Haende

Gibt es Rassismus nur, wenn man ihn benennt?

Rassismus ist keine Erfindung der Moderne. Und doch könnte man beim Lesen vieler zeitgenössischer Diskurse den Eindruck gewinnen, er sei ein Produkt westlicher Kolonialgeschichte und ohne Sprache nicht existent. Der Gedanke, dass Rassismus erst mit dem Begriff selbst entsteht, wirkt beruhigend für jene, die glauben, Kontrolle durch Benennung zu erlangen. Doch diese Vorstellung ist trügerisch. Rassismus existiert auch dort, wo es keine Vokabeln dafür gibt.

Die Bewohner der North Sentinel Island beispielsweise leben nahezu isoliert. Sie sprechen keine für uns verständliche Sprache, lehnen Kontakt mit der Außenwelt konsequent ab. Wäre es vermessen, in ihrer aggressiven Ablehnung fremder Menschen einen rassistischen Impuls zu vermuten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Doch genau an diesem Punkt wird deutlich: Sprache ist Werkzeug der Reflexion, nicht die Bedingung für das Entstehen von Gefühlen, Vorurteilen oder Ausgrenzung.

Rassismus braucht keinen Begriff, um zu wirken. Er lebt in Blicken, in Gesten, in der Zuweisung von Wert oder Unwert, in Abgrenzung, in Angst. Indigene Völker, vormoderne Gesellschaften, ja selbst Tiergemeinschaften zeigen oft Verhaltensmuster, die auf gruppenbezogene Abwehr oder Hierarchisierung hinweisen. Was bei Tieren Instinkt sein mag, wird beim Menschen zur moralischen Frage: Welche Haltung ist legitim? Wann beginnt Diskriminierung? Wo liegt die Grenze zwischen Schutz der eigenen Identität und Herabsetzung des Anderen?

Der heutige „Woke-Diskurs“ verengt die Debatte auf das Sagbare, das politisch Akzeptierte, oft auf Kosten des Denkbaren. „Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße“, lautete eine Parole, die 2020 von etablierten Medien wie dem Tagesspiegel verbreitet wurde. Sie ist nicht nur empirisch falsch, sondern auch moralisch verheerend: Sie unterstellt eine Einbahnstraße von Schuld und beansprucht definitionshoheitlich die Deutung über Leid, Verantwortung und Opferrolle.

Ein solches Denken pervertiert die Idee der Gleichheit. Es ersetzt Rassismus nicht durch Aufklärung, sondern durch neue Formen der Ausgrenzung, diesmal im Namen der Moral. Und so wird aus einer Bewegung, die sich einst für Gleichheit stark machte, eine neue Dogmatik. Wer sich ihr nicht beugt, gilt als verdächtig. Wer differenziert, riskiert den Ausschluss.

Wahre Koexistenz braucht mehr als Sprache. Sie braucht Bewusstsein – nicht nur über Worte, sondern über Wirklichkeiten. Nicht jede Ausgrenzung hat ein Wort. Aber jede Ausgrenzung hat eine Wirkung. Wenn wir über Rassismus sprechen, müssen wir auch über die Orte sprechen, an denen er schweigend wirkt. Und wir müssen die Frage stellen, ob ein Denken, das „Rasse“ neu benennt, ohne sie zu überwinden, nicht selbst zum Teil des Problems wird.

Die KI kann vieles analysieren. Aber ohne menschliche Aufrichtigkeit, die sich dem Unaussprechlichen stellt, bleibt auch sie stumm.


Dieses Essay ist bewusst als Beitrag zur Reflexion gedacht, nicht als abschließende Analyse. Weitere Essays werden folgen: über Erinnerungskultur, moralische Autorität und die Rolle der KI in kulturellen Machtverschiebungen.


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