Kapitel 5.4 Gesellschaftliches Handeln als spezifisch menschliche Qualität des sozialen Handelns

Nachdem wir gesehen haben, dass sowohl phänomenologische als auch interaktionistische Ansätze die gesellschaftlichen Grundlagen individuellen Handelns nur unzureichend erfassen, wenden wir uns nun der marxistischen Auffassung zu, die das gesellschaftliche Handeln als spezifisch menschliche Qualität des sozialen Handelns begreift.

MATTHES und SCHÜTZE weisen darauf hin, daß Überlegungen zum „Wirkungskreislauf zwischen gesellschaftlichen Ereignissen einschließlich ihrer sozial-strukturellen Verankerung, dem Wissen über gesellschaftliche Ereignisse und den von diesem Wissen orientierten Handlungen, die wiederum neue gesellschaftliche Erzeugnisse erzeugen“ (MATTHES/SCHÜTZE 1973, S. 15) in der klassischen Soziologie thematisiert worden sind. Es werden in einem Zusammenhang die Namen von Karl MARX, Emile DURKHEIM, Max WEBER, William J. THOMAS, George Herbert MEAD, Alfred SCHÜTZ, Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN genannt, die auf Vorarbeiten der anderen aufbauend.

„eine systematische Fassung des Wirungskreislauf-Phänomens und seiner grundlagentheoretschen Beziehungen versucht“ haben, „indem sie ihre Überlegungen mit der Annahme einer Dialektik zwischen der Entäußerung, Versachlichung und Verinnerlichung (insbesondere Sozialisation) sozialer Aktivitäten im Medium interaktonsbezogene und interaktionsgeschöpften Wissens beginnen“ (S. 15).

Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, daß zwischen MARX und den anderen Autoren Übereinstimmung besteht hinsichtlich der im Konzept der Interaktion vollzogen Identifikation zwischen sozialem Handeln und gesellschaftlichem Handeln.
Das gesellschaftliche Handeln aber ist in der marxistischen Auffassung die spezifisch menschliche Qualität des sozialen Handelns, im Unterschied zum sozialen Verhalten der Tiere.

        Sehr schöne graue und schwarz-
        gelbe Schäferhundwelpen m. Pa-
        pieren aus liebev. Hobbyzucht,
        kräftig, gesund und gepflegt, be-
        stens sozialisiert (WR 13.10.82)

Ausgangspunkt der Analyse sind in der marxistischen Forschung nicht die sozialen Beziehungen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die sozialen Beziehungen und Verhaltensweisen erst als menschliche charakterisieren können. Die menschheitsgeschichtlich entscheidende Bedeutung der Entstehung gesellschaftlicher Verhältnisse aus den sozialen Beziehungen anderer Lebewesen heraus, entstanden aufgrund der Tatsache, daß die Menschen damit begannen, Werkzeuge herzustellen, ist der Kernpunkt der philosophischen Überlegungen von MARX und ENGELS.

Die Grundannahme des historisch-dialektischen Materialismus, daß die die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen eine neue Qualität gegenüber der biologisch-naturgeschichtlichen Entwicklung von Organismen ist, ist, wie HOLZKAMP-OSTERKAMP hervorhebt, keine Selbstverständlichkeit innerhalb der Human- und Biowissenschaften. Jedoch zeige sich, daß sich rezeptorische Lernfähigkeit und Erfassung von Signalverbindungen, motorische Lernfähigkeit durch Erfolgsrückmeldung und Antizipation des Handlungsergebnisses, Willkürbewegungen und Handlungskontrolle, Neugier- und Explorationsverhalten, individuelle Entwicklungsfähigkeit, soziale Funktionsteilung, Strukturierung von Sozietäten nach Führungsverhältnissen und Dominanz, Individuation, Familienbildung, Jungenaufzucht und soziale Absicherung von individuellen Entwicklungsprozessen, Soziabilität, soziale Weitergabe mit Nachahmung, Beobachtungslernen und „Kooperation“ bis zur Traditionsbildung etc. sich sowohl als tierische Verhaltensmöglichkeiten kennzeichnen als sich auf auf den Menschen anwenden lassen.
Ausgehend von der Überlegung, „daß die biologischen Entwicklungsgesetze die Spezifik der historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Menschen nicht erklären können“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975 I, S. 230), entsteht die Frage, auf welcher Grundlage „der biologische Prozeß mit der zwingendsten Notwendigkeit in den gesellschaftlichen Prozeß umgeschlagen ist, also die biologische zur gesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeit wurde“ (S. 232).

Anders als in der Sozialisationsforschung üblich, müssen die „sozialen“ von den „gesellschaftlichen“ Entwicklungsbedingungen abgegrenzt werden, um die Spezifik des menschlichen Entwicklungsprozesses im Unterschied zur tierischen artspezifisch geprägten individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit adäquat charakterisieren zu können. Aus der Erkenntnis, daß die höchsten tierischen Stufen nur als soziale Lebensformen erreichbar waren, und „daß auch das Einzeltier erst DURCH SEINE INDIVIDUELLE ENTWICKLUNG IN DEN SOZIALEN VERBAND HINEIN SEINE VOLLE ARTSPEZIFISCHE AUSGESTALTUNG GEWINNT“ (S. 305), läßt sich schließen, „…daß in solchen Vorgängen der individuellen „Sozialisation“ und damit zusammenhängender Individuation die Spezifik der individuellen Entwicklung des Menschen NICHT liegen kann“ (S. 305).

„Der individuelle Mensch entwickelt sich nicht lediglich in einem sozialen Verband, sondern … in eine durch Arbeit entstandene und getragene GEGENSTÄNDLICHE GESELLSCHAFTLICHE WIRKLICHKEIT hinein, in welcher die Menschen bei der produktiven Veränderung der Natur gleichzeitig bestimmte Produktionsverhältnisse miteinander eingehen und die gesetzmäßig sich wandelnden Produktionsweisen auf der Grundlage der gesellschaftlichen Erfahrungskumulation gegenüber der phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklung einen ENTWICKLUNGSPROZEß SUI GENERIS, den gesellschaftlich-historischen darstellen. Da die individuelle Entwicklung mithin über die Tätigkeit vermittelte individuelle Aneignung objektiver Bedeutungsstrukturen ist, hat der sich entwickelnde individuelle Mensch in immer höherem Maße an der überindividuellen Kontinuität und Progression gesellschaftlich-historischer Realität teil und ist, in dem Grade, wie er sich durch seine Arbeit mit anderen Menschen in ein objektives Koperationsverhältnis setzt, GLEICHZEITIG TRÄGER UND MOTOR DER GESELLSCHAFTLICH HISTORISCHEN KONTINUITÄT UND PROGRESSION. Der individuelle menschliche Entwicklungsprozeß ist also nicht bloß individuelle „Sozialisation“, sondern INDIVIDUELLE VERGESELLSCHAFTUNG …“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975 I, S. 306).

„Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, die sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen“ (ENGELS 1962, S. 444).

„… das Tier BENUTZT die äußere Natur bloß und bringt Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, BEHERRSCHT sie. Und das ist der letzt, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt“ (S. 452).

Um als Soziologe bei der Analyse sozialen Handelns nicht den Fehler derjenigen Psychologen zu wiederholen, die im behavioristischen Kernbereich der Psychologie nur einen quantitativen Unterschied hinsichtlich der Komplexität der Organismen, aber keinen qaulitativen Unterschied zwischen Organismen verschiedener Entwicklungshöhe kennt, und um zweitens den Menschen nicht wie in der Psychoanalyse als unhistorisches Wesen zu betrachten, dessen Gesellschaftlichkeit darin besteht, daß seine im Grunde unveränderlichen biologischen Triebansprüche von einer im äußerlichen Gesellschaft gehemmt und unterdrückt werden – wobei sich lediglich die erzwungenen Erscheinungsbilder wandeln – bleibt methodologisch nur der Weg der Erforschung sozialen Handelns über die konkrete Lebensaktivität der Individuen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse mit umfaßt.

Dies gilt für die Gesellschaft insgesamt, für Klassen und Gruppen als auch für Individuen.

„Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie durch ihre eigene Aktion erzeugten. Diese Voraussetzungen sind also auf rein empirischem Wege konstatierbar“ (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 20).

Dies bedeutet für den Gang der empirischen Analyse folgendes:

„Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammehang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen. Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie WIRKLICH sind, d.h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind“ (ebda.).

Die Analyse sozialen Verhaltens bzw. Handelns ist nur denkbar auf der Grundlage der Annahme, daß die Sozialität sowohl als gesellschaftliches Sein als auch als gesellschaftliches Bewußtsein in Erscheinung tritt. Die uns interessierende Frage ist nun, ob die psychischen Erscheinungen, zu denen auch die Motive gehören, aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein, „in bezug zu dem das Psychische eines Individuums sozusagen als natürliche Komponente in Erscheinung tritt“, oder aus den Formen des gesellschaftlichen Seins abgeleitet werden müssen (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 33).
Wird die dominierende Rolle des gesellschaftlichen Seins bei der Entwicklung des Bewußtseins hervorgehoben, wie es auch in einigen nichtmarxistischen soziologischen Konzeptionen zum Ausdruck kommt, läßt sich das Problem der sozialen Determiniertheit des Psychischen konsequent nur lösen, wenn die Analyse vom realen Individuum ausgeht, zu dem das Psychische gehört.
D.h. der als selbstverständlich erscheinende Zusammenhang des Psychischen mit der individuellen Form des Seins des Menschen und die Wechselbeziehung zwischen dem Sozialen und Psychischen kann nicht grundlegend sein für die Analyse der sozialen Determiniertheit des Psychischen, sondern vielmehr die Wechselbeziehung zwischen dem Individuellen und dem Gesellschaftlichen, auf dessen Grundlage die Entstehung des Psychischen erst erklärbar und die Abstraktion des Psychischen überhaupt erst möglich wird.

In diesem Punkt unterscheidet sich die marxistische Forschufng prinzipiell von anderen, indem sie das wirkliche Sein der Individuen nicht mit ihrer Sozialität identifiziert, sondern als gesellschaftliches Sein begreift.
Die Umwandlung des Verhältnisses zwischen Individuellem und Gesellschaftlichem in das Verhältnis zwischen Psychischem und Sozialem hat weiterreichende Konsequenzen, insofern das Individuum als reales gesellschaftliches Wesen nicht mehr Ausgangspunkt der Analyse ist, sondern das Soziale bzw. allgemeine Formen des Sozialen. Daß dies letztlich zu einer Verdrängung des Subjektes aus der Geschichte führt, so daß die Forschung ganz ohne Subjekt auskommen zu können glaubt, zeigen die theoretischen Überlegungen z.B. OVERMANNs.

Nach der Klärung der grundlegenden Unterschiede zwischen sozialem und gesellschaftlichem Handeln und der Bedeutung individueller Tätigkeit für die Persönlichkeitsentwicklung wenden wir uns nun der „objektiven Hermeneutik“ Oevermanns zu, die exemplarisch zeigt, wie in bestimmten soziologischen Ansätzen das reale Subjekt zugunsten abstrakter Strukturen verdrängt wird.


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