Kapitel 2.4 Aufklärerische Pädagogische Absichten bei der Er­forschung sozialen Handelns

Kritische Soziologen und Pädagogen vertreten eine praktische hochschuldidaktische Absicht, die auf das Ver­stehen und Bewältigen oder Verändern von Problemsituationen und die Entwicklung von Handlungsstragegien gerichtet ist (HUBER, 1980).
Die aufklärerische, pädagogisch motivierte Erforschung sozialen Han­delns zielt im wesentlichen darauf ab, die Erforschten in die Lage zu versetzen, „ihre Beziehungen zum gesellschaftlichen Produkti­ons- und Reproduktionsprozeß und damit auch zu den Prämissen der gesamten Untersuchung zu reflektieren“ (HEINZE/THIEMANN 1980, S. 5). Die soziale Lage und das Bewußtsein von Studenten und Dozenten soll möglichst in kommunikativen Rückkoppelungsverfahren erfolgen, in denen die gewonnenen Daten vermittelt werden. Auf diese Weise soll bei den Erforschten die Sensibilität und Erkenntnisbasis ge­schaffen werden, „auf deren Grundlage ein verantwortungsvolles, demokratisches Unterrichtshandeln möglich wird.“

HUBER, PORTELE (PORTELE u.a. 1981) und andere stützen ihre pädagogische, subjektorientierte Sozialisationsforschung auf das von BOURDIEU und PASSERON entwickelte Habitus-Konzept zur Erfassung der Persönlichkeitsentwicklung. Den Vorteil dieses Konzeptes sehen sie in der Möglichkeit, die Wahrnehmungs-, Denk-, Beurtei­lungs- und Handlungsschemata in der Form von generativen Hand­lungsgrammatiken (Habitus) klassenspezifisch, geschlechtsspezi­fisch, historisch spezifisch, akademikerspezifisch und fachspezi­fisch zu erfassen.

Um diese Handlungsgrammatiken aufzudecken, bewußt zu machen, wer­den „soziale Situationen“ hergestellt bzw. inszeniert, „in denen sich Habitus im Handeln zeigen kann.“ Ausgehend von der Feststellung, daß sich der Geltungsbereich einer solchen generativen Handlungsgrammatik auf eine „gesellschaftliche Formation“ erstreckt (S. 2), wird Handlungsgrammatik als ein Sy­stem von aufeinanderbezogenen Regeln verstanden, wenn auch nicht in derselben Einfachheit wie die uns gelehrte lateinische, deut­sche, englische Grammatik.

Es wird angenommen, daß dem Handeln ein in der Regel nicht bewußt angewandtes „Grammatikmodell“ zugrunde liegt. Da der Habitus nur über seine Anwendung in Handlungssitua­tionen sichtbar wird, er sich nicht direkt und explizit, sondern vermittelt und vor allem implizit äußert, gilt als Ziel des Ver­stehens die Beschreibung von Regeln bzw. Regelmäßigkeiten des fak­tischen Verhaltens. Die „Inszenierung“ von sozialen Situationen soll es ermöglichen, daß den daran Beteiligten der Habitus, die Handlungsgrammatik, bewußt wird, „damit sie, falls das als notwen­dig erkannt wird, verändert werden kann“. Die Möglichkeit der Veränderung des Habitus durch die Möglichkeit der Erklärung neuer und auch unbekannter Handlungen aufgrund der Interpretation der Handlungsgrammatik ist das eigentliche pädagogische Anliegen.

Die Inszenierung sozialer Situationen ist in der Konzeption von PORTELE u.a. sowohl Gegenstand der Analyse als auch Erhebungsin­strument und didaktisches Prinzip (ein Lehrstück) zugleich. Die Teilnehmer der Inszenierung sollen z.B. anhand eines erzählten alltäglichen Nachbarschaftskonflikts fachspezifische Interpretati­ons- und Handlungsmuster unter dem Blickwinkel ihrer Lehrerfahrun­gen eingrenzen.

Fraglich jedoch ist, ob 1.) die durch die Inszenierung produzierte soziale Situation als Informationsquelle für die Erklärung des Handelns ausreicht, 2.) ob sie tatsächlich die Methode der Befra­gung etc. zu ersetzen vermag und 3.) woher die Kriterien für die Gestaltung pädagogischer Prozesse genommen werden, die ja bereits vor der Inszenierung vorhanden sein müssen, damit es überhaupt zu einer Inszenierung kommt, d.h. sie können nicht aus der Szene selbst gewonnen sein.

Der Hinweis auf BRECHT (vgl. PORTELE/HUBER, 1980) bestätigt, daß mit der Inszenierung eine die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen einschließende, aufklärerische pädagogische Absicht verbunden sein soll. Doch setzt diese Ab­sicht, wie BRECHT zeigt, die Analyse der gesellschaftlichen Ver­hältnisse durch den Didaktiker (Regisseur) ebenso wie durch die Akteure der Inszenierung (Schauspieler) für das Verständnis der Szene und für deren Gestaltung voraus.

Ein grundlegendes Problem der subjektbezogenen, hermeneutischen Vorgehensweise, so z.B. im Projekt „Lebensweltanalyse von Fernstu­denten“ an der Fernuniversität Hagen, zeigt sich in dem Wunsch, die Studenten „nicht als Forschungsobjekte zu sehen, sondern sie zu Forschungssubjekten zu machen.“ Sie „sollen sich also durch un­sere Protokolle und durch die Dokumente artikulieren, sollen ein Stückchen ihrer Lebenswelt, die sie in unseren Erfahrungsbereich eingebracht haben, in die Gesamtsicht der Probleme einbringen“ (Diskussion der Projektgruppe „Lebensweltanalyse von Fernstuden­ten“, Hagen, 20.01.1977).

Abgesehen davon, daß diesem Ge­danken zufolge Individuen zu Forschungssubjekten „gemacht“ und sie somit nichts anderes als Objekte eines vom Forscher zumindest initiierten Veränderungsprozesses sind, sind die Individuen Subjekte ihrer Lebens- und Erkenntnistätigkeit, unabhängig vom Wissen­schaftler und längst bevor sich dieser ihrer annimmt. Ob die Stu­denten nun, indem sie sich artikulieren und ein „Stückchen ihrer Lebenswelt“ in den Erfahrungsbereich der Wissenschaftler einbrin­gen, tatsächlich ihre eigene Subjektposition verändern bzw. ver­stärken oder ob sie nicht vielmehr den Stoff zu liefern angeregt werden, den der Wissenschaftler für den Erhalt und Ausbau seiner eigenen Subjektposition innerhalb des Wissenschaftsbetriebes drin­gend benötigt, ist eine ernsthafte Frage.

Die Teilnahme von Stu­denten am Forschungsprozeß, ihre Subjektposition gegenüber dem Wissenschaftler bzw. Hochschullehrer ist außerdem kein Spezifikum allein hermeneutisch-lebensgeschichtlicher Forschungen; sie gehört auch in einem so anders gearteten Bereich, wie z.B. Maschinenbau, zur Studienrealität. Die Frage ist doch die, ob die besondere Qua­lität der soziologischen (Lebenwelt-)forschung darin liegt, daß sie gegenüber anderen wissenschaftlichen Forschungen auf eine be­sondere Qualität, d.h. auf eine allgemeine, nicht institutions-, forschungs- oder fachgebundene Handlungsfähigkeit des Subjektes bzw. der Subjektposition abzielt; denn diese kann sich nicht al­lein aus der Tatsache der Teilnahme des Studierenden am Forschungs­prozeß und seiner Möglichkeit zur Artikulation ableiten lassen.

Wenn die hermeneutisch-lebensgeschichtliche Forschung lediglich der Rekonstruktion von Alltagssituationen dient und damit dem Ziel, mit Hilfe von Deutungen typischer Alltagssituationen, die die Studenten vornehmen, auf die Beschaffenheit der Alltagssitua­tion zu schließen, dann ist die Frage die, was man daraus anderes lernt, als die Unterschiede der Deutungsmuster in einer weitgehend gemeinsamen Lebenswelt festzustellen? Genügt es, die Lebenswelt als eine durch die Biographie und sozialstrukturellen Bedingungen konstituierte Lebenswelt aufzufassen, und zwar – dies ist ent­scheidend – „soweit ihre Relevanz für eine jeweilige Lebenswelt nachgewiesen werden kann“? (ABELS u.a. 1977). Genügt es tatsächlich, das Verfahren der Interpretation (als die dem Gegen­stand „angemessene“ Form der Analyse) in traditionellem hermeneu­tisch-phänomenologischem Verständnis auf die „hermeneutische Ent­schlüsselung“ oder „verstehenden Rekonstruktion“ zu beschränken, die „sowohl das individuell Ausgedrückte als auch den Niederschlag gesellschaftli­cher Druckfaktoren in den Signalen aufzuspüren“ versucht (vgl. RUMPF 1976, S. 103 f.)?

Wird damit der Subjektposition des Individuums genüge getan? Ist es realistisch, zwar einerseits davon auszugehen, daß die Bedin­gungen der Biographie und des aktuellen Sinn- und Handlungsfeldes dem Subjekt nicht stets voll bewußt sind (ABELS u.a. 1977; vgl. auch MOLLENHAUER 1972), die Bedeutung der objektiven Welt aber ausschließlich auf die im Verlauf der Sozialisation (Biographie) erlernten Formen der psychischen Verarbeitung der ob­jektiven Bedingungen zu reduzieren, so als könnten die Gegenstände der Tätigkeit sich auflösen in einen innerpsychischen Prozeß? Wenn also schon unterstellt wird, daß zwischen dem, was Studenten als Alltagserfahrung wahrnehmen und dem, was z.B. ein Forscher über die objektiven Bedingungen ihrer Lebens- und Lernsituation er­fährt, ein Unterschied besteht, warum fällt es dann der Mehrzahl der Soziologen leichter, diesen Widerspruch zugunsten der Er­forschung der außerordentlich komplizierten Entwicklungsgeschichte eines Individuums zu lösen, sich aber nicht an die Analyse der ge­sellschaftlichen Realität, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der ihr zugrundeliegenden Teilung der Arbeit als Grundbedingung menschlicher Existenz heranzuwagen?

Um den Rahmen, innerhalb dessen die hermeneutisch-lebensgeschicht­liche Problematik sich bewegt, deutlich zu machen, eignen sich vielleicht die Beispiele im folgenden Kapitel, in denen das Aus­einanderklaffen von objektiven gesellschaftlichen, das Leben des einzelnen aber determinierenden Bedingungen, und individueller Le­bensgeschichte deutlich macht, daß die phänomenologisch und in­teraktionistisch orientierten Forschungsprogramme dieses Problems nicht zu erfassen vermögen, wenn sie sich bei der Erforschung der „gesellschaftlichen Druckfaktoren in den Signalen“ nicht weit ge­nug über die subjektive Relevanz hinausbegeben und die Frage der subjektiven Relevanz als Verhältnis zwischen subjektiven Bedingun­gen/Möglichkeiten und objektiven Bedingungen/Möglichkeiten analy­sieren.

Diese Fragestellung, die die Aktivität und Tätigkeit des Individu­ums in den Mittelpunkt stellen muß und nicht die schicksalhafte Abhängigkeit von der eigenen Biographie, wird der tatsächlichen Subjektposition und damit der Persönlichkeit des Individuums ge­genüber seiner Lebens- und Erkenntnistätigkeit weitaus eher ge­recht.

Exkurs: Die Methodologische Bedeutung, Grenzen und Möglichkeiten der didaktischen Konzeption Berthold Brechts für die Analyse des Ver­hältnisses Individuum und Gesellschaft.

Brecht sah den menschlichen Charakter als eine Funktion äußerer, zumeist sozialer Umstände. Er nahm an, daß bei Änderung der sozia­len Verhältnisse sich auch der menschliche Charakter ändert. Das epische Theater, das er in seinen theoretischen Schriften begrün­det und das ihn international bekannt machte, sollte darauf be­dacht sein, die kritische Fähigkeit des Zuschauers zu wecken und zu schärfen, die Menschen vom Standpunkt der sozialen Wirklichkeit aus zu zeigen und ein Instrument der Veränderung der Welt zu sein.
Die enge Beziehung zur Soziologie ist im epischen Theater dadurch gegeben, daß es, indem es Tatsachenmaterial ergänzend hinzufügt, soziologische Zusammenhänge aufzeigen kann. Es kann auf diese Weise gleichzeitig die Aktion und den dazugehörigen Kommentar lie­fern.

„Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird.
… In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verän­dern weiß, daß die Welt schon nahezu bewohnbar erscheint, kann der Mensch dem Mensch nicht mehr lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten aber fixierten Umwelt.
… Weil nämlich – im Gegensatz zur Natur im allgemeinen – die Natur der menschlichen Gesellschaft im Dunkeln gehalten wurde, stehen wir jetzt, wie die betroffenen Wissenschaftler uns versichern, vor der totalen Vernichtbarkeit des kaum bewohnbar gemachten Planeten. Es wird sie nicht verwundern, von mir zu hören, daß die Frage der Beschreibbarkeit der Welt eine gesellschaftliche Frage ist“ (BRECHT 1967, Die Dialektik auf dem Theater, S. 929 f.).

BRECHT war der Auffassung, das Theater habe der Belehrung zu die­nen, wobei die Unterhaltung oder, wie er es formulierte, „der Spaß“ für den Zuschauer darin bestehen solle, das Gefühl der Freude über eine neue Erkenntnis, über eine Erweiterung seines Wissens zu empfinden, wie ein Wissenschaftler, wenn er einem Ge­heimnis auf die Spur gekommen ist (vgl. ESSLIN 1970, S. 174).

„Die Entwicklung drängte auf eine Verschmelzung der beiden Funk­tionen Unterhaltung und Belehrung. Wenn die Bemühungen einen so­zialen Sinn bekommen sollten, so mußten sie das Theater am Schluß instand setzen, mit künstlerischen Mitteln ein Weltbild zu entwer­fen, Modelle des Zusammenlebens der Menschen, die es dem Zuschauer ermöglichen könnten, seine soziale Umwelt zu verstehen und sie verstandesmäßig und gefühlsmäßig zu beherrschen“ (BRECHT 1967, Über eine nichtaristotelische Dramatik).

„Der heutige Mensch weiß wenig über die Gesetzlichkeiten, die sein Leben beherrschen. Der heutige Mensch, lebend in einer sich rapid ändernden Welt und sich rapid ändernd, hat kein Bild dieser Welt, das stimmt und aufgrund dessen er mit Aussicht auf Erfolg handeln könnte. Seine Vorstellungen vom Zusammenleben der Menschen sind schief, ungenau und widersprechend, sein Bild ist, was man unprak­tikabel nennen könnte, das heißt, mit seinem Bild von der Welt, der Menschenwelt, vor Augen kann der Mensch diese Welt nicht be­herrschen.“

„Er weiß nicht, wovon er abhängt, er kennt nicht den Griff in die soziale Maschinerie, der nötig ist, der den gewünschten Effekt hervorbringt. Die Kenntnis der Natur der Dinge, so sehr und so in­geniös vertieft und erweitert, ist ohne die Kenntnis der Natur des Menschen, die menschlichen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, nicht imstande, die Beherrschung der Natur zu einer Quelle des Glücks für die Menschheit zu machen.“

Während die Grundlage im nicht-epischen (aristotelischen) Theater einzelne Charaktere sind, und der Charakter der Person die Bezie­hung zu den anderen Figuren der Handlung bestimmt, lehnt BRECHT Einfühlung und Introspektion ebenso ab wie den Begriff der psycho­logischen Erfassung einer Person, um statt dessen die Wechselbe­ziehungen zwischen den Individuen zu ermitteln. Die Wechselbezie­hungen bilden die Grundhaltungen der Individuen zueinander, den Gestus.

Jede Szene eines Stückes von BRECHT läßt sich auf einen Grundge­stus konzentrieren, auf eine Gesamtheit der äußeren und sichtbaren Kennzeichen sozialer Beziehungen: Gebärden, Tonfall, Gesichtsaus­druck, Körperhaltung, die Art, wie ein Mensch vor einen anderen tritt, vor ihm steht, zu ihm spricht, auf ihn reagiert usw. Mit Hilfe dieser Grundbausteine der Handlung will der Regisseur den gesellschaftskritischen Sinn der Szene herausarbeiten.

„(Das neue Theater) bedient sich denkbar einfachster, den Sinn der Vorgänge übersichtlich ausdrückender Gruppierung. Die „zufällige“, „Leben vortäuschende“, „zwanglose“ Gruppierung ist aufgegeben: die Bühne spiegelt nicht die „natürliche“ Unordnung der Dinge. Das an­gestrebte Gegenteil natürlicher Unordnung ist natürliche Ordnung. Die ordnenden Gesichtpunkte sind geschichtlich gesellschaftlicher Art“ (BRECHT zit. von WEKWERTH 1956).

Um den Vorgängen auf der Bühne objektiv und kritisch folgen zu können, sollte der psychologische Prozeß der Identifizierung von Zuschauer und Schauspieler unterbunden und eine Distanz geschaffen werden, so daß vertraute Dinge, Haltungen und Situationen in ein neues Licht gestellt werden. „Das Wesentliche am epischen Theater ist es vielleicht, daß es nicht so sehr an das Gefühl, sondern mehr an die Ratio des Zuschauers appelliert. Nicht miterleben soll der Zuschauer, sondern sich auseinandersetzen“ (BRECHT 1967, Der Weg zum zeitgenössischen Theater). BRECHT versucht, dies mit dem Mittel der „Verfremdung“ zu erreichen:

„Verfremden heißt … Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt wer­den. … Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: die­ser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt auf die Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhundert der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr nur hinein­nimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff“ (BRECHT 1967, Über eine nichtaristotelische Dramatik).

Durch die Historisierung bekommt das „Natürliche“ das Moment des Auffälligen. „Nur so konnten die Gesetze von Ursache und Wirkung zutrage treten.“

Die Betonung der Verstandestätigkeit heißt nicht, daß die Emotio­nen verdrängt werden sollen, aber da sie nicht gesellschaftlich neutral sind, werden sie von BRECHT ebenfalls „historisiert“.

„Diese kritische Haltung des Zuschauers (und zwar dem Stoff gegen­über, nicht der Ausführung gegenüber), darf nun nicht etwa als eine rein rationale, rechnerische, neutrale, wissenschaftliche Haltung angesehen werden. Sie muß eine künstlerische, produktive, genußvolle Haltung sein“ (BRECHT 1967, Über eine nichtaristoteli­sche Dramatik, S. 275).
„Die Emotionen haben immer eine ganz bestimmte klassenmäßige Grundlage; die Form, in der sie auftreten, ist jeweils historisch, spezifisch, begrenzt und gebunden. Die Emotionen sind keineswegs allgemein und zeitlos“ (ebda., S. 242).
„Eine auf die Einfühlung weitgehend verzichtende Darstellung wird eine Parteinahme aufgrund erkannter Interessen gestatten, und zwar eine Parteinahme, deren gefühlmäßige Seite im Einklang steht mit ihrer kritischen Seite“ (ebenda, S. 246).

Die Einfühlung des Schauspielers in den darzustellenden Charakter muß bei BRECHT durch aufmerksame und völlig verstandesgemäßige Be­obachtung ergänzt werden. Der Schauspieler muß die sozialen und historischen Bedingungen der Figur kennen und seine eigene Stel­lungnahme, sein Einverständnis, seine Ablehnung, seine Verachtung, sein Mitglied, zu deren Handlungsweise ausdrücken können. Außerdem muß deutlich werden, daß jede gewählte Handlungsweise eine Alter­native hat, die das Publikum bei Beurteilung der Handlung in Be­tracht ziehen muß.

„Es genügt keineswegs, eine Figur nur so weit auszustatten, als es für den Fortgang der Handlung nötig ist. Die Figur muß noch etwas Konkretes, Einmaliges haben, mit der Möglichkeit, innerhalb be­stimmter soziologischer Grenzen auch anders zu handeln, ausgestat­tet zu sein. … Aber dies Voneinanderverschiedensein der Figur darf der Schauspieler doch nicht zu weit treiben.
Die Erkenntnis: „Wie verschieden sind doch die Menschen!“ ist eine Teilerkenntnis. Sie zu vermitteln ist nötig, wenn geleugnet wird, daß man, um sie zu etwas zu bewegen oder um sich von ihnen bewegen zu lassen, auf die einzelnen genau eingehen muß. Aber diese Tei­lerkenntnis wird oft als der Weisheit letzter Schluß vorgetragen und damit geleugnet, daß man über das Handeln der Menschen irgend etwas voraussagen kann. Gerade durch das Studium ihrer konkreten Verschiedenheit kann man etwas über ihr vermutliches Handeln vor­aussagen, und für diesen Zweck des Voraussagens soll die Verschie­denheit dargelegt werden“ (BRECHT 1967, Über den Beruf des Schau­spielers).

BRECHT lehnt die Reduzierung der Geschichte auf die Taten einzel­ner „großer“ Persönlichkeiten ab, ebenso die Psychologisierung einzelner Persönlichkeiten.

„Der stark entwickelte Glaube an die Persönlichkeit zeigte sich in seinem komischsten Lichte, wenn das Kriegsproblem als psychologi­sches Problem gezeigt wurde (in Erwägung, wieweit Czernins Ver­stand ausreichte oder was in Wilhelm wohl am Abend des 14. vor­ging), wobei die Persönlichkeiten einer Psychose, eben der Kriegs­psychose, „verfallen“ waren. … Jeder einzelne (Literat, d.V.) fühlte, daß der Krieg nicht sein eigener Krieg war, nicht die Folge seiner Taten, nicht die Konsequenz seiner Gedanken (wo je hatten seine Gedanken eine Konsequenz gehabt?): MAN HATTE SIE NICHT GEFRAGT! … Sie waren hauptsächlich Psychen und sie redeten sich hinaus mit Psychose. Wußten sie wo das Korn wuchs, das sie aßen? Kannten sie den Namen des Ochsen, den sie als Filet verspei­sten? Sie kannten ihn nicht, und ihr himmlischer Vater nährte sie doch. …
Sie begriffen nicht, daß dies ein gesellschaftliches, nicht ein innermenschliches Phänomen war. Sie sahen die Verneinung der Per­son durch den Krieg und lehnten den Krieg also ab. Aber der Krieg war eine Realität, und die Person war verschwunden. Aber sie hat­ten es nicht gewollt. Als war der Krieg ein Zufall, und die Person war das. … Die Wahrheit war, sie konnten die Gesetzmäßigkeit nicht sehen, weil sie die Ursachen der Ereignisse nicht sehen konnten, und die konnten sie nicht sehen, weil sie sie nicht be­seitigen konnten. …
Der Dualismus zwischen den Ansichten und ihren Handlungen machte ihre Literatur FOLGENLOS, absolut undialektisch, zu der unwirkli­chen, also unvernünftigen (Begleit-)Erscheinung, die sie ist. Der Krieg nicht nur, auch alle anderen großen kapitalistischen Vor­gänge mußten ihnen als im metaphysischen Sinne natürlich erschei­nen, denen der Mensch als Objekt gegenüberstand, indem er sie „er­lebte“. Aber der Krieg war nicht entstanden, sondern gemacht wor­den und nicht nur über die Menschen hereingebrochen, sondern auch von Menschen geführt worden,…“ (BRECHT 1967, Der Weg zum zeitge­nössischen Theater).

In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach der Kausalität geschichtlicher Ereignisse. Eine neue, sich von der Definition physikalischer Kausalität unterscheidende Definition sei erforder­lich, um die kausale Gesetzlichkeit gesellschaftlicher Entwicklung erkennen zu können, sagt BRECHT.

„Interessiert sind wir an den Bewegungen von Massen, nur in bezug auf sie hoffen wir Voraussagen befriedigender Art machen zu kön­nen, hier suchen wir die kausale Gesetzlichkeit. Das Individuum mag uns bei diesen Prozessen in Massen – überraschen. Erst eine ganze Reihe seiner Äußerungen und Bewegungen fixiert es einiger­maßen in der oder jener Masse. Es würde uns an ihm etwas fehlen, nämlich etwas Individuelles, wenn es allzu widerspruchslos der ge­setzmäßigen Bewegung der Massen folgen würde, das wäre bei ihm der Sonderfall. Bedeutet das, daß wir mit dem Individuum nichts mehr zu tun haben wollen, ihm gegenüber resignieren, keine Kausalität mehr bei ihm festsetzen oder feststellen wollen? Keineswegs. Wir haben lediglich unsere Ansprüche verschärft. … Wir müssen in ge­wissen Lagen mehr als eine Antwort, Reaktion, Handlungsweise er­warten, ein Ja UND ein Nein; beides muß einigermaßen begründet, mit Motiven versehen erscheinen. Die Aufmerksamkeit, das kausale Interesse des Zuschauers muß auf die Gesetzmäßigkeit in den Bewe­gungen der Massen der Indiviuen eingestellt werden. Er muß solche Massen hinter den Individuen sehen, die Individuen als Massenteil­chen in einer massenmäßigen Reaktion, Handlungsweise, Entwicklung betrachten.“

Während der Regisseur bei BRECHT darauf intendiert, daß die Schau­spieler die gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns in den In­szenierungen zum Ausdruck bringen sollen, wobei die Schauspieler ihre Rolle als selbstbewußte, kritikfähige „Medien“ darzustellen haben, verzichtet bei PORTELE der Regisseur der „sozialen Situa­tion“, der Didaktiker, darauf, seine Hypothesen, Absichten, Ziele usw. für die von ihm geplante Inszenierung zu erklären. Zumindest würde dies ermöglichen, sich an konträren Hypothesen „abzuarbei­ten“, herauszufinden ob es ein gemeinsames Ziel überhaupt gibt; denn aus der in der sozialen Situation erkannten „Handlungsgramma­tik“ kann weder auf die Notwendigkeit für noch auf die Richtung von Veränderungsprozessen geschlossen werden, es sei denn auf psy­chologisch-therapeutischer Grundlage. Die Ebene des wissenschaftli­chen unverbindlichen Gesprächs wird so nicht aufgehoben.
Dagegen war BRECHTs Absicht eindeutig: „Was wir erreichen müssen ist, daß im Publikum ein Kampf entfacht wird, und zwar ein Kampf des Neuen gegen das Alte …“ (BRECHT 1956, zit. Bei ESSLIN 1970, S. 194).

Ein weiterer Unterschied zwischen der Inszenierung BRECHTs und der Herstellung sozialer Situationen ist die Tatsache, daß eine Insze­nierung das Resultat soziologischen, historischen, empirischen Forschens ist, das den Zuschauern die Probleme in einer theore­tisch durchdachten, wissenschaftlich aufbereiteten und aufgearbei­teten Form präsentiert.

Bei BRECHT gewinnt der Regisseur Informationen über die gesell­schaftlichen Bedingungen und die Verhaltensweisen der Menschen nicht aus der Szene, sondern aus einer theoretischen Tätigkeit, in der er sich wissenschaftlich mit der objektiven Realität auseinan­dersetzen muß. Darin unterscheidet er sich vom Publikum und auch von den Schauspielern; er ist ihnen in der Regel in diesem Moment um diesen Schritt voraus. Die Szenen beinhalten eine Aufgabe für den Zuschauer, sich, wenn er will, mit dem Neuen auseinanderzuset­zen, die Informationen des Stückes mit seinen eigenen zu verglei­chen usw. Die Szene, d.h. der Regisseur, setzt Maßstäbe für kriti­sches Denken, ersetzt aber nicht die notwendige Auseinandersetzung jedes einzelnen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, den tatsächlichen Bedingungen des sozialen Handelns.

Die episodenhafte Darstellung im epischen Theater BRECHTs ist kei­neswegs identisch mit dem Rückzug phänomenologisch orientierter Soziologen auf die episodenhafte Interpretation von Kommunikati­onshandlungen im Alltag; denn diese stehen an Stelle der Gesell­schaftsanalyse.

Der Widerspruch zwischen dem Wunsch des Didaktikers, als Gleicher unter Gleichen zu gelten und seinem tatsächlichen Verhalten wird da offenkundig, wo soziale Situationen „hergestellt“ werden. Die Inszenierung beginnt bereits mit den Planungen zur Einladung, es werden Fragestellungen entwickelt, der Adressatenkreis wird ausge­wählt, ein Tagungsprogramm festgelegt, Einladungen verschickt, die Gespräche werden auf Tonbändern aufgezeichnet, damit die Diskussi­onsbeiträge später verschriftlicht werden können, eventuell wird ein Verlag für die Veröffentlichung der Ergebnisse ausfindig ge­macht usw. Nicht nur die technischen Rahmenbedingungen werden von einem kompetenten Wissenschaftler für die eigentliche Inszenierung bereitgestellt, sondern auch die inhaltlichen.

Für die didaktische Absicht, die Beteiligten zum kritischen Denken im Sinne etwa BRECHTs anzuregen, eignet sich die Inszenierung so­zialer Situationen, sofern das Thema eine inhaltliche Diskussion über gesellschaftliche Bedingun­gen und Ziele individuellen Handelns ermöglicht und die Inszenie­rung Spontaneität, intuitive Reaktionen auf die Situation, Improvisation usw. tendenziell zugunsten einer distan­zierten, kritischen und rationalen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zurückdrängt. (Bei BRECHT ist es die Fabel des Stückes, die das „Parallelogramm der Kräfte, aus deren dialekti­scher Verknüpfung schließlich die Lehre des Stückes als allen sichtbare Resultate hervorgeht“ (ESSLING 1970, S. 182 f.),

Das Seminar, in dem soziale Situationen hergestellt werden sollen, in dem sich der Habitus im Handeln zeige, unterscheidet sich je­doch von den Inszenierungen im Sinne des epischen Theaters. Sie dienen als Grundlage für die Sammlung von Informationsmaterial und nicht der Darstellung analytisch und wissenschaftlich erarbeiteter Erkenntnisse. Insofern ist die „soziale Situation“ eine Testraum­situation, abgeschnitten von der sozialen Wirklichkeit und dem re­alen Handeln der Individuen, in der die Problemanalyse unter kli­nifizierten Bedingungen vonstatten geht. Eine Parallele zu BRECHTs Absicht bestünde dann, wenn der soziologische Didaktiker, statt sich als Teilnehmer des Seminars zu definieren und darauf zu ver­zichten, seine Hypothesen, Stellungnahmen für die Inszenierung so­zialer Situationen zu erklären, darauf intendiert, daß die gesell­schaften Bedingungen des Handelns in den Inszenierung analysiert und zum Ausdruck gebracht werden.

Veränderung ist nicht Veränderung um der Bewegung willen, Kritik nicht um der Kritik willen, die Bewußtwerdung nicht um der Bewußt­werdung willen, die Aufklärung nicht um der Aufklärung willen das Ziel des Didaktikers BRECHT, sondern die Hinarbeitung auf gesell­schaftliche Veränderungen. Die Frage, inwieweit seine dramaturgi­schen Mittel für die konzeptionelle Gestaltung sozialer Situatio­nen im Schulunterricht, in Seminaren an der Universität, unter Hochschullehrern oder unter Studenten, und selbst für eine be­stimmte, wenn auch ungewöhnliche Form der soziologischen qualita­tiven Auswertung von Fragebögen in Betracht kommen, eröffnet dem praktischen (empirischen und didaktischen) soziologischen Arbeiten interessante neue Wege.

Exkurs: Perspektiven pädagogisch motivierter Biographieforschung (GÜNEY)

Der kurdisch-türkische Regisseur Yilmaz Güney, dessen mehrfach, u.a. bei den Filmfestspielen in Cannes, ausgezeichneten Filme zu den gegenwärtigen international bedeutendsten sozialkritischen Filmen gehören, stellt in seinem neuesten Film „Yol“ („Der Weg“) die Doppelabhängigkeit des Menschen von der Tradition einer Gruppe und von den Machtverhältnissen des türkischen feudalkapitalisti­schen Gesellschaftssystems dar. Es existieren jedoch nicht beide Abhängigkeiten nebeneinander, die staatliche Macht und die Regie­rung einerseits und der Zwang zur Einhaltung von Normen durch die Gruppe andererseits, sondern die Unterdrückung durch soziale Nor­men – und dies wird in GÜNEYs Film deutlich, existiert als Faktor einer stärkeren und umfassenderen Macht, stärker, weil sie sich dieser, die Menschen versklavenden Normen bedient. Die Normen, Sitten, Bräuche, Religionen usw. sind zu Elementen einer Politik geworden, die über die Existenz dieser Menschen entscheidet und die diese Normen zur politischen und ökonomischen Unterdrückung der Menschen aufrechterhält und „kultiviert“. Auf die Frage, warum er nicht die Unterdrückung der Frau aus der Perspektive der Frauen zeige, sondern aus der partriarchalischen Perspektive des Mannes, antwortete GÜNEY, daß in einer Gesellschaft, in der Frauen von Männern unterdrückt werden, die Männer selbst auch Unterdrückte seien (Interview im ZDF, titel-thesen-temperamente, 8.12.1982). Es geht ihm darum, die gesellschaftlichen Probleme, die er an dem Schicksal einzelner in ihrem Alltag demonstriert, nicht auf indi­viduell-interaktionistischer Ebene abzuhandeln.

Dies ist deshalb bemerkenswert, weil GÜNEY, selbst aus einer besitzlosen Bauernfa­milie stammend, nach einem Studium in Rechtswissenschaft und Öko­nomie und nach der daran anschließenden Tätigkeit als Schriftstel­ler und als (einer der erfolgreichsten türkischen) Schauspieler in seiner Tätigkeit als Film-Regisseur den Alltag der Menschen, ihr Elend, ihre Hoffnungen, ihre Angst, ihre Beziehungen untereinander realistisch so darzustellen vermag, daß in den besonderen indivi­duellen Lebensgeschichten sowohl die Unterdrückung als auch ten­denziell die Möglichkeit ihrer Überwindung deutlich wird. Er er­zeugt, wie z.B. in dem Film „Die Herde“ (als Filmerzählung 1980 veröffentlicht: GÜNEY, Y., 1980), eine Spannung, die nicht in ei­nem interaktionistischen Zirkel aufgelöst wird, sondern, ähnlich wie bei der von BRECHT beabsichtigten Wirkung des epischen Thea­ters, auf die Veränderung der Zustände drängt. Auch in GÜNEYs Filmen ist die Hervorhebung bestimmter Handlungen das Resultat so­ziologischer Analysen.
Seine didaktische Absicht bezieht im Unterschied zu der von BRECHT das Mitleiden mit den dargestellten Menschen ein. Der Zuschauer fühlt mit, ist selbst betroffen, das Leid erschüttert ihn. Aber er hält dieses Leid nicht für selbstverständlich, nicht für ausweg­los, sondern reagiert, entsprechend der Absicht des epischen Thea­ters BRECHTs, rational.

BRECHT: „Der Zuschauer des empischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffäl­lig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. Das ist große Kunst: da ist mir nichts selbstverständlich. – Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden“ (BRECHT 1967, Über eine nichtaristotelische Dramatik).

Das Lachen bleibt in GÜNEYs Filmen angesichts des Elends jedoch aus. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß es GÜNEY gelingt, indivi­duelles Handeln nicht als eine von den gesellschaftlichen Verhält­nissen abhängige Struktur sozialen Handelns aufzuzeigen, wie bei BRECHT, sondern daran, daß er einen Weg gefunden hat, die dialek­tische Beziehung zwischen Individuum und (kapitalistisch-feudali­stischer) Gesellschaft im Einzelfall darzustellen.
BRECHT hatte kurz vor seinem Tod in seinem Vorwort zu „Dialektik auf dem Theater“ geschrieben: „Die nachfolgenden Arbeiten … legen die Vermutung nahe, daß die Beziehung „episches Theater“ für das gemeinte (und zum Teil prak­tizierte) Theater zu formal ist. Episches Theater ist für diese Darbietungen wohl die Voraussetzung, jedoch erschließt es allein noch nicht die Produktivität und Änderbarkeit der Gesellschaft, aus welchen Quellen sie das Hauptvergnügen schöpfen müssen. Die Bezeichnung muß daher als unzureichend bezeichnet werden, ohne daß eine neue angeboten werden kann“ (BRECHT 1967).

Unter pädagorisch-didaktischem Gesichtspunkt gibt GÜNEY wesentli­che Hinweise, wie es möglich ist, in der subjektiven Betroffenheit und Relevanz die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen über die Darstellung der Tätigkeiten einzelner Personen nachzuweisen und genau darin eine Handlungsperspektive zur Überwindung dieser Bedingungen zu begründen.

Die Grenzen der Methode des Verstehens im Habitus-Konzept für die Analyse des gesellschaftlichen Handelns der Individuen soll noch an einem dritten Beispiel aufgezeigt werden.

Exkurs: Die literarische Ge­staltung von Verkettungen bei B. TRAVEN

Die literarische Ge­staltung der Verkettung subjektiver Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen mit dem äußerst komplizierten, kaum durchschaubaren Inein­andergreifen von objektiven Bedingungen im Zusammenspiel von Zu­fall und Notwendigkeit, Tradition und Macht am Beispiel der Le­bensgeschichte eines Indianers in dem Roman „Der Marsch ins Reich der Caoba“ von B. TRAVEN (1975) vermittelt wegen seines histo­risch-dokumentarischen Grundcharakters eine Vorstellung davon, in welche Richtung die Analyse der Handlungen bzw. Handlungsfähigkeit vorangetrieben werden muß, um aus der Analyse der objektiven Le­bensbedingungen der Individuen und der Art und Weise bzw. ihres Niveaus der Aneignung der Realität Kriterien für die Entfaltung „aufklärerischer“ Prozesse zu gewinnen.

Gleichzeitig wird jedoch die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst geschaffene Grenze sowohl für die Vermittlung als auch für Anwendung kogniti­ver Fähigkeiten durch die Individuen selbst deutlich. Um im Han­deln der Individuen die individuellen gesellschaftlich relevanten Aspekte erkennen zu können, ist die Analyse der Beziehungen der Individuen zur Realität, zu den Dingen, zur Umwelt, zu anderen Menschen die entscheidende Voraussetzung für das „Verstehen“ und für die mögliche Entfaltung kognitiver Prozesse. Erst aufgrund ei­ner solchen Analyse ergibt sich eine prinzipiell sinnvolle Mög­lichkeit für die Weitergabe des aufgrund widersprüchlicher und un­terschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungsniveaus unter­schiedlichen gesellschaftlichen Wissens.

Die konkreten Umstände bestimmen schließlich das Ziel, die Art und Weise, die Inhalte und die Form der Vermittlung, die in jedem Fall die historische Per­spektive der Veränderung der Lebensbedingungen zur Grundlage haben muß.

Alljährlich treffen sich Tausende von Indianern zu einem religiö­sen Fest in einem mexikanischen Dorf, Hucutsin, der früheren Hauptstadt der Tseltalen. Das traditionelle Fest hat in Folge der „Heidenbekehrung“ katholischen Charakter erhalten und wird als „Candelaria-Heiligenfest“ von der katholischen Kirche gefeiert.

„Die großen Latifundienbesitzer, die Finqueros, hatten bald die Wichtigkeit des Ortes Hucutsin erkannt. Sie lernten in kurzer Zeit, daß alles, was sie mit den Tseltal-Indianern abzuschließen und zu handeln hatten, eine erhöhte Rechtskraft bekam, wenn es in Huvutsin am Candelaria-Heiligenfest abgeschlossen wurde. Dies war einer der wichtigsten Gründe, warum die Agenten, die Indianer für die Monterias anwarben, die Arbeitsverträge in Hucutsin am Can­delariafest unterzeichnen und bestätigen ließen“ (TRAVEN 1975).

Eine Montaria beschreibt TRAVEN als „ein großes Camp in den Dschungeln und Urwäldern Südmexicos und Zentralamerikas, wo die Mahagonibäume gefällt und zu den Strömen geschleppt werden, um mit Hilfe des Wassers der Ströme in den Häfen am Golf von Mexico und am Kabribischen Meer zu landen. Die Aufgabe der Werbeagenten jener Monterais war, die Arbeiter heranzuschaffen, die in den Mahagoni­camps gebraucht wurden“.

„Irgendein Diktator oder Despot“, erklärt TRAVEN, hätte den Hin­tergrund für die Vertragsvereinbarung „in keiner Weise so vor­trefflich schaffen oder kommandieren können, wie er sich hier von selbst in Hunderten von Jahren herangebildet hatte“.

Es ist diese soziale, nicht vom Willen einzelner abhängende, durch die Religion gesicherte und verklärte Macht, durch die es den In­dianern in TRAVENs Roman fast unmöglich gemacht wird, ihre eigenen Lebensbedingungen zu durchschauen und sich gegen diese Bedingungen zu erheben. „Wann immer auch der Indianer unter den Mühen und Qualen seines Daseins in den Monterias für einen Augenblick nur an Flucht oder gar an Selbstmord denken sollte, erinnerte er sich so­fort des pompösen Candelariafestes in Hucutsin und der unüberwind­lichen Macht jener, denen er zu dienen verpflichtet worden war“. Diese Abhängigkeit hat, wie TRAVEN es am Beispiel der Lebensgeschichte eines Indianers und in den diese Le­bensumstände konstituierenden gesellschaftlichen Verhältnissen.

Die Erhaltung der sozialen Macht durch ihre Träger geschieht entweder indirekt oder direkt mit Hilfe der traditionellen Bindungen. „Celso hat da in Ishtacol­cot ein Mädchen“, erzählt ein Monteria-Arbeiter einem Neuhinzuge­kommenen. „Er hätte sie sich einfach greifen und mit ihr fortrennen können. aber der Junge hat Herz. Das ist sein Fehler. Er wollte dem Vater des Mädchens das nicht antun. Der Vater gibt ihm das Mädchen nicht billig. Sie ist hübsch, stark und gesund. Der Vater meint, daß sie ihm leicht fünfzehn Kinder geben kann, wenn sich der Junge dran­hält. Und darum will der Vater für das Mädchen einen hübschen Berg haben. In Ishtacolcot kann der Celso den Berg nie verdienen. Er hat sich angeboten, für den Vater drei Jahre um das Mädchen zu ar­beiten. Aber der Alte will sichtbare Güter haben. Ich weiß nicht, wieviel Schafe, wieviel Ziegen, Mais, Wolle, Tabak er dem Jungen aufgehängt hat für das Mädchen“.

Celso ist durch List und Betrug in die Hände von Monteria-Agenten geraten, die ihn, da er als einer der tüchtigsten Arbeiter gilt, nach Ablauf der Vertragszeit wiederum einfangen lassen. Aber auch Andres, der lesen und schreiben kann und der „durch seine lange Jahre währende Tätigkeit als Carretero (Karrenschie­ber, d.V.) völlig die Gewohnheiten und die Art des Sprechens der Indianer der kleinen Dörfer abgestreift“ hat , gerät durch mittelbar ausgeübte Macht in die Situation, sich als Monteria-Ar­beiter anwerben zu lassen. Andres hatte sich aufgrund seiner neuen Lebenstätigkeit von der Tradition bereits so weit entfernt, daß sich hier eine Perspektive der Aufhebung feudaler Verhältnisse ab­zuzeichnen begann.

„Einmal für längere Zeit dieser Halbleibeigenschaft ledig und fern der Finca, wo die Macht der Finqueros geringer ist und wo das gleichzeitige Nebeneinanderbestehen von freizügigen Arbeitern und von gebundenen Arbeitern undurchführbar ist, geht der indianische Landarbeiter und seine zukünftige Familie in Finca verloren“.

Eine Finca ohne ständige Arbeitskräfte ist wertlos, „und die ein­zigen Arbeitskräfte, die eine Finca in jenen Regionen haben kann, sind die Familien, die zu jener Finca gehören“. Um zu verhindern, daß die heranwachsenden jüngeren Geschwi­ster Anres‘ und deren zukünftige Familien dem Beispiel An­dres‘ folgen und die Finca verlassen könnten, beschloß der Fin­quero, die Schulden, die der Vater des Andres bei ihm hatte, da­durch einzutreiben, daß er den Vater für die Schuldensumme an einen Werbeagenten der Monterias verkaufte, damit rechnend, daß Andres den Vertrag seines Vaters übernehmen würde.

„Der Junge kam auch wirklich und übernahm den Vertrag seines Va­ters, weil er es nicht ertragen hätte, seinen Vater in der Monte­ria verkommen und sterben zu wissen. So erhielt der Finquero die Schuldsumme in bar ausgezahlt von dem Agenten, gleichzeitig konnte er einen Peon, den Vater des Andres, behalten, und damit hielt er auch die heranwachsenden jüngeren Geschwister des Andres auf der Finca fest und mit Sicherheit die Familien, die jene heranwachsen­den Kinder in wenigen Jahren gründen würden“.

Auf dem 14 Tage dauernden Marsch von fast zweihundert Indianern durch den Dschungel zur Monteria schließt Andres sich Celso und zwei weiteren Indianern an.

In dem folgenden längeren Romanauszug zeigt sich, daß das Problem der Beziehungslosigkeit und Entfremdung gegenüber den Bedingungen und Produkten der eigenen Tätigkeit allein aus der Perspektive des Subjekts nicht zu erfassen ist.

„Es war durchaus natürlich, daß sich diese vier Burschen zusammen­fanden. Sie standen auf der gleichen Stufe angeborener Intelli­genz. Andres, der ehemalige Karrenführer, war der gebildeste. In Zivilisation hatte er es, durch seine Arbeit und eigenen Trieb, am weitesten gebracht“.
„Alle vier, wie der ganze Trupp, waren Mächten verfallen, die stärker waren als sie. Diese Mächte, die das Schicksal dieser vier Burschen, wie aller hier, bestimmte, war für diese Menschen un­sichtbar und ungreifbar. Für sie lag es zu fern, zu erfassen, daß ihr Schicksal bestimmt wurde von dem Diktator Don Porfirio Diaz, dessen Handlungen wiederum beeinflußt wurden von der Idee, daß die Wohlfahrt der mexikanischen Lande nur gewährleistet sein, wenn der Kapitalismus unbeschränkte Freiheiten besitze und der Peon keinen anderen Zweck in der Welt habe, als zu gehorchen und das zu glau­ben, was ihm die Autoritäten, die großen und kleinen Diktatoren, befahlen. Wer andere Ideen hatte hinsichtlich der Rechte der Men­schen, wurde gepeitscht, bis er seine Meinung änderte, oder er wurde erschossen, wenn er solche Ideen verbreitet hatte, oder er kam in das Totental, wenn er landwirtschaftliche Arbeiter zur Re­bellion aufgehetzt hatte.
Gesetzt den Fall, jeder einzelne der hundertneunzig Burschen, die im Trupp maschierten, würden den mächtigen Diktator Don Porfirio irgendwo persönlich eingetroffen haben, wo würde keiner von ihnen auch nur einen Augenblick lang gedacht haben, daß dieser alte, knackrige Mann die Macht sei, die sie zur Monteria kommandierte. Er sah aus wie jeder andere gewöhnliche Mensch, nur daß er es liebte, Orden und Ehrenzeichen anzustecken und in Uniform umherzu­stelzen.
Die Burschen, wenn man sie nach New York hätte bringen und sie in die Büros der Central American Fine Woods and Chickle Corporation hätte führen können, würden ebensowenig geblaut haben, daß diese kleine Armee von Männern, Jungen, Mädchen, die sich hier an Schreibtischchen flegelten, die Macht sei, die sie zu dem Inferno der Monterias verurteilte“

„Sogar die Agenten, die Leute für die Monterias anwarben, wurden von keinem der Burschen als die verhängnisvolle Macht angesehen, deren Gewalt man nicht entweichen konnte.
Alle dieser Männer, der Diktator, seine Minister, die Direktoren der Mahagonikompanien in New York, die Hafenagenten und die Werbe­agenten, schienen selbst wieder von einer größeren Macht gezwungen zu sein, Macht nach unten hin, bis zu den Peones auszuüben. Die Direktoren der Mahagonikompanien, soviel sie auch als die eigent­lichen Herren erschienen, waren nur Angestellte gegen Monatsge­halt. Sie konnten entlassen werden wie die Stenografen und Maschi­nenschreiber in ihren Büros. Ihre Tätigkeit in ihren Grenzen nach oben und nach unten wurde bestimmt von Papierbogen, die man Shares nannte, Acciones, Aktien. Und diejenigen Leute, die jene Shares in ihren Stahlschränken hatten, befahlen den Direktoren, was sie zu tun und was sie nicht zu tun hatten.
So weit freilich vermochte wohl auch der intelligenteste unter den Burschen nicht zu sehen, um herauszufinden, wo die Macht war und wer die Macht in Händen hielt, die über sein Leben verfügte. Jeder einzelne in der langen Kette von Menschen, die in diesem Geschäft ihre Interessen hatten, war an sich völlig unschuldig an all den Härten und Mühsalen und Leider der Caobaarbeiter. Jeder, wenn man ihn befragt hätte, würde geantwortet haben: „Das wußte ich nicht, daß so etwas geschehen kann. Es tut mir sehr leid, und ich will versuchen, ob ich das nicht mildern kann.“

„Wenn es schon unmöglich gewesen wäre, den Peones mit vielen Worten und noch mehr Beispielen zu erklären, daß ein Büro in New York, angefüllt mit emsig und unermüdlich schreibenden und rechnenden Männern und Frauen, die in ewiger Sorge waren, ihre Posten zu ver­lieren, das Schicksal des Trupps bestimmte, der durch den Dschun­gel marschierte, so wäre es noch viel weniger durchführbar gewe­sen, die Peones zu überzeugen und es ihnen klarzumachen, daß nicht eine Person oder eine Anzahl von Personen die Schicksale von Pro­letariern bestimmte, sondern ein System. Und auch der geschickte­ste Agitator, der feurigste Redner hätte nicht einen einzigen Bur­schen in dem ganzen Trupp finden können, dem er auch nur mit ganz geringem Erfolg hätte begreiflich machen können, was ein System sei.
Für diese proletarischen Indianer, selbst den intelligenten Andres nicht ausgenommen, war alles das, was nicht unmittelbar mit einer Person verknüpft werden konnte, unbegreiflich“.

So wie der gemeine Soldat, der sich geschunden und gequält und ge­prügelt sieht, den Militarismus nicht als System erkennt, sondern nur die älteren Kameraen, die ihn nachts verprügeln, und die Un­teroffiiere und Feldwebel, die ihn am Tage und in der Nacht quä­len, und vielleicht noch seinen Hauptmann als den Militarismus an­sieht, der ihm das Leben zur Hölle macht, so sahen auch die Bur­schen in Trupp nur die als die verhängnisvolle Macht an, die ihnen am nächsten waren, die sie sehen konnten, deren Peitschenhiebe sie fühlten. Ihre Haß reichte merkwürdigerweise nicht einmal bis zu den Agenten. Sie entschuldigten die Agenten damit, daß sie sagten, es sei deren Geschäft und deren Auftrag, Leute für die Monterias anzuwerben, wie es das Geschäft von Viehändlern ist, Vieh anzukau­fen für die Fleischverkäufer in den Städten. Die Leute, die sie als Gewalt und die Macht ansahen, weil sie deren Gewalt und Macht unmittelbar fühlten, waren die Capataces, die Zutreiber für die Agenten und die Treiber hier im Trupp.“

„Die Peones, wenn sie in ihrer eigenen Wut nicht zerbersten woll­ten, fühlten keinen anderen Ausweg, als ständig in Aufruhr gegen die Capataces zu sein, nicht nur auf den Transporten, sondern erst recht in den Monterias. Es war ihr steter Gedanke bei Tag und bei Nacht, wenigstens einen Capataz unter ihre Fäuste zu bekommen. So­wenig wie ein geschundener Soldat daran denkt, seine Qualen zu en­den dadurch, daß er das ganze militärische System zu stürzen trachtet, sowenig und noch hundertmal weniger dachte auch nur ei­ner der Peones daran, die Capataces zu beseitigen durch einen ge­meinsamen Angriff auf das Wirtschaftssystem, in dem der Capataz nur ein Werkzeug ist. Das Äußerste, zu dem sie vielleicht in ihrer Hoffnungslosigkeit getrieben werden konnten, war, die Monterias zu zerstören, so wie einige Jahre später die revolutionären Peones im Staate Morelos alle Zuckerfabriken bis auf die untersten Grundmau­ern völlig vernichteten, weil sie die Zuckerfabriken als die Quelle ihrer Leiden ansahen“.

Schlussfolgerung

Die gesellschaftlichen Verhältnisse vermag ein einzelner nicht zu ändern, aber er lernt, so wie der aus Halbleibeigenschaft stam­mende Andres, in Zusammenarbeit mit freien, in entwickelten ge­sellschaftlicher Lebensbedingungen und Lebenschancen seine Hand­lungsmöglichkeiten zu erkennen und eines Tages auch für die Ver­besserung der Lebensbedingungen zu kämpfen.
Welche Bedeutung hätte in solchen sozialen Situationen hermeneuti­sches Verstehen, das nicht über den unmittelbaren Erfahrungshori­zont und die „Lebenswelt“ hinaus orientiert? Die Arbeiter verste­hen die Absicht solcher Aufklärungsmethoden wie die des Regisseurs GÜNEY sehr gut (Interview mit türkischen Arbeitern im ZDF, 08.12.1982), ohne seinen Informationsvorsprung, den er offen zu­gibt (Interview im ZDF), als Anmaßung zu empfinden und sich selbst bevormundet und „agitiert“ zu fühlen.

Was den in leibeigenschaftsähnlichen Verhältnissen lebenden mexi­kanischen Indianern in TRAVENs Roman wie den kurdischen Bauern in GÜNEYs Filmen nicht möglich ist, nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse ohne Hilfe „von außen“ zu durchschauen, vermögen zunächst vereinzelt diejenigen zu leisten, die sich – aufgrund welcher zufälligen Umstände auch immer – von den feudalen Be­schränkungen haben befreien können.

Die Entwicklung der Produktiv­kräfte und der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hat die be­wußte und massenhafte Bekämpfung feudalistischer Strukturen erst möglich gemacht. In dem Maße, in dem der Widerspruch zwischen ge­sellschaftlicher Produktion und privater Aneignung in der kapita­listischen Gesellschaft offenbar geworden ist, hat sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst vereinzelt bei einigen fortschritt­lichen Theoretikern bürgerlicher Herkunft die Kritik an diesen Verhältnissen entwickelt, bis sie von großen Teilen der Arbeiter­bewegung der kapitalistischen Länder aufgegriffen wurde. Mit wel­chem Erfolg, mit welcher Konsequenz usw. ist ein anderes Problem.

Wichtig ist die Feststellung, daß die Fähigkeit der Erkenntnis der eigenen Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auch unter den gesellschaftlichen Bedingungen in der Bundesre­publik Deutschland das wichtigste Ziel pädagogischer Inhalte und Methoden sein muß, die Voraussetzung für gesellschaftlich notwen­diges veränderndes Handeln ist.

Der eigentliche Gegenstand bildungstheoretischer und pädagogischer Überlegungen ist das gesellschaftliche Sein der Individuen, zu dessen Analyse die Subjekte mit Hilfe gesellschaftswissenschaftli­cher Erkenntnisse befähigt und motiviert werden sollen. Über tatsächliche Veränderungen entscheidet die gesellschaftliche Pra­xis, aber es ist die gesellschaftliche Praxis in ihren Bedingungs­zusammenhängen und in ihrer zukünftigen Entwicklung, auf die sich die soziologisch-pädagogische, auf Veränderung orientierte Sub­jektforschung zu konzentrieren hat.

Dabei geht es vor allem um das Problem, welche theoretischen und methodologischen Konsequenzen die Einführung des Persönlichkeitsbegriffs in die soziologische Forschung hat. Die Frage ist, ob und wie die soziologische For­schung, die alternatives, reflexives, kritisches usw. Handeln in die Analyse einbezieht, dieses Handeln nicht als andersartig, son­dern als neues, gesellschaftlich relevantes, notwendiges, zukünf­tiges Handeln erforschen kann. Dies allerdings ist – im Unter­schied zu BRECHT – tendenziell nur möglich über die Analyse der Persönlichkeit, die beide Seiten, sowohl die der gesellschaftli­chen Verhältnissen entsprechenden individuellen Handlungen als auch die Handlungsmöglichkeiten realer, wirklich lebender Subjekte erfaßt
.

Die nächstliegende Frage ist also: Welche theoretischen Annahmen und methodologischen Schritte sind erforderlich, um hinter dem Verhalten, Handeln usw. von Individuen ihr Wesen, d.h. ihre Per­sönlichkeit zu erkennen?


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