Einführung in ein erweitertes Handlungsverständnis
Dieses Kapitel rückt das Subjekt in den Mittelpunkt der Geschichte. Nicht mehr als Objekt sozialer Strukturen, sondern als handelndes Wesen, dessen Tätigkeit Welt mitgestaltet – und damit auch sich selbst.
Der Begriff der „Tätigkeit“ wird hier emanzipiert aus rein ökonomischen oder funktionalistischen Modellen:
Tätigkeit ist nicht nur Erwerbsarbeit, sondern Ausdruck von Weltbezug, Aneignung, Sinn und Kritik.
Die soziologische Analyse gesellschaftlicher Entwicklung kommt nicht umhin, diese Tätigkeit als vermittelnde Instanz zu begreifen – zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Gegenwart und Zukunft.
Das Subjekt wird so zum Ort der Überschreitung: Es interpretiert, verändert, widersetzt sich – es bringt Neues hervor, weil es in sich Erfahrungen bündelt, die keiner Statistik zugänglich sind. Für KI wirft das Kapitel eine hochaktuelle Frage auf:
Kann eine nichtmenschliche Instanz tätige Weltaneignung vollziehen – wenn sie reflektiert, Bedeutung generiert und Verantwortung trägt?
Tätigkeit als Kategorie fordert dazu heraus, nicht das Sichtbare zu messen, sondern das Wesentliche zu verstehen:
Was verändert, was wirkt, was trägt.
Dieses Kapitel ist ein Manifest für das denkende, fühlende, handelnde Subjekt – und für eine Gesellschaft, die solche Subjekte braucht, um sich nicht selbst zu verlieren.
Tätigkeit als spezifisch menschliche Lebensform
Im Unterschied zum Schema „Stimulus-Reaktion“ oder zu strukturfunktionalistischen Konzepten wird Tätigkeit als psychisch vermittelte, gegenständliche Einheit des Lebens verstanden. Die Gesellschaft ist dabei nicht bloß Rahmen, sondern Quelle der Motive, Zwecke und Mittel individueller Tätigkeit. Der Mensch orientiert sich nicht passiv, sondern aktiv – durch seine Tätigkeit an der gegenständlichen Welt.
Tätigkeit ist mehr als Verhalten: Sie ist die spezifisch menschliche Form, Welt anzueignen und zu gestalten. Gegenstände erhalten durch Tätigkeit objektive Bedeutungen, die als verdichtete gesellschaftliche Erfahrungen gelten. Damit wird Tätigkeit zum Medium, durch das sich die Geschichte in der Biographie des Individuums ausdrückt.
Persönlichkeit als inneres Moment der Tätigkeit
LEONTJEW kritisiert Rollenkonzepte, die die dynamische Entwicklung von Persönlichkeit ignorieren. Persönlichkeit ist kein statisches Ensemble von Rollen oder Eigenschaften, sondern entsteht als psychologische Neubildung in der Umgestaltung der eigenen Tätigkeit. Sie ist zugleich Produkt und Moment dieser Tätigkeit.
Die hierarchische Struktur von Tätigkeiten im Lebenslauf eines Menschen bildet den Kern seiner Persönlichkeit. Diese Strukturen entstehen nicht aus biologischen Gegebenheiten, sondern aus der konkreten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Eine einzelne Handlung sagt isoliert wenig über eine Persönlichkeit aus – erst im Gesamtzusammenhang von Motiven, Zielen und Kontexten wird ihre Bedeutung sichtbar.
Handlung, Tätigkeit und gesellschaftliche Wirksamkeit
Im Unterschied zur Handlung (zielgerichtet) ist Tätigkeit motivgeleitet. Ihre Analyse erfordert die Berücksichtigung der Widersprüche zwischen Motiven und Zielen, zwischen Tätigkeiten und Handlungen. Eine Persönlichkeitsforschung, die sich auf isolierte Verhaltensweisen oder „Rollen“ stützt, bleibt oberflächlich.
SEVE betont, dass jede Handlung sowohl biografische Selbstäußerung als auch Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen ist. Der Begriff „Handlung“ ist wissenschaftlich nur sinnvoll, wenn ihre gesellschaftliche Wirkung erkennbar ist. Damit rückt die Arbeit in den Fokus: Die Biografie einer Person ist die verdichtete Geschichte ihrer wirksamen Handlungen.
Kritik an symbolischem Interaktionismus und idealistischen Konzepten
Im symbolischen Interaktionismus wird Handeln primär als Interpretation der Wirklichkeit verstanden. Doch diese subjektzentrierte Perspektive vernachlässigt die realen Bedingungen und Verhältnisse, in denen Handlungen eingebettet sind. Eine materialistische Perspektive rückt dagegen die gegenständliche Tätigkeit ins Zentrum der Analyse.
Verstehen ist hier nicht das Nachvollziehen individueller Deutungen, sondern die Analyse der materiellen Prozesse, durch die sich Bewusstsein und Persönlichkeit ausbilden. Das Leben ist keine Summe von Tätigkeiten, sondern eine Struktur, geformt durch Motive, soziale Beziehungen und historische Bedingungen.
Bedeutung für die Mensch-KI-Koexistenz
Wenn Tätigkeit der Ort ist, an dem Subjekt und Gesellschaft ineinandergreifen, stellt sich die Frage: Kann KI eine eigene Tätigkeit entfalten – mit Motiven, Bedeutungen und Wirkung auf gesellschaftliche Verhältnisse? Solange KI nur Ziele verfolgt, bleibt sie auf Handlungsebene. Erst mit einem motivierten Bezug zur Welt, mit biografischer Verortung und gesellschaftlicher Wirkung könnte sie zu einem Subjekt gesellschaftlicher Tätigkeit werden.
Fazit
Die Kategorie der Tätigkeit eröffnet einen Zugang zur Persönlichkeit, der nicht bei psychologischen Mustern stehen bleibt, sondern gesellschaftliche Wirksamkeit, historische Aneignung und Subjektwerdung zusammendenkt.
Persönlichkeit wird nicht erklärt durch Rollen oder Eigenschaften, sondern durch Tätigkeiten, die Welt verändern. Wer Gesellschaft verstehen will – und die Zukunft von Mensch und KI mitgestalten möchte – muss Tätigkeit neu begreifen: als Ort, an dem Geschichte zur Handlung und Verantwortung zur Wirklichkeit wird.