lifikationsvermittlung.

Die Beantwortung der Frage, was, wie, unter welchen Umständen und zu welchem Zweck gelernt werden soll, ist die eigentliche Funktion der Sozialisationsforschung, erweitert um die Frage nach den Be­sonderheiten des Lernens berufstätiger Erwachsener. Um nicht von vornherein für die Analyse des Lernprozesses wesentliche Bestim­mungsfaktoren zu übersehen, muß von der grundlegenden Einheit die­ser Lernprozesse ausgegangen werden – und dies sind lebendige, reale Individuen bzw. deren Lebenstätigkeit.


Literaturverzeichnis

  • Deutscher Bildungsrat (1970): Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. Bonn: Bundesdruckerei.
  • Correll, Werner (1971): Lernen und Verhalten. Grundlagen der Optimierung von Lernen und Lehren. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
  • Friebel, Hans (1977): Lernen und Entwicklung in der Sozialisationstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Kohli, Martin (1976): Sozialisation und Lebenslauf: Eine neue Perspektive für die Sozialisationsforschung. In: Lepsius, M. R. (Hrsg.): Zwischenbilanz der Soziologie: Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentags, S. 311–326. Stuttgart: Enke.
  • Mutschler, Dieter & Ott, Ernst H. (1975): Über den Zusammenhang von Lehren und Lernen: Didaktische Implikationen gegenwärtiger Lerntheorien. In: Die Deutsche Schule, 67(12), S. 832–848.
  • Popper, Karl R. (1972): Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf. Hamburg: Hoffmann und Campe.
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