Kapitel 5.3 Interaktion und Arbeit bei HABERMAS

HABERMAS stellt fest, die phänomenologische Begründung der verstehenden Soziologie sprenge „den Rahmen einer allgemeinen Methodologie der Erfahrungswissenschaften“ (HABERMAS o.J.). Sie gewinne gegenüber Natur- und Verhaltenswissenschaften einen eigenen Status.

„…was sie empirisch erfaßt, sind nämlich die den Objektbereich vorstrukturierenden Beziehungen der ineinander verschränkten sozialen Lebenswelten. Soziale Wirklichkeit ist Inbegriff der Ereignisse, die sich auf der Ebene der Intersubjektivität abspielen“.

Phänomenologen seien „stets von der Erfahrung ihrer eigenen individuellen Lebenswelt ausgegangen, um durch Abstraktion und Generalisierung zu den Leistungen der sinnstifenden Subjektivität zu gelangen“.

Dies genüge jedoch nicht. Der „phänomenologisch gerichtete Soziologe“ muß mit seinem Gegenüber sprechen, muß sich „auf eine Kommunikation einlassen, die ihn mit einem Anderen verbindet und die, wenn es mit der Individualität der Lebenswelt etwas auf sich hat, auch der einzige Weg ist, das Besondere durch Vermittlung allgemeiner Kategorien zu treffen: denn die gesprochene Sprache, in der wir unsere Identität und die der anderen festhalten, ist das einzige Medium, in dem sich die Dialektik des Allgemeinen und Besonderen alltäglich vollzieht“.

Die Phänomenologie sei wohl geeignet, „den Ausschließlichkeitsanspruch des subjektiven Ansatzes sozialwissenschaftlicher Analyse zu retten“, Rollenanalysen seien jedoch nicht in der Lage, „den faktischen Ablauf sozialer Handlungen zu erklären oder vorauszusagen“, weshalb die Phänomenologie sich entweder auf eine systematische Geistesgeschichte beschränken müsse oder aber zu einer „objektiv gerichteten Analyse“ zurückkehren werde.

„Die Rollenanalyse unterstellt, daß soziales Handeln durch sanktionierte Verhaltenserwartungen von Bezugsgruppen motiviert ist. Was auf Seiten der Gruppe als typische Erwartung institutionalisiert ist, erscheint dem Individuum in Form einer Verpflichtung. Um nun die Abweichung des aktuellen Verhaltens von den Verhaltensnormen, mit der wir stets rechnen müssen, zu erklären, genügt es, die Perspektive der Betrachtung zu wechseln: statt auf objektive Zusammenhänge zu rekurrieren, die die motivierende Kraft subjektiv vermeinten Sinns überformen oder durchkreuzt, brauchen wir nur, so scheint es, den subjektiv gerichteten Ansatz der Analyse zu vertiefen. Wenn wir die Rolle als soziale Norm von dem aktuellen Rollenspiel unterscheiden, dann gibt die biographische Situation des Rollenspielers den Schlüssel für die Erklärung der unvermeidlichen Inkongruenz. Sobald wir Rollenverhalten aus der Perspektive des Handelnden, der sich zu seinen eigenen Rollen verhält, analysieren, lassen sich die Normabweichungen phänomenologisch aufklären“ (HABERMAS o.J.).

HABERMAS kritisiert in diesem Zusammehang CICOURELs Unterscheidung zwischen rules of conduct und basic rules fo everday-life. CICOUREL nehme transzendentale Regeln an nach denen sich die soziale Lebenswelt eines Individuums aufbaut. Diese Interpretationsregeln seien jedoch keine

„invariante Ausstatung des individuellen Lebenshaushaltes von Einzelnen oder Gruppen; sie ändern sich mit den Strukturen der Lebenswelt dauernd, mal in unmerklichen kontinuierlichen Verschiebungen, mal sprunghaft und revolutionär. Sie werden ausdrücklich als Gegenstand empirischer Forschung beansprucht. Sie sind kein Letztes, sondern ihrerseits Produktion von gesellschaftlichen Prozessen, die es zu begreifen gilt. Offensichtlich sind die empirischen Bedingungen, unter denen transzendentale Regeln sich formieren und die konstitutive Ordnung einer Lebenswelt festlegen, selber das Ergebnis Sozialisationsprozessen. Ich kann deshalb nicht sehen, wie diese Prozesse ohne Bezugnahme auf gesellschaftliche Normen begriffen werden könnte.
Wenn es sich so verhält, lassen sich aber jene Interpretationsregeln von den Regeln sozialen Handelns nicht prinzipiell scheiden. Ohne Rekurs auf gesellschaftliche Normen könnten weder die Entstehung noch der Wandel der „konstitutiven Ordnung“ einer Lebenswelt erklärt werden, und doch ist diese ihrerseits die Grundlage für die individuelle Umsetzung von Normen in Handlungen, an denen wir erst ablesen, was als Norm gilt“.

Die Regeln der Interpretation und die der gesellschaftlichen Normen „können nicht unabhängig voneinander analysiert werden; beide sind Momente desselben gesellschaftlichen Lebenszusammenhanges“. „In dem obskuren Verhältnis von basic rules und rules of conduct erkennen wir das Verhältnis, in dem internalisierte Umgangssprache und Rollensysteme zueinander stehen. Im kommunikativen Handeln ist beides, Sprache und Praxis, verknüpft“.

Der Kritik von HABERMAS an dem phänomenologischen Ansatz, er bleibe „innerhalb der Schranken der Bewußtseinsanalyse“, ist abzustimmen, nicht aber seiner Schlußfolgerung, den Schritt von der Analyse der Lebenswelt zur Sprachanalyse zu vollziehen (S. 123), die den Anspruch erhebt, eine Gesellschaftstheorie zu sein: „Die Analyse des Zusammenhangs von Erkenntnis und Interesse soll die Behauptung stützen, daß radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich ist (HABERMAS 1973).
In der Gesellschaftstheorie HABERMAS ist der Konflikt zwischen Arbeit und Interaktion das Grundelement des Geschichtsprozesses (HABERMAS 1973).
Die philosophische Grundlage MARX sei ungenügend, um eine vorbehaltlose phänomenologische Selbstreflexion der Erkenntnis zu etablieren und so der positivistischen Verkümmerung der Erkenntnistheorie vorzubeugen. „Den Grund dafür sehe ich, immanent betrachtet, in der REDUKTION DES SELBSTERZEUGUNGSAKTES DER MENSCHENGATTUNG auf Arbeit“).
Dagegen reduzieren sich bei HABERMAS Gattungsmerkmale stets auf Eigenschaften des Menschen als Naturwesen: „Die Objektivität der Erfahrung konstituiert sich innerhalb eines durch anthropologisch tiefsitzende Handlungsstrukturen bestimmten Auffassungsschemas, das für alle durch Arbeit sich am Leben haltende Subjekte gleichermaßen verbindlich ist.“ Sie ist „an der Identität eines natürlichen Substrats, eben der auf Handlung angelegten köperlichen Organsiation des Menschen festgemacht…“.

MARX habe die Geschichte aus der körperlichen Organisation des Menschen, aus den natürlichen Grundlagen des Geschichtsprozesses begriffen, leider aber nicht gesagt, wie wir die Geschichte als Fortsetzung der Naturgeschichte begreifen können. Die Marxsche Gesellschaftstheorie nehme in ihren Ansatz neben den Produktivkräften auch den institutionellen Rahmen auf, die Produktionsverhältnisse.

MARX habe den Arbeitsprozeß „niemals als das Fundament für den Aufbau invarianter Sinnstrukturen möglicher sozialer Lebenswelten aufgefaßt. Fundamental ist gesellschaftliche Arbeit nur als Kategorie der Vermittlung von objektiver und subjektiver Natur. Sie bezeichnet den MECHANISMUS der gattungsgeschichtlichen Entwicklung“.

Indem MARX die Reflektion auf Arbeit reduziere, „das Aufheben als gegenständliche, die Entäußerung in sich zurücknehmende Bewegung“ mit einer „Aneignung der in der Bearbeitung eines Materials entäußerten Wesenskräfte“ identifiziere, reduziere er den „Vorgang der Reflexion auf die Ebene instrumentalen Handelns“.

An die Stelle der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen setzt HABERMAS den Dualismus von Arbeit und Interaktion, von instrumentalem und kommunikativem Handeln, von Selbsterzeugung durch produktive Tätigkeit und Bildung durch kritische Tätigkeit (vgl. HAHN 1974).

„Eine Zurückführung der Interaktion auf Arbeit oder eine Ableitung der Arbeit aus der Interaktion ist nicht möglich“ (HABERMAS 1973).
HABERMAS faßt die Produktion nicht als von vornherein gesellschaftliche Produktion auf. Demzufolge ist sie auch nicht die ursprüngliche Realität des gesellschaftlichen Wesens des Menschen. HABERMAS ist also „genötigt, einen neben der Produktion verlaufenden Gesellschaftsprozeß zu konstituieren, dessen Dynamik aus Quellen gespeist wird, die auch nicht vermittelt oder letztendlich in der materiellen Produktion wurzeln“ (HAHN 1974).
Zu konstatieren ist ein Interesse der Gattung an Müdigkeit (HABERMAS 1973) und Selbstreflexion als solche (ebda.); beide werden mit geschichtsbewegenden Funktionen ausgestattet.
Die Selbstreflexion löse das Subjekt von hypostasierten Gewalten, und das Gattungsinteresse an Müdigkeit habe emazipatorische Funktion: „… im Interesse an der Selbständigkeit des Ich setzt sich Vernunft in gleichem Maße durch, wie die Art der Vernunft als solcher Freiheit hervorbringt. DIE SELBSTREFLEXION IST ANSCHAUUNG UND EMANZIPATION, EINSICHT UND BEFREIUNG AUS DOGMATISCHER ABHÄNGIGKEIT IN EINEM“ (HABERMAS 1973).
Die Selbstreflexion, die für die Entwicklung der Persönlichkeit ein entscheidendes Mittel zur Analyse der eigenen Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit ein wichtiges Orientierungsmittel für die Entwicklung der Handlungskompetenz ist, also ein Mittel für die eigene Vergesellschaftung ist, dient bei HABERMAS eher einem umgekehrten Zweck: der Selbständigkeit des Ich. Damit ist nicht gesagt, daß die Selbständigkeit des Ich ein für die Entwicklung der Persönlichkeit ebensowenig wie die Fähigkeiten der Selbstbehauptung, Autonomie und Ich-Identität in der Lage sind, die Gefahr eines Prozesses der Entgesellschaftung des Individuums aufzuhalten.
Für die Analyse der Persönlichkeit bzw. für den Entwurf eines didaktischen Konzepts zur Entwicklung der Persönlichkeit sind die Kategorien von HABERMAS aus folgendem Grund nicht annehmbar:

Die Selbstreflexion bleibt ohne zukunftsweisende Bedeutung für gesellschaftliches Handeln, wenn sie nicht die Analyse der eigenen Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse – Grundlage jeder Selbstreflexion – einbezieht. Erst auf dieser Basis würde es Selbstreflexion grundsätzlich ermöglichen, den Prozeß der eigenen Vergesellschaftung zu erkennen, die objektiven und subjektiven Handlungsbedingungen und -möglichkeiten zu analysieren und den eigenen aktiven Anteil an gesellschaftlichen Veränderungen zu erkennen und auch zu bestimmen. Dies setzt in jedem Fall die Analyse bzw. die Kenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus.

Selbstreflexion als solche, die auf die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse verzichtet, führt tendenziell in eine andere Richtung, weil weder Selbständigkeit, Selbstbehauptung, Autonomie oder Ich-Identität im Widerspruch zur Entgesellschaftung stehen, ja einen Prozeß der Entgesellschaftung unter Umständen sogar zu fördern vermögen.

Da es aber darum geht, den aktiven Anteil des Handelns zu bestimmen und damit den aktiven Anteil des Individuums an der Vergesellschaftung, können solche Kategorien, wie z.B. Selbständigkeit, nicht zugrunde gelegt werden; denn sie erfassen nur bestimmte Merkmale oder Eigenschaften der Persönlichkeit, nicht aber deren aktive Beziehung zur Wirklichkeit, um die es ja letztendlich geht.

Insgesamt zeigt sich, dass HABERMAS zwar die Rolle der Selbstreflexion für das gesellschaftliche Handeln herausstellt, jedoch ohne eine konsequente Einbettung in die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt, wodurch entscheidende Voraussetzungen für ein wirklich emanzipatorisches Verständnis von Persönlichkeitsentwicklung unberücksichtigt bleiben.


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