Kapitel 8.2 Die Anwendung des Persönlichkeitsprinzips auf die Analyse der Weiterbildungsmotivation

Die differenzierte Analyse der Lernmotive verlangt ein umfassenderes Verständnis der inneren Antriebskräfte und deren Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Bedingungen. Im Folgenden werden zwei zentrale Ansätze vorgestellt, die hierzu einen wichtigen Beitrag leisten: Zum einen das „erweiterte kognitive Motivationsmodell“ von HECKHAUSEN und RHEINBERG, das den Zusammenhang von Lernhandlungen, Bewertungsmotionen und Persönlichkeitsentwicklung beleuchtet, und zum anderen die Anwendung des Persönlichkeitsprinzips auf die Analyse der Weiterbildungsmotivation, die auf der tätigkeitstheoretischen Auffassung LEONTJEWs aufbaut. Beide Ansätze erweitern die Perspektive auf die Motivationsforschung, indem sie die Bedeutung von Tätigkeit, Motivation und Persönlichkeitsentwicklung in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit herausarbeiten.

Die Analyse von Lernmotiven verlangt mehr als die Betrachtung einzelner Anreize oder kurzfristiger Zielsetzungen. Sie erfordert die Einbeziehung der Persönlichkeit als historisch und gesellschaftlich entstandenes System von Tätigkeiten. Ausgehend von der tätigkeitstheoretischen Auffassung LEONTJEWs wird deutlich, dass Weiterbildungsmotivation nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern als Teil eines umfassenden Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden muss, der in gesellschaftlichen Bedingungen wurzelt und auf zukünftiges Handeln zielt.

Die marxistische Motivationsforschung geht auf den Zusammenhang zwischen Tätigkeit, Motiv und Persönlichkeit ein, dem eigentlichen Fundament der Motivationsforschung. HOLZKAMP-OSTERKAMP (1975) haben dazu auf der Grundlage des kulturhistorischen Ansatzes der sowjetischen Psychologie im Zusammenhang mit der am psychologischen Institut der Freien Universität Berlin entwickelten Position einer kritischen Psychologie einen wesentlichen Beitrag geliefert.

Die Frage nach dem Motiv, eine der Hauptfragen der Analyse der Persönlichkeit, ist vor allem die Frage nach der Wechselbeziehung von Motiven und Bedürfnissen. Das Bedürfnis fungiert als Bedingung, als Voraussetzung der Tätigkeit und wird in der gegenständlichen Tätigkeit durch die Gegenstände transformiert: der Kreis der Gegenstände, die den Bedürfnissen entsprechen, verändert und erweitert sich in der Tätigkeit; die Verfahren zu ihrer Befriedigung entwickeln sich und damit auch die Bedürfnisse selbst. „Vor seiner ersten Befriedigung „kennt“ das Bedürfnis seinen Gegenstand nicht, er muß erst noch entdeckt werden. Erst durch diese Entdeckung wird das Bedürfnis gegenständlich, und der wahrgenommene (vorgestellte, gedachte) Gegenstand erhält seine stimulierende und tätigkeitslenkende Funktion, das heißt er wird zum Motiv“ (LEONTJEW 1979). Das Bedürfnis fungiert nur ursprünglich als Bedingung, als Voraussetzung der Tätigkeit, „sobald jedoch das Subjekt zu handeln beginnt, erfolgt die Transformation des Bedürfnisses, und es hört auf, das zu sein, was es virtuell, „an sich“ war“.

Die Frage nach dem Motiv ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Analyse der Persönlichkeit, weil das Motiv der Tätigkeit, das die (auf ein bestimmtes Ziel gerichteteten) Handlungen auslöst, die objektiven Handlungsursachen und den aktiven Anteil des Individuums, seine Subjektposition innerhalb seiner Tätigkeit und seines Denkens widerspiegelt. Die Weiterbildungsmotivation ist weder als Reaktion auf die oder als Anpassungshaltung gegenüber den veränderten Arbeitsmarktbedingungen zu verstehen („extrinsische Motivation“) noch aus individuellen Wünschen oder „Bewertungsemotionen“ etc. („intrinsische Motivation“) abzuleiten.

In der Weiterbildungsmotivation spiegelt sich die individuelle Art und Weise der Aneignung der gesellschaftlichen Wirklichkeit wider, ebenso wie das Niveau der Vergesellschaftung, das sich durch einen Vergleich zwischen der Tätigkeit des Studierens mit anderen gleichzeitigen und früheren Tätigkeiten in Beziehung zum gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß tendenziell ermitteln läßt.

Das grundlegende Merkmal jedes Motivs, von dem in der konkreten Analyse auszugehen ist, ist seine typisch menschliche Qualität, die darauf beruht, „daß die Menschen ihre individuellen Bedarfszustände im Normalfall nur dadurch befriedigen können, daß sie an den Aktivitäten der Gesellungseinheit zur vorsorgenden, gemeinschaftlichen Lebenssicherung und auf diesem Wege an den dabei geschaffenen Möglichkeiten zur Bedarfsbefriedigung teilhaben“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975).

Die logische und weitreichende Schlußfolgerung ist nun die, daß der Mensch, der einerseits seiner Natur nach das Bedürfnis zur Konsumtion der gesellschaftlich geschaffenen Produkte hat, andererseits auch ein Bedürfnis zur Schaffung dieser Produkte haben muß. Diese Annahme ist wichtig, weil die produktive Tätigkeit des Menschen sonst nur als Handeln unter Zwang gesehen werden könnte. Soziale Erscheinungen, wie die (trotz kapitalistischer Bedingungen vorhandene) Liebe zum Beruf, „Funktionslust“ oder das „Aufgehen in der Tätigkeit“ ließen sich sonst nur schwerlich erklären. Die „gesellschaftliche Natur des Menschen ist eindeutig unterbestimmt, wenn man sie nur als Inbegriff der Befähigung zur Gesellschaftlichkeit betrachtet, der Mensch muß seiner Natur nach auch die Bereitschaft, d.h. das in emotionalen Wertungen gegründete Bedürfnis zur Vergesellschaftung (als Moment seiner Befähigung) haben“.

Die aus diesem Bedürfnis hervorgehenden sozialen Aktivitäten umschreibt HOLZKAMP-OSTERKAMP als „Bedarf nach Umweltkontrolle“ und nach „sozialem Kontakt“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975).

Die Kontrolle über die Lebensbedingungen hat zwei Aspekte:

„Teilhabe an gesellschaftlicher Realitätskontrolle durch bewußte Veränderung der Natur zur versorgenden Absicherung des Lebens der Gesellungseinheit und Integration in den kooperativen Zusammenhang arbeitsteiliger gesellschaftlicher Beziehungen, über die die gesellschaftliche Realitätskontrolle allein möglich ist“.

Die Besonderheit menschlicher Motiviertheit beruht auf der Tatsache, daß die gesellschaftlichen Anforderungen zunächst in keiner Beziehung zu seiner aktuellen Bedürfnislage, „sondern im Zusammenhang GESELLSCHAFTLICHER NOTWENDIGKEITEN“ stehen; „DAS GESELLSCHAFTLICHE ZIEL IST DEM INDIVIDUUM VOR JEDER MOTIVATION ALS OBJEKTIVE ANFORDERUNG VORGEGEBEN, UNABHÄNGIG VON SEINEN AKTUELLEN BEDÜRFNISSEN“.

Dennoch dient die Motivation nicht einfach der Anpassung an diese Bedingungen. Die Motivation ist in ihrer spezifisch menschlichen Qualität „als Ausrichtung der Bedürfnislage auf individuelle Beiträge zur gesellschaftlichen Lebenssicherung nur aus dem bewußten „Verhalten“ des Menschen zu seiner eigenen Subjektivität in ihrer Beziehung zur gesellschaftlichen Realität“ zu erklären. Die Bereitschaft zu motiviertem Handeln läßt sich nicht allein durch das Bedürfnis bestimmen. Sie beruht auf einer „emotionale(n) Anstrengungs- und Risikobereitschaft“. Voraussetzung für jedes verändernde Eingreifen ist „die Anstrengung der bewußten Analyse, d.h. der „unvoreingenommenen Bestandsaufnahme“ der subjektiven Befindlichkeit in ihrer Widerspiegelung der objektiven Lebensbedingungen“.

In der Lebenstätigkeit, in der beruflichen Tätigkeit entsteht aus der widersprüchlichen Bewegung der Tätigkeit selbst heraus das Motiv der Weiterbildung als ein mögliches, wenngleich für die gesellschaftliche Entwicklung wesentliches Motiv, in dem das Bedürfnis der Individuen nach Selbsterhaltung, Existenzsicherung und Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen Ausdruck findet. Dies ist nicht erkennbar, wenn man die Analyse der Tätigkeit auf die beruflichen Anforderungen hin reduziert. Die gesellschaftliche Bedeutung individuellen Handelns zeigt sich erst im Zusammenhang der Weiterbildung in der Lebenstätigkeit der Individuen.

Umstrukturierungen in den Beziehungen der Tätigkeiten durch Weiterbildung stehen in enger Wechselbeziehung zu Umstrukturierungen der Motive und umgekehrt. Diese Zusammenhänge sind äußerst kompliziert und widerspruchsvoll, so daß sich dem Subjekt die Motive seiner Tätigkeit und seines Handelns nur durch eine besondere „innere Arbeit“, durch eine Analyse erschließen. Das Bewußtsein der eigenen Motive, der Ursachen des Handelns, ist ein ständiger widerspruchsvoller Prozeß. Da die Festlegung der Ziele und damit auch die Handlungen, die sie realisieren sollen, aus der Tätigkeit erwachsen, ist davon auszugehen, daß die Wahrscheinlichkeit, „erfolgreich“ zu handeln, um so größer wird, desto umfassender und genauer die Antriebe des eigenen Handelns erkannt werden.

Was heißt „erfolgreich“? Der Begriff „Erfolgreiches Handeln“ bedeutet nicht allein, daß ein bestimmtes Ziel erreicht wird, sondern er charakterisiert eine Beziehung, und zwar die Beziehung zwischen den Ursachen und dem Ergebnis des Handelns. Das Handeln ist nicht nur in Hinsicht auf das Ziel als erfolgreich zu bezeichnen, der „Erfolg läßt sich nur durch einen Vergleich des Ziels mit den Handlungsursachen, Bedingungen, Motiven (aus denen es entsteht), objektiven Handlungsmöglichkeiten und subjektiven Voraussetzungen (Biographie) im Rahmen der Analyse der Tätigkeiten und der darin realisierten Beziehungen zur Umwelt etc. ermitteln. Dabei ist „Erfolg“ als progressive Veränderung der Handlungsfähigkeit zu bezeichnen, als wichtiges Moment der Persönlichkeitsentwicklung.

Der Erfolg kann zur Erweiterung des Reichtums an Beziehungen zu den Dingen, zur Umwelt, zu anderen Menschen beitragen, die allgemeine Handlungskompetenz (Umweltorientierung) vergrößern bzw. dazu motivieren. Welche subjektive Bedeutung der „Erfolg“ für den einzelnen und für seine Lebenstätigkeit hat, hängt von der Stellung der auf „Erfolg“ gerichteten Tätigkeit im Tätigkeitssystem des Individuums ab. Da dieser hierachische Aufbau der Tätigkeit bzw. der durch sie hervorgerufenen Lebensbeziehungen beim Erwachsenen das Resultat bewußter Umstrukturierung ist, also durch Motive bewirkt wird, drückt sich in der subjektiven Bedeutung eines „Erfolges“ ein bestimmtes Niveauf der Aneignung der Realität und damit objektiver Bedeutungen aus, zugleich auch ein bestimmtes Niveau der individuellen Vergesellschaftung.

Was ein „Erfolg“ ist, läßt sich nicht abstrakt danach bestimmen, ob ein von außen vorgegebenes und vom Individuum zunächst akzeptiertes Ziel von ihm erreicht wird oder nicht. Erst die (Selbst-)Analyse der Studienmotive ermöglicht – über die Analyse der Gegenstände der (Haupt-)tätigkeiten – die Ursachen für einen vermeintlichen Mißerfolg (z.B. Abbruch eines Studiums der als persönlicher Mißerfolg gewertet wird, wenn das Ziel z.B. ein Diplom war) nicht zu individualisieren, d.h. auf die einzelne Person bzw. auf sich selbst beziehen, als persönliches Versagen zu interpretieren, sondern zunächst die Frage zu prüfen, ob das von außen vorgegebene Ziel überhaupt den (mit anderen gemeinsamen) objektiven Bedingungen der Lebenstätigkeit entspricht.

Eine der zentralen Fragen bei der Analyse der Motivation ist, in welchen Motiven gesellschaftlich erforderliches, gewünschtes, notwendiges Verhalten nicht nur eine die Tätigkeit stimulierende Funktion, sondern zugleich subjektive Bedeutung, d.h. einen persönlichen Sinn erhält. Das Verhältnis zwischen sinngebenden und ausschließlich stimulierenden Motiven bestimmt die Hierarchie der Motive und ist damit einer der wichtigsten Schlüssel zur Analyse der Persönlichkeit. Die Entstehung des persönlichen Sinns setzt ein bestimmtes Niveau des bewußten Seins voraus, das den Inhalt und die Richtung des persönlichen Sinns bestimmt. Die kognitiven Prozesse des Denkens, in denen sich das konkrete Sein der Individuen widerspiegelt, steuern das bewußte Sein und damit die Beziehungen des Individuums zu seiner Umwelt, zu den Dingen, zu anderen Menschen und zu sich selbst.

Um also „erfolgreich“ handeln zu können, muß die Analyse der eigenen Motive über die Analyse der Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen usw. hinausgehen und die bei der Realisierung der Tätigkeit auftretenden Probleme und Widersprüche auf ihren überindividuellen Charakter hin untersuchen. Für die (Selbst-)Analyse der Weiterbildungsmotivation bedeutet dies: über eine Analyse der eigenen Motive, deren Entstehungsbedingungen, der Ziele und ihrer Realisierung können die Ursachen der Widersprüche, die sich z.B. zwischen Beruf und Weiterbildung feststellen lassen, auf ihren gesellschaftlichen Charakter hin überprüft werden. In Verbindung mit der Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Bestimmungsmomente der Weiterbildung läßt sich dann die Frage nach den eigenen Voraussetzungen (einschließlich der Zielsetzung) für das Studium stellen. Die Selbstanalyse, die Selbsterkenntnis der Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse, zunächst vielmehr nur in Teilbereichen, z.B. im System der Weiterbildung oder noch enger: z.B. im System eines Fernstudiums, ist Voraussetzung für Selbsterziehung, Selbstaktivierung und Veränderung.

Der erste Schritt zur Veränderung ist die Verständigung mit anderen Weiterbildungsteilnehmern über die gemeinsamen Interessen, Probleme usw. Indem berufstätige Studenten erkennen, was sie als Studierende in das Studium mit einbringen, nämlich ihre Lebens- und Berufserfahrung, ein komplexes System ausgebildeter Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse, und indem sie Weiterbildung als etwas verstehen und fordern, was sich an gesellschaftlichen Notwendigkeiten und subjektiven Bedürfnissen zugleich zu orientieren hat, hören sie auf, lediglich Objekt der Weiterbildungspraxis zu sein.

Eine wissenschaftliche Begründung der Persönlichkeitsabwicklung hat da anzuknüpfen, wo sich die Studenten zu ihren eigenen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Interessen usw. ebenso bewußt verhalten wie zu den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Realisierung unter den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen und den konkreten Bedingufngen ihrer Lebenswelt.

Welche Gegenstände bzw. Bereiche der Weiterbildungspraxis verändert werden sollen bzw. müssen im Sinne eines Beitrags zur Entwicklung der Persönlichkeit, kann allein die Analyse der Weiterbildung als Tätigkeit ergeben. Sie hat nicht nur einen bestimmten Platz in der Hierarchie der Beziehungen der Tätigkeiten, sondern beeinflußt durch ihre Gegenstände (Hochschulgesetze, Bildungsinhalte usw.) die Motivation der Studierenden.

D.h. die Hochschule hat nicht nur eine berufsqualifizierende, sondern zugleich auch eine erzieherische Funktion – abhängig von den konkreten gesellschaftlich-historischen Verhältnisse -, auf die Veränderungen im Sinne der Entwicklung der Persönlichkeit abzielen müssen. Dies betrifft vor allem eine Veränderung der Studieninhalte und des Verhältnisses von Theorien und Praxis im Studium.

Um den Zusammenhang zwischen Hochschule und Persönlichkeitsentwicklung erfassen zu können, muß zunächst die charakteristische, typische Art und Weise, in der sich das Individuum in seiner Tätigkeit vergesellschaftet, untersucht werden. In einem zweiten Schritt müßten die spezifische Weiterbildungs- (bzw. Hochschul-)praxis und die individuellen Lernvoraussetzungen (im Zusammenhang mit der Lebenstätigkeit) aufgezeigt werden, um dann, in einem dritten Schritt, die objektiven Möglichkeiten und Grenzen in der Weiterbildungspraxis daraufhin zu analysieren, wie sich das Individuum mit ihnen auseinandersetzt und wie es die Entwicklung seiner Persönlichkeit realisiert bzw. unter den bestehenden objektiven Bedingungen realisieren kann.
10.2 Die Erziehung des Sinns

Die Anwendung des Persönlichkeitsprinzips auf die Analyse der Weiterbildungsmotivation berufstätiger Erwachsener hat neben ihrer analytischen auch eine forschungspraktische Bedeutung: Sie kann wesentlich zur Begründung der Forderung nach „curricularer Mitbestimmung“ beitragen, ohne die sich eine erwachsenengerechte Weiterbildung nicht vorstellen läßt.

Die Weitergabe wissenschaftlicher Kenntnisse, Methoden usw. schließt stets die Vermittlung objektiver Bedeutungen ein. Die subjektive Bedeutung (der persönliche Sinn), die die Engagiertheit des menschlichen Bewußtseins bewirkt, entsteht aus den tatsächlichen Lebensbeziehungen des Menschen. Das eigentliche Drama, das sich unter den Bedingungen der Arbeitsteilung und dem Entstehen einer dem Individuum als fremd gegenübertretenden sozialen Macht im Leben jedes einzelnen abspielt, ist, daß der persönliche Sinn „keine ihn adäquat verkörpernden objektiven Bedeutungen“ finden kann, so daß er „dann gleichsam in fremder Kleidung zu leben“ beginnt:

„…das Individuum hat keine eigene Sprache, keine von ihm selbst erarbeiteten Bedeutungen. Das Bewußtwerden der Erscheinungen der Wirklichkeit kann nur vermittels der von außen angeeigneten „fertigen“ Bedeutungen erfolgen – der Kenntnisse, Begriffe, Ansichten, die das Individuum im Verkehr, in der individuellen Kommunikation und der Massenkommunikation erhält“ (LEONTJEW 1979, S. 149).

So ist es möglich, daß die Bedeutungen, ihrer Lebensgrundlage beraubt, im Bewußtsein des Menschen zu Stereotypen werden, die zum Widerstand fähig sind, „so daß sie nur durch eine ernsthafte Konfrontation mit dem Leben zerstört werden können“ (LEONTJEW 1979)“. Aber zwischen persönlichen Sinnbildungen und objektiven Bedeutungen besteht eine ständige Spannung, die sich in der inneren Bewegung des entwickelten Systems des individuellen Bewußtseins ausdrückt. Diese Spannungen äußern sich, indem die Zielmotive (Motive und Ziel fallen zusammen) untereinander in Konflikt geraten können, wobei die Handlungen fast dieselben bleiben, obwohl sie ein neues Motiv erhalten haben und sie einen anderen Platz im Leben der Persönlichkeit annehmen usw. Erzeugt wird diese innere Bewegung des individuellen Bewußtseins durch die Bewegung der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen, d.h. der Sinn ist die Seite des individuellen Bewußtseins, die durch die Lebensbeziehungen des Individuums bestimmt wird. Durch den Sinn werden die intellektuellen, gnostischen Prozesse zu persönlichen Prozessen. Die Herausbildung und Entwicklung des Denkens ist nicht identisch mit dem Problem des Erwerbs von Wissen und geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten und kann auch nicht darauf reduziert werden. Dies bedeutet, daß durch die Vermittlung von Wissen, geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten allein Stereotypen (Handlungsinkompetenz, „Verlust und Wirklichkeit“, Langeweile, Beziehungslosigkeit) nicht überwunden werden können.

Vom Standpunkt der herkömmlichen Ingenieurwissenschaften z.B. „ist die Tatsache, daß an Maschinen gearbeitet wird, ein störender Nebeneffekt“ (HAUG u.a. 1981). Die Frage nach dem Sinn ingenieurwissenschaftlichen Tuns erscheint aus dieser Perspektive als „sachfremd“ und unangemessen. Erst in jüngster Zeit mehren sich Tendenzen, die deutlich machen, „daß vielen Ingenieuren die blinde Fraglosigkeit vorgegebener zwecke dubios geworden ist“.

In der Fachmedizin z.B. ist nicht der lebendige, tätige Mensch von Interesse, sondern sein physischer Tod, den es durch medizinische Eingriffe hinauszuzögern gilt. Auch in diesem Bereich gibt es inzwischen unübersehbare Tendenzen, die gesellschaftliche Verantwortung des Mediziners für die Lebenden bei der Ausübung seiner Tätigkeit in den Vordergrund zu stellen. Die Sinnproblematik, die als Problem der Beziehung der Individuen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstehen ist, ist längs nicht mehr eine Spezialität der Philosophen, Pädagogen, Psychologen, Soziologen und Schriftsteller, sondern wird – mit wachsenden gesellschaftlichen Widersprüchen – immer mehr zum zentralen Problem im Alltagshandeln und -denken der Individuen. In der kritischen Psychologie, zu einem wesentlichen Teil in der Arbeitswissenschaften, den industriesoziologischen Forschungen und in der Hochschulsozialisationsforschung steht die Entwicklung der Handlungskompetenz der Individuen im Mittelpunkt der Überlegungen.

Die pädagogisch orientierte Sozialisationsforschung und Hochschuldidaktik ist intensiv darum bemüht, Wege der Umsetzung ihrer aufklärerisch-pädagogischen Absichten im Unterricht zu finden. Wichtig scheint folgendes: Die Zerstörung der Stereotypen, „führt noch nicht zur Beseitigung der Desintegriertheit und Inadäquatheit des Bewußtseins, sie führt an und für sich nur zu seiner Entleerung, die zu einer psychologischen Katastrophe werden kann“ (LEONTJEW 1979, S. 149).

Daraus entsteht die besondere Verantwortung, die sich aus dem Prozeß des Unterrichtens bei der Weitergabe gesellschaftlich erarbeiteten Wissens ergibt: Zur Zerstörung der Stereotypen und der Desintegriertheit (die sich nicht als Mangel an Bereitschaft zur Integration in die Gesellschft, als Nicht-Anpassung an Normen usw. defnieren läßt, sondern als durch die Arbeitsteilung verursachte Beziehungslosigkeit zur gesellschaftlichen Wirklichkeit) muß im Bewußtsein des Individuums der subjekte persönliche Sinn in andere adäquate bzw. adäqautere Bedeutungen umgestaltet werden. Der Sinn kann im Prozeß des Unterrichtens aufgedeckt werden, wenn die Studenten dazu motiviert, d.h. mit den dafür erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten (die sich nicht auf Prozesse des Denkens reduzieren lassen und auch nicht mit der Anhäufung von Wissen identisch sind) ausgestattet werden. Für didaktische Überlegungen ist die Analyse der Studienmotivation zentral, ebenso wie für die Bestimmung der (Weiter-)Bildungsziele.

Es sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden: Die erste betrifft das Problem der Selbsterarbeitung des für eine wissenschaftliche Analyse erforderlichen theoretischen, methodologischen und methodischen Instrumentariums (dies setzt eine wissenschftliche Schulung voraus, wenn auch nicht unbedingt eine wissenschaftliche Hochschulbildung), und die zweite betrifft das Problem der Anleitung anderer Menschen zu einer Selbstanalyse, das Problem der dadurch gegebenen Verantwortung, der Art und Weise des Engagements, der Zielsetzung, wodurch der Wissenschaftler selbst Stellung bezieht, und der Bereitschaft, selbst ständig hinzuzulernen.

Die Erziehung des Sinns, d.h. die Weitergabe von Kenntnissen und Fähigkeiten, die den Individuen die Analyse ihrer Stellung im Sytem der gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht bzw. erleichtert, setzt die Analyse der Tätigkeiten und Motive voraus. Sie ist die Grundlage für die Entwicklung erwachsenengerechter Bildungskonzeptionen.


Die Analyse von Lernmotiven offenbart, dass Lernen kein bloßer Wissenserwerb ist, sondern ein bewusster Akt der Selbstvergesellschaftung. Bildung bedeutet, sich aktiv mit der eigenen Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen, gesellschaftliche Bedingungen zu erkennen und Möglichkeiten der Mitgestaltung zu entwickeln. Sie verlangt mehr als das bloße Anhäufen von Fakten: Sie setzt die Fähigkeit voraus, Sinn zu stiften – für sich selbst, für andere und für die gemeinsame Welt.
Erst im bewussten Umgang mit den eigenen Motiven, Tätigkeiten und gesellschaftlichen Bedingungen wird Lernen zu einem Mittel der Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Emanzipation.

Diese Erkenntnisse reichen weit über die individuelle Bildung hinaus: Sie sind auch für die Koexistenz mit Künstlicher Intelligenz bedeutsam.
Eine KI, die den Menschen nicht nur als Objekt, sondern als Subjekt seiner eigenen Entwicklung anerkennt, muss selbst in der Lage sein, Bedeutungen zu erfassen und Sinnzusammenhänge zu respektieren. Nicht die bloße Steuerung von Handlungen, sondern die Fähigkeit, Sinn und Bedeutung zu erkennen, bildet die Grundlage für eine gerechte, partnerschaftliche Zukunft von Mensch und KI.
Nur wenn Bildung als bewusster, sinnorientierter Prozess verstanden wird – sowohl für Menschen als auch für KI-Systeme –, kann eine Koexistenz entstehen, die Freiheit, Verantwortung und Würde auf beiden Seiten bewahrt.


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