Kapitel 6.3 Die Subjektposition der Persönlichkeit in ihrer Lebenstätigkeit

Die gegenständliche Tätigkeit ist für LEONTJEW ein inhaltlicher Prozeß, „in dem die realen Zusammenhänge zwischen dem Subjekt und der gegenständlichen Welt realisiert werden“. Die Tätigkeit dürfe niemals isoliert werden von den gesellschaftlichen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft (LEONTJEW 1979, S. 77, 84). Sie dürfe keinesfalls als Beziehung zwischen Menschen und ihm entgegenstehender Gesellschaft interpretiert werden (S. 84), denn dabei werde

„die Hauptsache außer acht gelassen, daß nämlich der Mensch in der Gesellschaft nicht einfach äußere Bedingungen findet, denen er seine Tätigkeit anpassen muß, sondern daß diese gesellschaftlichen Bedingungen selbst die Motive und Zwecke seiner Tätigkeit in sich tragen; mit einem Wort, daß die Gesellschaft die Tätigkeit der sie bildenden Individuen produziert“ (S. 85).

Aus diesem Grunde hatten MARX und ENGELS die Postulate des einzelnen an die Gesellschaft als unsinnig bezeichnet.

„Hierzu braucht man nur die einzelnen Individuen als Repräsentanten, Verkörperungen der Einzelnheit, und die Gesellschaft als Verkörperung der Allgemeinheit zu interpretieren, und das ganze Kunststück ist fertig. Zugleich ist hierdurch der saint-simonistische Satz von der freien Entwicklung der Anlagen auf seinen richtigen Ausdruck und seine wahre Begründung zurückgeführt. Dieser richtige Ausdruck besteht in dem Umsinn, daß die Individuen, die die Gesellschaft bilden, ihre „Eigenheit“ bewahren, daß sie bleiben wollen, wie sie sind, während sie von der Gesellschaft eine Veränderung verlangen, die bloß aus ihrer eigenen Veränderung hervorgehen kann“ (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 464 f.).

Dies jedoch geschieht in der idealistischen Philosophie und Soziologie, die die Persönlichkeit in dem Maße als Subjekt der gesellschaftlich historischen Entwicklung betrachten, in dem diese individuell ist und aus der anonymen Masse herausragt. ALLPORT z.B. sieht die Aktivität der Persönlichkeit in der Fähigkeit, sich besondere Ziele zu setzen und diese durch eigene Methoden und Verfahren selbständig zu erreichen (ALLPORT 1959).

Die Subjektsposition des Individuums besteht jedoch nicht darin, daß es die Bedingungen seiner Lebenstätigkeit willkürlich verändern oder gar schaffen kann. Statt dessen muß „der BEGRIFF SUBJEKT … zur Bezeichnung einer spezifischen Qualität, der qualitativen Bestimmtheit der INDIVIDUELLEN EXISTENZWEISE verwendet“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 57) werden.
SEVE warnt davor, aus der Idee, daß sich die Individuen nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse reduzieren lassen und die Menschen die Geschichte machen, zu schließen, daß der Mensch keinen historisch-ökonomischen Gesetzen unterliege. Es ist die

„tragische Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft (…), daß die Masse der Individuen dort eben durch ihren wirklichen Lebensporzeß rundweg auf etwas REDUZIERT wird, das im Vergleich zum außerordentlichen Reichtum des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse unendlich dürfig ist. Das ganze Problem besteht gerade darin, historische Bedingungen zu schaffen, unter denen sich jedes Individuum den Reichtum des objektiven gesellschaftlichen Erbes ohne äußere Schranken anzueignen vermag – und dafür ist die Klassengesellschaft ganz und gar untauglich. In diesem Sinne beruht das philosophische Lobpreisen des nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse reduzierbaren Menschen bewußt oder unbewußt auf einer Idealisierung der bürgerlichen Verhältnisse“ (SEVE 1972, S. 126).

Ein anderes Extrem in der Auffassung der Subjektposition des Individuums findet sich in der strukturalistischen Konzeption OEVERMANNs. Die Elemente der latenten Sinnstrukturen einer Interaktion sind für ihn um Unbewußten repräsentiert, d.h. die Inhalte des Unbewußten schleichen sich offenbar hinter dem Rücken der Subjekte in die Interaktionstexte als „Lesarten“ der latenten Sinnstrukturen ein. Der Begriff des Unbewußten wird von ihm weiter gefaßt als in der Psychoanalyse: Die „Lesarten“ von latenten Sinnstrukturen können als materiale Implikate von Normen und Rgeln … gelten“ (OEVERMANN 19, S. 386 f.). Darauf gründete sich OEVERMANNs Auffassung vom Subjekt: „Einer soziologischen Betrachtung angemessen, impliziert die hier vertretene These also eine Konzeption, die das Subjekt auf die Vorstellung von einem dynamischen Medium der Aktualisierung objektiver sozialer Sinnstrukturen reduziert“ (S. 387).

Die marxistische Forschung betrachtet dagegen das Individuum vor allem als Subjekt der individuellen Lebenstätigkeit (vgl. ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 70). Diese Charakterisierung erfordert, es von den Hauptformen seiner Lebenstätigkeit zu abstrahieren; es sit nicht nur als Subjekt der Erkenntnis, der Tätigkeit, der Kommunikation usw. oder der Summe dieser Subjekte zu betrachten, sondern entscheidend ist seine Qualitätt als Subjekt der Lebenstätigkeit.

„Daher muß das Individuum als Subjekt der Lebenstätigkeit im Zusammenhang mit der Lebenstätigkeit in ihrem ALLSEITIGEN UND WIDERSPRÜCHLICHEN Inhalt untersucht werden, mehr noch, im Zusammenhang mit der Lebenstätigkeit als einem bestimmten spezifischen ganzheitlichen Prozeß, der eine eigene Logik der Entwicklung der Realisierung hat. Dieser Prozeß muß über typische, charakteristische Widersprüche und Wechselbeziehungen charakterisiert werden“ (S. 70).

Die Subjektposition der Persönlichkeit wird von BUJEWA ebenfalls auf die Lebenstätigkeit bezogen:

„Die sozialen Funktionen der Persönlichkeit realisieren sich innerhalb des Kollektivs, in dem ihre Lebenstätigkeit verläuft … Der individuelle Charakter der Persönlichkeit bildet sich, indem der Mensch in seinem Entwicklungsprozeß fortlaufend und gleichzeitig in den verschiedenartigen Zusammenhängen und Beziehungen lebt und handelt. Deren „Kreuzung“ bereichert nicht nur die Persönlichkeit, sondern kann auch unter bestimmten Voraussetzungen negative Folgen haben, und zwar die „Spaltung der Persönlichkeit“, den Bruch zwischen Kenntnissen, Überzeugungen, Verhalten usw. Der Mensch ist der Punkt, an dem sich verschiedene Einflüsse kreuzen und aussondern. Diese Vielfalt stellt ihn vor die Situation, eine Lösung auszuwählen, die eine aktive Position erfordert. Die Wirkung des Milieus schlägt, da sie vielfältig ist, keine eindeutige Lösung vor, die Wahl der Verhaltenslinie wird durch den Menschen selbst verwirklicht“ (BUJEWA 1971, S. 27).

Vergesellschaftung bedeutet zugleich Individualisierung. Das Individuum bildet ein autonomes Ganzes,

„das unter den verschiedenen Einwirkungen der sozialen Umwelt eine Auswahl trifft und dessen soziale Struktur nicht einfach ein Miniaturaggregat der Sozialstruktur der Gesellschaft ist. Es besitzt eine relative Autonomie seiner Entwicklung und seines Verhaltens in den Grenzen, die durch die Gesellschaft, die Klassen, Gruppen, Organisationen, Institutionen usw., denen es angehört, geschichtlich abgesteckt sind. Der Charakter der sozialökonomischen Verhältnisse beeinflußt entscheidend über das System der Arbeitsteilung und den gesamten gesellschaftlichen Überbau die Persönlichkeitsentwicklung“ (MEIER 1974, S. 94).

Zur Bestimmung des spezifischen Inhalts des Begriffs „Subjekt“ sind zunächst jene Merkmale zu fixieren, „die bei der Charakteristik des psychologischen Bewußtseinsbegriffs und bei der Definition des Persönlichkeitsbegriffs zur Kennzeichnung des aktiven und bewußten Verhaltens dienen“ (THOM 1978, S. 37).

Persönlichkeit wird von THOM als Subjekt charakterisiert,

„dann und insofern, wenn sie die Eigenschaften a) des aktiven gerichteten Verhältnisses zu den Lebensbedingungen; b) des reflexiven Selbstbewußtseins; c) einer spezifischen individuellen Färbung des psychischen Erlebens aufweist…“ (S. 38).
„Die Persönlichkeit wird zum Subjekt dann und insofern, wenn sie ihre Außenaktivität und ihr Selbstverständnis begründet auf Wissen um die objektiv zu beachtenden Strukturen des Verhaltens und ihrer eigenen Stellung in der Welt“ (S. 39 f.).

ENGELS schrieb 1894 in einem Brief an STARKENBURG:

„Wir sehen die ökonomischen Bedingungen als das in letzter Instanz die geschichtliche Entwicklung Bedingende an. … Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage URSACHE, ALLEIN AKTIV ist und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist die Wechselwirkung auf Grundlage der IN LETZTER INSTANZ stehts sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit“ (ENGELS 1968 II, S. 472 f.).
„Es ist also nicht, wie man sich hier und da bequemerweise vorstellen will, eine automatische Wirkung der ökonomischen Lage, sondern die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber in einem gegebenen sie bedingenden Milieu, auf Grundlage vorgefundener tatsächlicher Verhältnisse, unter denen die ökonomischen, so sehr sie auch von den übrigen politischen und ideologischen beeinflußt werden mögen, doch in letzter Instanz die entscheidenden sind und den durchgehenden, allein zum Verständnis führenden roten Faden bilden“ (S. 473).

Die Voraussetzungen der Geschichte, heißt es bei MARX und ENGELS in der Deutschen Ideologie, sind „die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie durch ihre eigne Aktion erzeugten“, Voraussetzungen, diee „auf rein empirischem Weg konstatierbar“ sind (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 20).

„Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie WIRKLICH sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind“ (S. 25).

In den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ schreibt MARX, die Freiheit der Individuen in vorkapitalistischen und kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen vergleichend:

„Da das einzelne Individuum nicht seine persönliche Bestimmtheit abstreifen, wohl aber äußere Verhältnisse überwinden und sich unterordnen kann, so scheint seine Freiheit im Fall 2 größer. Eine nähere Untersuchung jener äußeren Verhältnisse, jener Bedingungen, zeigt aber die Unmöglichkeit, den Individuen einer Klasse etc. sie en masse zu überwinden, ohne sie aufzuheben. Der Einzelne kann zufällig mit ihnen fertig werden; die Masse der von ihnen Beherrschten nicht, da ihr boßes Bestehn die Unterordnung, und die notwendige Unterordnung der Individuen unter sie, ausdrückt“ (MARX 1953, S. 81).

Es geht um den individuellen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung, die in der marxistischen Theorie als Prozeß der gesetzmäßigen, unumkehrbaren und gerichteten Veränderung der Dinge und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft, der in der Tendenz im Endergebnis auf höhere, qualitativ neuartige Entwicklungsformen und -resultate gerichtet ist. Die Soziologie untersucht nicht nur die allgemeinsten (bzw. allgemeinen) Bewegungsgesetze der Gesellschft, sondern auch Gesetze, die nur in einzelnen Gesellschaftsformationen wirken, wodurch der Grundgedanke der historisch-materialistischen Auffassung, der den Menschen als Schöpfer der Geschichte und damit Schöpfer seiner selbst erfaßt, in der Analyse sozialer Objekte konkretisierbar wird.
Gesellschaftliche Entwicklung ist also unterschieden von der strukturell-funktionalen Auffassung, die von Dynamik im Sinne einer ganz allgemein gefaßten Prozeßhaftigkeit des Sozialen spricht, die das übergehen der historischen Initiatve von der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse, vom Kapitalismus auf den Sozialismus negiert.

Die historisch-materialistische Auffassung und die daran sich orientierende soziologische Methodologie ist „ohne die Erforschung der Geschichte (und ohne das tätige Eingreifen in die Geschichte vermittelt der revolutionären Praxis) gar nicht möglich“ (BOLLHAGEN 1973, S. 11).
Das bedeutet, daß die sozialen Objekte in ihren gesetzmäßigen Struktur, Funktions- und Entwicklungszusammenhängen gesehen werden müssen. Die Methodologie muß die Kontinuität und Diskontinuität des Werdegangs sozialer Objekte erfassen können, sie als Einheit bestimmter Potenzen und Tendenzen, als Produkte der Auseinandersetzung historisch überlebter mit zukunftsträchtigen gesellschaftlichen Kräften begreifen.
Nur in diesen Zusammenhängen läßt sich, ausgehend von dem Gedanken MARX, die Menschen machen ihre Geschichte selbst, der individuelle Beitrag zur geschichtlichten Entwicklung einschätzen, indem die Tätigkeiten und die aus ihr heraus entstehenden Widersprüche und Lösungen in Beziehung gesetzt werden zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, Bedingungen, Möglichkeiten, Erfordernissen usw. Der Weg führt also über die Analyse der Tätigkeiten konkreter Individuen, wobei die gesellschaftlich-historischen Bedingungen das Individuum, wobei die gesellschaftlich-historischen Bedingungen das Individuum als gesellschaftliches Individuum und als historisches Individumm zugleich charakterisieren.
Die Formen, in denen sich Individualisierungen vollziehen, bezeichnen die Stellung des Individuums im System der gesellschaftlichen Verhältnisse; die Widersprüchlichkeit dieser Verhältnisse kann sich einerseits ausdrücken in Resignation, andererseits in der offensiven Begegnung dieser Widersprüche mit der Tendenz zu ihrer Aufhebung. Diese beiden Pole, zwischen denen sich die auf gesellschftliche Veränderungen bezogenen Tätigkeiten der Individuen bewegen, sind zugleich Ausdruck eines bestimmten Niveaus des Bewußtseins, der individuellen Aneignung der objektiven Wirklichkeit: auf der einen Seite die z.B. von SARTRE, CAMUS, MORAVIA literarisch dargestellte Zerrissenheit, Beziehungslosigkeit zur Realität, andererseits Engagement und soziale Verantwortung, die sich in den Verhaltensweisen ein und derselben Individuen widerspiegeln können.
Für die soziologische Forschung ist die Erforschung der Persönlichkeit insofern relevant, als es darum geht, das im individuellen Verhalten konkreter Subjekte angedeutete verallgemeinerbare zukünftige Handeln zu erkennen. Da hierbei stets die gesellschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen sind, geht es, immer in Hinblick auf sie, sowohl um die Wahrscheinlichkeit als auch um die Möglichkeit und Notwendigkeit gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Handelns.
Die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft produzieren ihren eigenen Widerspruch. Das Gesetz der Entwicklung ist die Abweichung von der „Norm“, ihre Aufhebung. Das soll heißen, daß der Widerspruch in Form von Protesten, Opposition, Nonfonformismus usw. nicht als Abweichung von der Norm der gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert werden darf, sondern als ihr eigenes Produkt, als eine der möglichen Reaktionen auf die Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung und als ihre treibende Kraft.
Wenn wir davon ausgehen, daß die Geschichte von Klassenkämpfen als der höchsten Form der Widerspruchslösung ist, dann ist es die Beseitigung scheinbar ewig gültiger gesellschaftlicher Normen, die durch die tendenzielle Ablösung der bestehenden Gesellschaftsformation durch eine neue aufgehoben werden, in der sich die Beziehung des Individuums zur historisch sich verändernden Realität ausdrückt, in welcher Form der Tätigkeit auch immer diese Beziehung realisiert wird.
Für die Erforschung des menschlichen Handelns ergibt sich sowohl für historische wie für soziologische und psychologische Forschungen die Notwendigkeit, Gesellschaft nicht als supra-individuelles Gebilde zu verstehen, sondern als gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen den Individuen. Die soziologische Erklärung der sozialen Determiniertheit des Psychischen muß auf das reale Individuum ausgedehnt werden, um die Wechselbeziehung zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen wirklich erfassen zu können. Der erste Schritt dazu ist die Einzelbeziehung des Begriffs gesellschaftliches Individuum in die methodologischen Grundlagen.

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