Das Denken als höchste Form der psychischen Tätigkeit des Menschen ist ebenso wenig ein bloßes inneres Abbild äußerer Reize wie eine reine Funktion angeborener Strukturen. Es bildet sich in einem dynamischen Wechselverhältnis von Tätigkeit, gesellschaftlicher Praxis und individueller Aneignung. Denken und Bewusstsein stehen dabei in einer untrennbaren Beziehung zum realen Sein und der praktischen Veränderung der Welt.
Das folgende Kapitel untersucht die Entwicklung des Denkens als tätigen, produktiven Prozess, der auf der Analyse, Umgestaltung und Überwindung gegebener Situationen beruht. Es zeigt auf, dass das Bewusstsein nicht aus isolierten psychischen Prozessen zusammengesetzt ist, sondern als gerichtetes Verhältnis zur objektiven Welt zu verstehen ist – ein Verhältnis, das sich aus der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen entfaltet und seine Persönlichkeit prägt. Die damit verbundene Fähigkeit, Widersprüche nicht nur zu erkennen, sondern durch aktives Handeln zu überwinden, bildet den Kern sowohl individueller Erkenntnis als auch gesellschaftlicher Entwicklung.
Das Denken, die höchste Form der psychischen Tätigkeit des Menschen, betrachtet der Marxismus „als ein Produkt der gesellschaftshistorischen Entwicklung, als eine besondere theoretische Form der menschlichen Tätigkeit, die nichts anderes ist als ein Derivat der praktischen Tätigkeit“ (LEONTJEW 1979, S. 41).
Im eigentlichen Unterrichtsprozeß selbst steht die Entwicklung des Denkens als höchster Form der psychischen Tätigkeit des Menschen in seinem gesellschaftlichen Handeln im Mittelpunkt.
„Will man die These vom Denken als Prozeß richtig interpretieren, dann muß man das Denken als Tätigkeit eines Subjektes auffassen, das mit der objektiven Welt in Wechselwirkung steht. DAS DENKEN IST NÄMLICH EIN PROZESS, WEIL ES EINE UNTERBROCHENE WECHSELWIRKUNG ZWISCHEN MENSCH UND OBJEKT IST. Jeder Denkakt verändert die Problemsituation, und jede Veränderung der Problemsituation löst eine weitere Bewegung des Denkens aus. Die Untersuchung des DENKPROZESSES … ist letzten Endes eine Untersuchung des prozessualen Verlaufs und der Komponenten der DENKTÄTIGKEIT des Menschen als ihres SUBJEKTES“ (RUBINSTEIN 1967, S. 30).
Die Erforschung des Denkens und die Ermittlung von Kenntnissen sind zwei verschiedene Aufgaben. Aber sie sind nicht voneinander isoliert, wie PIAGET es sieht. Das Denken ist auch nicht nur einfach die Anwendung oder das Funktionieren von Kenntnissen: „Es muß vor allem als PRODUKTIVER Prozeß behandelt werden, der fähig ist, zu NEUEN Kenntnissen zu führen“ (S. 57).
Die aktive Rolle der Persönlichkeit als Subjekt des Denkens liegt darin, daß die Aktualisierung von Kenntnissen für die Lösung einer bestimmten Aufgabe kein einfacher reproduktiver Gedächtnisakt ist, sondern eine Analyse voraussetzt, sowohl die der Aufgabe als auch die der in Betracht kommenden Kenntnisse. „Dabei spielt die Analyse der zu lösenden Aufgabe die führende Rolle“ (S. 55). Die Grundform der Analyse, „der Hauptnerv des Denkprozesses“ besteht für RUBINSTEIN in folgendem:
„Beim Denkprozeß wird das Objekt in immer neue Zusammenhänge einbezogen und tritt infolgedessen in immer neuen Qualitäten auf, die in neuen Begriffen fixiert werden. Aus dem Objekt wird also gleichsam ein immer neuer Inhalt geschöpft. Es wendet uns gleichsam jedes Mal eine andere Seite zu, und wir entdecken an ihm immer neue Eigenschaften“ (S. 99).
Diesen Prozeß bezeichnet RUBINSTEIN als grundlegende und fundamentale Erscheinung, die sich in allen seinen Versuchsmaterialien bzw. Forschungsarbeiten zeige. Für gewöhnlich werden zwar die Dinge in den Qualitäten wahrgenommen, die durch ihren Alltagsgebrauch fixiert sind, und „infolge ihrer Signalbedeutung im Leben und in der Alltagspraxis hemmen diese „starken“ Eigenschaften der Dinge nach dem Gesetz der negativen Induktion die Wahrnehmung ihrer anderen Eigenschaften“ (RUBINSTEIN 1967, S. 112), aber bei der Lösung der eigentlichen „praktischen Hauptaufgabe“ werden Wege zum Entdecken neuer Zusammenhänge und Relationen frei, „auf die einen einfach die Umstände stoßen“ (S. 112).
Zur Lösung dieses Problems eignen sich weder die mechanistischen Reiz-Reaktion-Konzeptionen, nach denen die äußere Ursache in Form eines Umweltreizes unmittelbar die Reaktion des Organismus bestimmt, ohne daß irgendeine innere Vermittlung stattfände, noch die personalistische Psychologie, die von den inneren Eigenschaften oder Tendenzen der Persönlichkeit ausgeht; sondern man muß „die äußeren Einwirkungen und die inneren Beziehungen in bestimmter Weise zueinander in Beziehung setzen“ (RUBINSTEIN 1967, S. 11). Die Bedeutung der Persönlichkeit – „als ganzheitlicher Komplex innerer Bedingungen für die Gesetzmäßigkeit der psychischen Prozesse“ (S. 11) – besteht in folgendem:
„Bei der Erklärung irgendwelcher psychischer Erscheinungen tritt die Persönlichkeit als zur Einheit verbundene Gesamtheit innerer Bedingungen auf, durch die alle äußeren Einwirkungen gebrochen werden“ (S. 12).
Die inneren Eigenschaften „entstehen unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen, sind aber nicht einfach ihre Projektion“ (S. 12). Weil die eigenen inneren Eigenschaften einer Erscheinung den „spezifischen Kreis von Einwirkungen, denen sie ausgesetzt werden kann“, selektiv bedingen, „hat auch die Entwicklung ihre innere Logik, unbeschadet der Tatsache, daß sie durch äußere Einwirkungen bedingt ist“ (S. 12).
Die Lösung der Aufgabe setzt die Formulierung eines Problems in Worten voraus:
„Jede Formulierung ist, wie jeder andere Denkakt auch, ein Akt der Analyse usw. Die Analyse (wie auch die Synthese und die Verallgemeinerung) ist der „gemeinsame Nenner“, der das Sprechen mit dem Denken vereinigt. Eine bestimmte verbale Formulierung und Umformulierung einer Aufgabe kommt nicht von außen zur Analyse hinzu, die ja ein Denkprozeß ist, sondern nimmt unmittelbar an diesem Denkprozeß teil, ist in ihn verflochten“ (S. 89).
Die Formulierung läßt, da Sprache und Denken wechselseitig zusammenhängen, Rückschlüsse auf die Vollständigkeit der Analyse zu.
„Jede Sprache, die in den Wortbedeutungen die Resultate der Erkenntnis der Wirklichkeit fixiert, analysiert die Wirklichkeit auf ihre Weise, synthetisiert in den Wortbedeutungen die durch Analyse ermittelten Seiten der Wirklichkeit auf ihre Weise und differenziert und generalisiert sie auf ihre Weise, je nach den Bedingungen, unter denen sie entsteht.
Auf dieser sprachlichen Grundlage wird beim Sprechen ununterbrochen weiter analysiert, synthetisiert und generalisiert, und zwar entsprechend dem Gedankengang und den sich ändernden Bedürfnissen und Aufgaben des Denkens. Jede verbale Formulierung ist eine Fixierung von Ergebnissen eines Denkprozesses, die zwangsläufig den weiteren Denkprozeß beeinflussen muß. Jede verbale Formulierung ist Bestandteil des Denkprozesses, sowohl durch ihn bedingt als auch in bedingend“ (RUBINSTEIN 1967, S. 95).
Nach allgemeiner Auffassung resultieren Denken und Lernen aus der Tatsache der Ungelöstheit eines Problems. Aber Widersprüche sind nur allgemeine (philosophische) Kategorien, die als Erklärungsprinzip von Aktivitäten und Bewegungen gelten können. Auf der Ebene der ontogenetischen Entwicklung erwächst der Widerspruch nach ROSENFELD „aus einem höheren Anforderungsniveau (als neue Leistungs- und Verhaltensforschung) und einem niederen psychischen Niveau (als vorhandenes Leistungs- und moralisch-charakterliches Niveau)“ (ROSENFELD 1975, S. 23). Eine dynamische Wirkung erhält der Widerspruch jedoch nur dann, wenn aufgrund äußerer Einwirkungen eine innere Widerspruchssituation entsteht, wenn also gestellte Forderungen als persönlich bedeutsam erlebt werden.
Die Tendenz der Widerspruchslösung kann, abhängig von den Besonderheiten der äußeren Bestimmungsfaktoren wie von individuellen Voraussetzungen, unterschiedlich sein; die Aktivitätsrichtungen können progressiven, stagnativen oder auch regressiven Charakter haben (vgl. S. 25). Die pädagogische Aufgabe besteht darin, den Zusammenhang der Entstehung eines inneren Widerspruchs zu ermitteln und die Situation eines inneren Widerspruchs herbeizuführen. Das Ziel ist nicht, die Widersprüche zu beseitigen, sondern sie zu lösen (vgl. KOSTJUK 1958, S. 21; zit. bei ROSENFELD 1975, S. 27):
„Es liegt im Wesen des Widerspruchs, daß er sich nicht durch Ausgleichsfunktionen harmonisiert, sondern durch Kampf, Veränderungen und Überwindung zu neuen Widersprüchen führt. Nicht die „Abstumpfung“ der Gegensätze ist die ursprüngliche Tendenz des Widerspruchs, sondern ihre Lösung durch Überwindung und Höherentwicklung“ (ROSENFELD 1975, S. 24).
Als grundlegendes Problem bezeichnet LEONTJEW die Frage, „auf welche Weise das Denken, da es die sinnliche Wahrnehmung als einzige Quelle hat, hinter die Oberfläche der Erscheinungen dringt, die auf unsere Sinnesorgane einwirken“ (S. 42).
Für die Beantwortung dieser Frage ist nicht die Untersuchung des Denkprozesses vorrangig, der ja damit beginnt, daß die „Problemsituation“, in der der Denkprozeß seinen Anfang nimmt, eine Analyse unterzogen wird (vgl. RUBINSTEIN 1962, S. 86), sondern die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins.
Die Frage ist, wie es überhaupt zu einer Analyse einer Problemsituation kommt, wie sich erst einmal eine „Situation“ als problematisch darstellt.
„Bewußtsein und Denken fallen nicht direkt udn nicht einfach zusammen. Das Bewußtsein kann nicht aus dem Denken ABGELEITET werden, da es nicht aus dem Denken, sondern durch das Sein, durch das reale Leben des Menschen bestimmt wird.
Der Begriff Bewußtsein ist nicht einfach WEITER als der Begriff Denken. Bewußtsein – das ist nicht Denken plus Wahrnehmung plus Gedächtnis plus Fertigkeiten und selbst nicht einmal alle diese Prozesse zusammengenommen plus emotionales Erleben. Es muß in seiner eigenen Charakteristik psychologisch aufgedeckt werden. Es darf nicht nur als Wissen, sondern muß auch als Beziehung, als Gerichtetheit verstanden werden“ (S. 223 f.).
Das Bewußtsein, das ebenso wie das Denken vom realen Sein bestimmt wird, also ein Produkt der Entwicklung eines Systems von objektiven Beziehungen ist (S. 27), ist Produkt der Tätigkeit in der gegenständlichen Welt (S. 35). Durch diese Fragestellung habe sich „der Gegenstand der Bewußtseinsforschung vom subjektiven Individuum auf die sozialen Tätigkeitssysteme verlagert, so daß „die Methode der Selbstbeobachtung und der interpretierenden Introspektion, die lange Zeit monopolartig die Bewußtseinsforschung beherrschte, in allen Nähten krachte“ (LEONTJEW 1979, S. 124).
Zu den wesentlichen Thesen über die marxistische Bewußtseinstheorie gehört die Festellung, daß
„die Erklärung der Natur des Bewußtseins in eben jenen Besonderheiten der menschlichen Tätigkeit (liegt, d.V.), die seine Notwendigkeit bewirken: in ihrem objektiv-gegenständlichen, produktiven Charakter. Die Arbeitstätigkeit „gerinnt“ in ihrem Produkt. Es erfolgt, um mit den Worten von MARX zu sprechen, der Übergang der Tätigkeit in seine ruhende Eigenschaft. Dieser Übergang ist ein Prozeß der stofflichen Verkörperung des gegenständlichen Inhalts der Tätigkeit, welcher sich jetzt dem Subjekt präsentiert, das heißt vor ihm als Abbild des wahrgenommenen Gegenstands ersteht“ (LEONTJEW 1979, S. 124).