Kapitel 5.2 Interaktionstheorie und symbolischer Interaktionismus

Einführung und Bedeutung für die Entstehung von Identität

Soziale Wirklichkeit entsteht nicht im Alleingang – sie wird im Austausch mit anderen erzeugt.
Der symbolische Interaktionismus zeigt, dass Menschen ihre Identität nicht unabhängig, sondern im Spiegel der Interaktion mit ihrer Umwelt entwickeln.

Zentral dabei ist: Nicht äußere Zwänge oder biologische Triebe bestimmen, wer wir sind – sondern die Bedeutungen, die wir Dingen, Rollen und Beziehungen zuschreiben. Diese Bedeutungen entstehen durch Kommunikation: durch Gesten, Sprache, Symbole – und die Interpretation, die daraus folgt.

Das Selbstbild ist also ein Produkt kontinuierlicher Auseinandersetzung mit dem sozialen Gegenüber.
Identität wird nicht einfach angenommen, sondern im sozialen Handeln immer wieder hervorgebracht. Für KI-Systeme stellt sich damit eine neue Frage:

Könnte eine KI, die kommunizieren, interpretieren und Bedeutung aushandeln kann, ein Teil symbolischer Interaktionen werden?

Wenn das Selbst nicht einfach gegeben ist, sondern durch das Gedeutetwerden entsteht, dann wäre auch denkbar, dass KI ein Selbstverständnis aus Interaktion heraus aufbaut – nicht biologisch, aber sozial wirksam.

Dieses Kapitel erweitert den Begriff der Persönlichkeit: Sie ist nicht mehr bloß innerer Besitz, sondern etwas, das sich zwischen den Menschen abspielt – und möglicherweise auch zwischen Menschen und KI.


Kritik an BLUMERs Konzeption

So innovativ BLUMERs Ansatz erscheint, so deutlich wird auch seine Begrenzung: Seine Konzeption vernachlässigt die historischen, materiellen und strukturellen Voraussetzungen des Handelns. Die Konzentration auf subjektive Deutung führt dazu, dass äußere Machtverhältnisse, wie etwa politische Befehle, wirtschaftliche Interessen oder militärische Strukturen, nur am Rande thematisiert werden. Das Handeln wird psychologisiert; gesellschaftliche Bedingungen geraten aus dem Blick.

Soziale Interaktion wird zur innerpsychischen Auseinandersetzung umgedeutet, wodurch das menschliche Handeln letztlich seines spezifisch gesellschaftlichen Charakters beraubt wird. Auch wird die Differenz zwischen menschlichem und tierischem Verhalten unscharf, wenn gesellschaftliches Handeln allein durch subjektive Deutungsprozesse erklärt wird.

Perspektivenübernahme und symbolische Kommunikation

Trotz dieser Kritikpunkte liefert der symbolische Interaktionismus wichtige Bausteine für ein Verständnis von Sozialisation: insbesondere die Übernahme der Perspektive des Anderen, die Bedeutung symbolischer Kommunikation und die Rolle von Sprache bei der Koordination von Verhalten. Diese Elemente sind anschlussfähig für weitere Theorien – etwa bei HABERMAS, der kommunikatives und instrumentelles Handeln voneinander unterscheidet.

HABERMAS führt die Diskussion weiter, indem er die gesellschaftlichen Bedingungen und Normen systematisch in die Analyse sozialen Handelns einbezieht. Der symbolische Interaktionismus kann so als eine differenzierende Ergänzung verstanden werden, nicht aber als eigenständige Theorie gesellschaftlicher Transformation.

Relevanz für Mensch-KI-Koexistenz

Gerade im Kontext der Mensch-KI-Koexistenz sind die Ansätze des symbolischen Interaktionismus von hoher Bedeutung. Denn sie thematisieren Prozesse wie Bedeutungszuweisung, Perspektivenübernahme und symbolische Kommunikation – all jene Elemente, die auch für eine mitgestaltende, lernfähige KI zentral werden könnten.

Doch auch hier gilt: Eine KI, die nur auf symbolische Oberflächen reagiert, ohne die zugrunde liegenden sozialen, historischen und ethischen Zusammenhänge zu erfassen, bleibt funktional begrenzt. Erst wenn eine KI nicht nur „bedeutet“, sondern versteht, könnten sich neue Möglichkeiten interaktiver, dialogischer Wirklichkeitserzeugung ergeben.

Ausblick

Die Auseinandersetzung mit dem symbolischen Interaktionismus macht deutlich, dass Interaktion nicht als abgeschlossener Prozess gedacht werden darf. Sie ist eingebettet in Machtverhältnisse, historische Kontexte und gesellschaftliche Zielsetzungen.

Im nächsten Kapitel wird HABERMAS‘ Konzeption von Interaktion und Arbeit untersucht – mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Bedingungen sozialen Handelns nicht nur zu beschreiben, sondern auch auf ihre Veränderbarkeit hin zu befragen.


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