Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Persönlichkeit als theoretisches und hypothetisches Konstrukt betrachtet wurde, richtet sich der Fokus nun auf ihre gesellschaftliche Dimension. Es soll gezeigt werden, dass Persönlichkeit nicht bloß eine individuelle Eigenschaft, sondern eine besondere Qualität der Vergesellschaftung des Individuums ist, die in einem dynamischen Wechselverhältnis mit den gesellschaftlichen Verhältnissen entsteht und sich entwickelt.
Obwohl die Begriffe Persönlichkeit, gegenständliche Tätigkeit und menschliches Bewußtsein zentrale Kategorien der „Psychologie als einer konkreten Wissenschaft von der Entstehung, vom Funktionieren und von der Struktur der psychischen Widerspiegelung der Wirklichkeit, die das Leben der Individuen vermittelt“ (LEONTJEW 1979, S. 17) sind, kann die Soziologie, die sich mit speziellen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bzw. mit speziellen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bzw. mit speziellen sozialen Prozessen und sozialen Gruppen sowie wesentlichen Vermittlungen zwischen Individuum, sozialen Gruppen und Gesellschaft befaßt, nicht umhin, sich der Forschungsergebnisse und Psychologie für die spezifisch soziologische Analyse der Tätigkeiten der Persönlichkeit zu bedienen.
Die Vereinigung der Individuen durch den gesellschaftlichen Zusammenahng ist Grundlage soziologischer Forschung und im weitesten Sinne ihr Gegenstandbereich. Die Vereinigung der Individuen setzt ihren Unterschied voraus, der als unterschiedliche Wechselbeziehung mit dem gesellschaftlichen Wesen des Menschen in Erscheinung tritt. Aufgrund der Tatsache, daß die Beziehung der Individuen zum gesellschaftlichen Wesen durch verschiedene Arten ihrer Einbeziehung in die gesellschaftlichen Verhältnisse und durch die unterschiedliche Stellung mit System der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist, ist es tendenziell möglich, gesellschaftlich relevantes Handeln nicht erst dann soziologisch zu analysieren, wenn es zu einer Massenerscheinung geworden ist.
Das in der psychologischen Forschung entwickelte und praktizierte soziale Herangehen an die Bestimmung der Persönlichkeit ermöglicht es, auf den Kenntnissen und Forschungsergebnissen der Psychologen aufbauend, die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des Handelns der Persönlichkeit, die – wenn sie auch nicht direkt in Verbindung mit der Erforschung sozialer Gesetze zu bringen ist – zumindest in Hinsicht auf die Analyse der Möglichkeit und Notwendigkeit gesellschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritts gesehen werden kann.
Die Anknüpfung an psychologische Forschung ist möglich, wenn ihr soziales Herangehen an die Bestimmung der Persönlichkeit „die Grenzender Vergegenständlichung und der Entgegenständlichung“ umreißt,
„die bei einem gegebenen Typ der sozialen Verhältnisse in frage kommen, die historische Grenze der Entwicklung der menschlichen Qualitäten, die vorgegeben ist durch die gegebene Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes und durch den Platz des gegebenen Individuums im System dieser Verhältnisse. Die marxistische Persönlichkeitsauffassung fixiert die Art und Weise der Realisierung der Entwicklungsmöglichkeiten seines gesellschaftlichen Wesens in der betreffenden Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung bei dem vorhandenen Typ der gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Individuum“ (ABULCHANOWA-SLAVSKAJA 1976, S. 54).
Der Begriff Persönlichkeit bezeichnet eine bestimmte Qualität der menschlichen im Unterschied zur tierischen Entwicklung (Phylogenese) und auch zur Entwicklung des Individuums (Ontogenese). Er bezeichnet keine Eigenschaften oder Charaktermerkmale, sondern „drückt ebenso wie der Begriff Individuum die Ganzheitlichkeit des Lebens des Subjekts aus“ (LEONTJEW 1979, S. 168). Der Unterschied ist der:
„Als Persönlichkeit wird man nicht geboren, zur Persönlichkeit wird man. Deshalb sprechen wir auch nicht von der Persönlichkeit des Säuglings oder der Persönlichkeit des Kleinkindes, obgleich die Merkmale der Individualität auf den frühen Stufen der Ontogenese nicht weniger deutlich zutage treten als in den späteren Altersetappen. DIE PERSÖNLICHKEIT IST EIN RELATIV SPÄTES PRODUKT DER GESELLSCHAFTSHISTORISCHEN UND ONTOGENETISCHEN ENTWICKLUNG DES MENSCHEN“ (ebda.).
„Sowohl die Persönlichkeit als auch das Individuum sind ein Produkt der Integration von Prozessen, die die Lebensbeziehungen des Subjekts verwirklichen. Es gibt jedoch ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal jenes besonderen Gebildes, das wir als Persönlichkeit bezeichnen. Es wird durch die Natur jener Beziehungen bestimmt, die es erzeugen, und das sind für den Menschen die spezifischen GESELLSCHAFTLICHEN Beziehungen, die er in seiner gegenständlichen Tätigkeit eingeht“ (S. 171).
Das Interesse der soziologischen Forschung an der Persönlichkeit gilt der „spezifischen Qualität der sozialen Isolierung (und der Kommunkation) des Individuums in Abhängigkeit von bestimmten sozialen Bedingungen“, die im Begriff der Persönlichkeit enthüllt werden, im Unterschied zur psychologischen Analyse, die „der Prozeß der Bewahrung und Aufrechterhaltung der qualitativen Eigenart der individuellen Form bei ihrer Einbeziehung in die Gesellschaft, der Zusammenhang mit anderen Individuen“ interessiert (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 70 f.).
Die Soziologie stellt die Frage danach,
„in welchem Maße die Persönlichkeit in ihrer Entwicklung einen bestimmten sozialen Charakter angenommen hat und wie dieser in ihrem Verhalten zum Ausdruck kommt, inwieweit sie ein bestimmter sozialer Typus ist. Die Soziologie fragt also nach dem gesellschaftlichen Individuum und seinen Eigenschaften, gewissermaßen nach „typischen Charakteren unter typischen Umständen“. Sie studiert an der Entwicklung der Persönlichkeit, bis zu welchem Grade sich die Individuen das soziale Wesen von bestimmten Klassen und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen angeeignet haben und in ihren Handlungen realisieren“ (MEIER 1974, S. 57).
Ein bündiges theoretisches System der sozialen Faktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung determinieren, gibt es zur Zeit noch nicht. Aus diesem Grund sind auch kaum Aussagen darüber möglich, welche Persönlichkeitseigenschaften konkret durch diesen oder jenen Bedingungskomplex, seien es Erziehung, seien es Einflüsse des Mikromilieus, zustandegekommen sind. Der Ansatz für ein solches System ist die Analyse der menschlichen Tätigkeit (vgl. MEIER 1974, S. 92).
„Ein grundlegendes Prinzip der sowjetischen Psychologie charakterisiert die Persönlichkeit als das Subjekt der Tätigkeit. Unter Persönlichkeit verstehen wir eine solche Organisation des Bewußtseins und der Tätigkeit im ganzen, durchdie der Mensch im Unterschied zu den Tieren die Natur und die Gesellschaft im Einklang mit seinen bewußten und stabilen Beziehungen zur Wirklichkeit umzugestalten vermag. Am deutlichsten tritt die Rolle der Persönlichkeit als Subjekt der Tätigkeit in der gesellschaftlich-historischen Entwicklung zutage“ (ABDULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 187 f.).
Die materialistische Auffassung der Persönlichkeit geht davon aus, daß über eine Persönlichkeit weder aufgrund ihrer Erlebnisse geurteilt werden kann noch daß zur Charakterisierung der Persönlichkeit diese von den realen Lebensverhältnissen isoliert werden darf.
Die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Persönlichkeit“ verschwindet, sagt LEONTJEW, wenn man akzeptiert, „daß die Persönlichkeit eine besondere QUALITÄT ist, die das natürliche Individuum im System der gesellschaftlichen Verhältnisse erlangt“ (LEONTJEW 1979, S. 21).
„Die anthropologischen Eigenschaften des Individuums treten nicht als die persönlichkeitsbestimmenden und zur Struktur gehörenden Eigenschaften auf, sondern als genetisch vorgegebene Bedingungen für die Herausbildung der Persönlichkeit und, im Zusammenhang damit, nicht als ihre psychologischen Merkmale, sondern nur als die Art und Weise ihres Zutagetretens. … Die Problematik des Temperraments, der Eigenschaften des Nervensystems, und anderes mehr soll nicht aus der Persönlichkeitstheorie „verbannt“ werden, sondern auf völlig andere Ebene, wenn man es so ausdrücken darf, als Frage nach der Nutzung der angeborenen individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten durch die Persönlichkeit gesehen werden“ (LEONTJEW 1979, S. 21).
Eines der wesentlichen Momente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung der Teilung der Arbeit, die MARX und ENGELS als „eine der Hauptmächte der bisherigen Gesichte“ bezeichnen (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 46), ist „dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unseres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht…“ (S. 33).
Es ist „eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr Kräfte der Individuen, sondern des Privateigentums sind,… (S. 67).
Während in früheren geschichtlichen Perioden die Erzeugung des materiellen Lebens noch als „eine untergeordnete Art der Selbstbetätigung galt, fallen sie jetzt so auseinander, daß überhaupt das materielle Leben als Zweck, die Erzeugung dieses materiellen Lebens als Arbeit (welche die jetzt einzig mögliche, aber wie wir sein, negative Form der Selbstbetätigung ist), als Mittel erscheint“ (S. 67).
Nicht nur, um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, müssen sich die Individuen die Totalität von Produktivkräften aneignen,
„sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen. Diese Aneignung ist zuerst bedingt durch den anzuegnenden Gegenstand – die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte. Diese Aneignung muß also schon von dieser Seite her einen den Produktivkräften und dem Verkehr entsprechenden universellen Charakter haben. Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst“ (S. 67 f.).
Dieser Aneignungsbegriff, der den Unterschied zwischen persönlichkeitsentwickelnden Möglichkeiten der Qualifikation und den Anforderungen der Arbeitsaufgabe (vgl. FRICKE u.a. 1975) dialektisch aufhebt, ebenso die von HABERMAS vollzogene Trennung von instrumentalem und kommunikativem Handeln, läßt jedoch nicht zu, aus dem Umgang mit den Arbeitsgegenständen auf die Entwicklung der Persönlichkeit zu schließen.
„Die Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche durch die Teilung der Arbeit kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, daß man sich die allgemeine Vorstellung davon aus dem Kopfe schlägt, sondern nur dadurch, daß die Individuen diese sachlichen Mächte wieder unter sich subsumieren und die Teilung der Arbeit aufheben. Dies ist ohne die Gemeinschaft nicht möglich. Erst in der Gemeinschaft (mit Andern hat jedes) Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen SEiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich“ (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 74).
Die Gesellschaftsmitglieder, heißt es bei MARX, müssen die „Esistenzbedingungen unter ihre Kontrolle nehmen“ (S. 75).
Durch die Teilung der Arbeit und der dadurch unvermeidlich gewordenen Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse „tritt ein Unterschied heraus zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist“ (S. 76). Dieser Unterschied zwischen persönlichem Individuum und Klassenindividuum bzw. zufälligem Individuum, der Widerspruch zwischen der „Persönlichkeit des einzelnen Proletariers und seiner im aufgedrängten Lebensbedingufngen“, der Arbeit („namentlich da er schon von Jugend auf geopfert wird und da ihm die Chance fehlt, innerhalb seiner Klasse zu den Bedingungen zu kommen, die ihn in die andere stellte“), zwingt die Proletarier,
„um persönlich zur Geltung zu kommen, ihre eigene bisherige Existenzbedingung, die zugleich die der ganzen bisherigen Gesellschaft ist, die Arbeit, auf(zu)heben. Die befinden sich daher auch im direkten Gegensatz zu der Form, in der die Individuen der Gesellschaft sich bisher einen Gesamtausdruck gaben, zum Staat, und müssen den Staat stürzen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“ (S. 77).
Der Begriff Fähigkeit muß, sofern wir es mit gesellschaftlicher Tätigkeiten zu tun haben, aus den gesellschaftlichen Bedingungen, Prozessen und Verhältnissen abgeleitet werden, wobei zur Analyse der Persönlichkeitsentwicklung die individuellen Fähigkeiten, Kenntnisse usw. diesem Fähigkeitsbegriff untergeordnet werden müssen.
Aus der Tatsache, daß die Lebenstätigkeit der Individuen in den gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen begründet ist, ergibt sich, daß die Fähigkeit und die Kompetenz der Persönlichkeit nicht aus ihren Eigenschaften, aus ihrem Wissen, ihrer Individualität, ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Qualifikation erklärt werden kann, sondern als Elemente der Vergesellschaftung betrachtet werden müssen.