Die theoretischen und programmatischen Überlegungen OEVERMANNs gehören zu den gegenwärtig relevantesten Ansätzen zur Sozialisationstheorie in der Bundesrepublik Deutschland.
Kerngedanke der von ihm konzipierten
„soziologischen Sozialisationstheorie, für die im Rahmen einer allgemeinen These der sozialen Konstitution der Ontogenese die rekonstruktive Explikation der Struktureigenschaften der sozialisatiorischen Interaktion im Mittelpunkt stehen sollte“, ist, daß „die Bildung der Strukturen des Subjektes weder als bloße Imprägnaturen von Relationen in der Außenwelt noch als monologische Entfaltungen präexistenter homologer Ausstattungen konzipiert werden müssen“ (OEVERMANN u.a. 1979, S. 353).
OEVERMANN u.a. kritisieren die herkömmliche Sozialisationsforschung, da sie „die für die Sozialisationsvorgänge ursächlichen Mechanismen gleichsan in das sich bildende Subjekt selbst“ hineinverlege.
„Erklärungen werden von der entwicklungsstandsspezifischen Struktur des psychischen Apparates des Kindes in der Weise abhängig gemacht, daß soziale Einflüsse nur soweit von Bedeutung sind, als sie vom Bewußtsein des kindlichen Subjekts als bedeutsam entschlüsselt werden können“ (ebda.).
Die Ablehnung dieser Ansätze, denen OEVERMANN u.a. wegen der Heranziehung psychoanalytischer oder kognitiver Entwicklungstheorien Reduktionismus auf psychologische Erklärungsversuche vorwirft – bei denen die sozialen Faktoren nur als „kontingente Randbedingungen“ für die „Wirkungsweise psychischer Mechanismen“ (OEVERMANN u.a. 1979, S. 353) in Betracht gezogen würden – führt bei OEVERMANN allerdings trotz seines Anspruchs nicht zur Überwindung der Identifizierung von Psychischem und Sozialem.
Das Problem der Determination des Psychischen löst OEVERMANN durch die Soziologisierung von Bewußtseinsprozessen, indem er das Subjekt „auf die Vorstellung von einem dynamischen Medium der Aktualisierung objektiver sozialer Sinnstrukturen“ reduziert (S. 387).
Dadurch scheint der Anspruch, die „soziale Konstitution der ontogenetischen Entwicklungsprozesse“ in den Mittelpunkt der soziologischen Sozialisationsforschung zu rücken, die Grundlagen zu schaffen für eine „genuin soziologische, nicht-reduktionistische Sozialisationstheorie“ (S. 372), gerechtfertigt.
Tatsächlich aber wird gleichzeitig mit der Soziologisierung des Psychischen – sowohl in den theoretisch-methodologischen Überlegungen als auch in der praktisch-empirischen Analyse – das Individuum durch sein Psychisches verdrängt, denn das Individuum wird aufgelöst in nach iniversell gültigen Regeln aufgebauten „latenten Sinnstrukturen“.
Das methodologische Konzept der objektiven Hermeneutik OEVERMANNs zur Aufdeckung latenter Sinnstrukturen ist eines der prägnantesten Beispiele in der gegenwärtigen soziologischen Forschung, die die Verdrängung des Individuums durch seine Psychischen theoretisch zu begründen versuchen.
Mit seinem Verfahren beansprucht OEVERMANN „eine für die soziologische Forschung allgemein bedeutsame hermeneutische Methodologie zu explizieren“ (S. 352). Diese hermeneutischen Verfahren seien „die fundamentalen, die Präzision und Objektivität der Analyse erst sichernden Erkenntnisinstrumente der Sozialwissenschaften“ (S. 352). „Der Begriff der latenten Sinnstruktur nimmt eine Ebene der Realität eigener Art in Anspruch, die … als Realität objektiver Strukturen über den Begriff von der gesellschaftlichen Realität bei MARX analytisch hinausgeht, ja diesen überhaupt erst zu begründen erlaubt“ (S. 381).
Zwar wird die gesellschaftliche Realität als Resultat der Aktivitäten von Individuen verstanden, aber das Bewußtsein, etwa in Form latenter Sinnstrukturen, wird nicht aus der gesellschaftlichen Realität abgeleitet, sondern aus dem gesellschaftlichen Bewußtsein. Das gesellschaftliche Bewußtsein wiederum basiert bei OEVERMANN nicht auf dem gesellschaftlichen Sein, sondern auf der das gesellschaftliche Sein längst nicht erfassenden Sozialität der Individuen, die im Begriff der Interaktion abstrahiert ist.
Obwohl OEVERMANN u.a. den Vorwurf der Psychologisierung sozialen Verhaltens strikt zurückweisen, bildet die psychoanalytische Theorie mit ihren Begriffen des Unbewußten und der unbewußten Triebrepräsentatnzen dennoch ausdrücklich einen Eckpfeiler der theoretischen Konzeption OEVERMANNs (OEVERMANN 1979, S. 368), die seine Sozialisationstheorie entscheidend beeinflußt.
Während sich die besonders von der phänomenologischen Ethnomethodologie und dem Symbolischen Interaktionismus beeinflußten theoretischen Ansätze stärker dem Problem der Wechselwirkung zuwenden und ihre qualitativen Forschungen, einschließlich biographischer Methoden, gegen den Neopositivismus gewandt entwickeln, geht die strukturalistisch geprägte Konzeption qualitativer Sozialforschung bei OEVERMANN in ihrem Kerngedanken Hand in Hand mit positivistischen Überlegungen.
In der Kritik des Symbilischen Interaktionismus, der „mit seinem zentralen Begriff der sozialen Definition der Situation beziehungsweise der sozialen Definition der Realität“ in der Gefahr sei, „soziale Realität letztlich andie subjektiv-intentionale Realisierung von Sinn zu binden“ stellt OEVERMANN fest, daß er für seine objektive Hermeneutik POPPER als „überraschenden Kronzeugen“ in Anspruch nehmen kann (S. 382 f.). „Poppers Konzeption der Welt 3, der Welt der Argumentationsstrukturen, deckt sich sinngemäß mit unserem Konzept der latenten Sinnstrukturen“ (ebda.). Es wird angekündigt, daß an späterer Stelle weitere, „für manche vielleicht überraschende Parallelen zur Popperschen Logik der Forschung zu identifizieren sein“ werden (ebda.).
OEVERMANN behauptet, mit der objektiven Hermeneutik eine Methodologie zu entwickeln, die nicht nur als ein „für die Soziologie allgemein geltendes forschungslogisches Programm“ (OEVERMANN 1979, S. 354) Gültigkeit beansprucht, sondern am Anfang der sozialwissenschaftlichen Analyse sowohl in der Soziologie als auch in der Sozialpsychologie, der Psychoanalyse oder der Geschichtswissenschaft zu stehen habe (S. 377). „Konkreter Gegenstand der Verfahren der „objektiven Hermeneutik“ sind Protokolle von realen, symbolisch vermittelten sozialen Handlungen oder Interaktionen, seien es verschriftete, akustische, visuelle, in verschiedenen Medien kombinierte oder anders archivierte Fixierungen“ (S. 387).
Die theoretischen eckpfeiler der „objektiven Hermeneutik“ sind der von LEVI-STRAUSS entwickelte Strukturalismus, die CHOMSKYsche Kompetenztheorie, die Psychoanalystische Theorie mit ihrem Begriff des Unbewußten und der unbewußten Triebrepräsentanzen und „eine von Georg Herbert Mead her zu entwickelnde Theorie der Evolution von gattungspezifischen Interaktionsstrukturen und des MEADschen Modells des „taking the attitude of the other“ (S. 268, S. 381).
Außerdem baut OEVERMANN offenbar auch auf Ansätzen von PIAGET auf (vgl. OEVERMANN 1976, S. 34).
Im Mittelpunkt der Sozialisationstheorie habe „im Rahmen einer allgemeinen These der sozialen Konstituion der Ontogenese die rekonstruktive Explikation der Struktureigenschaften der sozialisatorischen Interaktionen“ zu stehen (OEVERMANN 1979, S. 353). OEVERMANN betrachtet die Strukturen der individuellen Entwicklung als identisch mit denen der sozialen Entwicklung. Individuelle Entwicklung (Ontogenese) und soziale Entwicklung (Phylogenese) fallen zusammen. Deshalb kann in der „objektiven Hermeneutik“ auch auf das Subjekt, das konkrete, handelnde Individuum verzichtet werden. Die Konstituion von latenten Sinnstrukturen beruht nach OEVERMANN nicht auf Leistungen des Subjekts, „…sondern es sind die interaktionsstrukturinhärenten Regeln verschiedenen Typs, „syntaktische“ Regeln, pramatische Regeln, Regeln der Sequenzierung von Interaktionen, Regeln der Verteilung von Redebeiträgen, usf., die interaktionsgenerativ die latenten Sinnstrukturen konstituieren“ (S. 370).
Die Entwicklung des Subjekts zeige sich in der Bildung seiner Strukturen, die „das Ergebnis von Rekonstruktionen darstellen, die das sich bildende Subjekt an den unabhängig von seinen Vorausstattungen konstituierten Strukturen seines praktischen Handelns, eben jenen Struktureigenschaften sozialisatorischer Interaktion vornimmt“ (OEVERMANN 1979, S. 353).
Die „spezifische Leistungsfähigkeit der sozialisatorischen Interaktion“, das charakteristische Merkmal der Sozialisation bzw. der individuellen Entwicklung ist für OEVERMANN die – beim Kind noch gering entwickelte Fähigkeit, in den sozialisatorischen Interaktionen, an denen das Individuum teilnimmt, den Sinn objektiver, latenter Bedeutungsstrukturen zu erkennen. Entwicklung ist identisch mit der Erweiterung der „Sinninterpretationskapazität“ (S. 353).
PIAGET dagegen versteht, wie bereits dargestellt, unter Entwicklung immer die Entwicklung der Persönlichkeit. Die Denkprozesse und -strukuren sind nicht identisch mit dem Subjekt, sie sind verwandelte „materielle Verhaltensweisen“ (PIAGET 1972, S. 204 f.). Das Denken tritt bei ihm als Resultat des kindlichen Entwicklungsprozesses, der Tätigkeiten des Kindes, und als Bedingung für die Entwicklung der Persönlichkeit auf. Insofern haben die von OEVERMANN dargelegten „latenten Sinnstrukturen“ mit der Auffassung PIAGETs kaum noch etwas gemeinsam, da die Denkprozesse nun vollends aus der Tätigkeit, die bei PIAGET die Verbindung zwischen den objektiven Bedingufngen und den psychischen Vorgängen herstellte, herausgelöst und auf innerpsychische Prozesse reduziert werden.
Die „latenten Sinnstrukturen“ stellen für OEVERMANN eine „soziale Realität von objektiven Dedeutungsstrukturen“ dar, „die bezogen auf die Ebene des in den Handlungstheorien und im Symbolischen Interaktionismus in den Vordergrund gerückt „subjektiv gemeinten Sinnes“ eine Realität von Möglichkeiten darstellen“ und nicht auf die „subjektiv intentionalen Repräsentanzen“ verweisen (OEVERMANN 1979, S. 368). OEVERMANN entwickelt seine Fragestellung nicht weiter in Richtung auf die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in Richtung auf das aus der Psychoanalyse abgeleitete Vor- und Unbewußte (S. 377). Abweichend von der FREUDschen Definition des Vorbewußten, das im Unterschied zum Unbewußten als psychische Instanz logisch strukturierter Leistungen eines aktiven kritischen Ich-Bewußtseins fähig ist, erhält dieser Begriff bei OEVERMANN einen anderen Sinn. Das Vorbewußte gilt als „Teil der intuitiven Erkenntnis“.
„Die Bildungen des Vorbewußten gehen in dieser Interpretation nicht auf aktive Konstruktionen eines kritischen Bewußtseins zurück, sondern wären Sedimente einer freischwebenden Wahrnehmung von Handlungstexten, deren Bedeutung gewissermaßen sozial vorgedacht sind und jederzeit nachträglich rekonstrukiert werden können, sofern diese Texte nicht der Verdrängung unterliegen und dem Unbewußten nicht überantwortet werden“ (OEVERMANN 1979, S. 378).
Die methodologischen Überlegungen OEVERMANNs gehen von der Annahme aus, daß die Individuen unfähig sind, eine Interpretation des Sinns ihres Handelns bzw. Verhaltens vorzunehmen.
„Generell wird man annehmen können, daß Menschen nur in Ausnahmefällen in der Lage sind, auf der Ebene von latenten Sinnstrukturen Bedeutungszusammehänge zu entschlüsseln, die erst nach langwierigen und recht komplizierten praktischen Schlüssen und unter der Bedingung der Handlungsentlastetheit und Nicht-Betroffenheit expliziert werden können“ (S. 366).
In einem von OEVERMANN aufgezeigten Beispiel über das Vorgehen der „objektiven Hermeneutik“ wird dem Interviewten, einem Familienvater, aufgrund einer einzigen Äußerung zu Beginn des Interviews unterstellt, er haben den „objektiv disqualifikatorischen Sinn seiner Äußerung nicht wahrgenommen, geschweige denn antizipiert“ (S. 364). Dies wird behauptet, obwohl sich nach Einschätzung des Interviewers in dieser Äußerung der „Kernkonflikt der Familie“ ausdrücke.
Das extrem psychologisierende und spekulative Verfahren zeigt sich in der Begründung dieser Einschätzung: „Daß der Vater das alles nicht bemerkt und nicht verhindern kann, dafür sind neben seinen spezifischen (!) zwanghaften (!) Strukturen (!) sicher auch (!) die typischen (!) Wertorientierungen eines kleinen selbständigen Kaufmannes (!) verantwortlich …“ (S. 364; Ausrufungsz. vom Verf.). Wenn die Nicht-Betroffenheit wirklich die Voraussetzung wäre für die Analyse von Bedeutungszusammenhängen, so müßten etwa bei ökonomischen oder politischen Streiks den Streikenden prinzipiell eine fehlende Erkenntnis der Bedeutungszusammenhänge unterstellt werden, sofern Betroffenheit angenommen werden kann! Oder es wird schlicht eine „Betroffenheit“ der Streikenden in Frage gestellt, sofern sie nämlich die Bedeutungszusammenhänge erkennen.
Beide Variationen finden praktische Anwendung in gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und können die Funktion erhalten, z.B. Instandbesetzer, Demonstranten, Teilnehmer der Friedensbewegung usw., die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung politischer Maßnahmen abzusprechen.
OEVERMANN betrachtet die Hermeneutik und die ihr entsprechenden Verfahren der Sinnauslegung als „die grundlegende Operation des Messens bzw. der Erzeugung theorierelevanter Daten“ (OEVERMANN 1979, S. 352). Nicht-hermeneutische Verfahren werden gleichgesetzt mit der quantifizierenden Sozialforschufng, die, „ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der forschungsökonomischen Abkürzung des Datenerzeugungsprozesses unter zu spezifizierenden Bedingungen gerechtfertigt werden können“, standardisierte Formen der Datenerzeugung anwende (ebda.).
Abgesehen davon, daß die forschungsökonomische Verlängerung des Datenerzeugungsprozesses vielleicht Arbeitsplätze sichert, aber noch lange nichts über den Wert der gefundenen Daten aussagt, ist die pauschale Ablehnung quantitativer Verfahren wissenschaftlich nicht haltbar. Es lassen sich z.B. erst mit Hilfe statistischer Verfahren soziale Probleme in ihrer gesellschaftlichen Relevanz erkennen, nicht einfach ander Häufung ihres Auftretens, sondern an der erst in der Häufigkeit feststellbaren Konzentration auf bestimmte Aspekte gesellschaftlicher Widersprüche und Probleme, Verhältnisse der Individuen untereinander und damit auch tendenziell Lösungsmöglichkeiten.
Der Absolutheitsanspruch, daß allein die hermeneutischen Verfahren in den Sozialwissenschaften ein ihnen adäquates Vorgehen böten, unter denen der „objektiven Hermeneutik“ eine eindeutige Vorrangstellung eingeräumt wird, erscheint mehr als fragwürdig.
Hat die „objektive Hermeneutik“ tatsächlich eine allgemeine forschungslogische Bedeutung, wie behauptet wird? Dann müßte ihr Gegenstand zugleich der die Sozialwissenschaften überhaupt erst konstituierende Gegenstand sein. Ist die Sinnauslegung von Strukturen wirklich der eigentliche Aufgabenbereich der Sozialwissenschaften?
Wenn von OEVERMANN Geschichte als „die Sukzession der Realisierungen von objektiven Sinnstrukturen praktischen Handelns auf der kollektiven Ebene“ (S. 390) definiert wird, dann wird von ihm die Theorie der Geschichte zugeschnitten auf die Methodologie der Objektiven Hermeneutik.
Die methodologischen Prinzipien und Regeln OEVERMANNs gehen nicht aus der Erforschung und Kenntnis historischer Entwicklungsgesetze und -prozesse hervor, sondern letztlich aus dem System von Methoden.
Die „objektive Hermeneutik“ wird von OEVERMANN von der traditionellen Hermeneutik abgegrenzt, da es bei der Sinnauslegung unter soziologischem Aspekt nicht auf die Erforschung des subjektiv gemeinten Sinns ankomme, sonder auf die Rekonstruktion objektiver latenter Sinnstrukturen, die sich unabhängig von den Intentionen der Subjekte als soziale Realität konstituieren. In Anlehnung an die Psychoanalyse bestimmt OEVERMANN sie auf folgende Weise:
„Die latenten Sinnstrukturen sind zwar von in der Zeit produzeirten Texten generiert worden, aber sie sind als solche zeitlos. Zeitlich und historisch ist dagegen der Prozeß iher Interpretation, den wir ja als historischen, von jweils soziohistorisch geltenden Weltdeutungen und Normensystemen abhängigen Prozeß der subjektiv-intentionalen Realisierung fassen“ (OEVERMANN 1979, S. 390).
Die Widersprüchlichkeiten im Bewußtsein resultieren jedoch nicht, wie OEVERMANN annimmt, aus der Triebdynamik, sondern aus der Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Seins der Individuen.
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß aus dem gesellschaftlichen Sein die Formen des Bewußtseins unmittelbar abzuleiten wären, so daß etwa aus der Analyse des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Gesellschaft, des Widerspruchs zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und der privaten Form der Aneignung, ein bürgerliches Bewußtsein einerseits und ein proletarisches, sozialistisches andererseits resultiert. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:
In einer Befragung deckte von HEISELER folgenden Widerspruch auf: Etwa 43 % der Befragten stimmten gleichzeitig folgenden zwei Aussagen zu:
- „Wir haben hier eine stabile Demonkratie, die beiden großen Parteien entsprechen auch den Meinungen im Volk; und das ist gut so.“
- „Letztlich bestimmt das Kapitel, was in der Politik geschieht; erst wenn diese Oberklasse entmachtet ist, können wir eine richtige Demokratie aufbauen “ (BRAUN u.a. 1980, S. 42).
Würden wir diesen Widerspruch aus der theoretischen Annahme, daß ein bürgerliches Bewußtsein einerseits und ein proletarisches Bewußtsein andererseits existiert, zu erklären versuchen, dann würden wir ihn als logischen Widerspruch analysieren und nicht als dialektischen. Wir würden möglicherweise zu dem Schluß kommen, daß wir es in einem großen Ausmaß mit Schizophrenie zu tun haben. Das allerdings wäre ein Verzicht auf die Erforschung der Dialektik der Bewußtseinsprozesse und -entwicklung, der bestimmte individuelle Formen der Problemlösung und der im Verlauf der Lebenstätigkeit entwickelten Problemlösungsstrategien entsprechen.
Diese dialektische Beziehung zwischen objektiver Realität und subjektiver Wahrnehmung, die in der marxistischen Widerspiegelungstheorie begründet wird, und die nichts mit einer mechanischen Abbilung objektiver Bedingungen auf individuelles Verhalten zu tun hat, kann die „objektive Hermeneutik“ nicht erfassen.
Aus diesem Grunde stellt sie auch nicht die Frage, die dem dialektischen Prinzip zu eigen ist, die Frage nach der Widersprüchlichkeit und Einheit von richtigem und falschem Bewußtsein und die Frage nach der vorantreibenden Seite des Bewußtseins und seinen verschiedenen Entwicklungsformen.
Dementsprechend werden die vom Individuum im Verlauf seiner Sozialisation erweiterten, verbesserten „Lesarten objektiver latenter Sinnstrukturen“ auch nicht auf das die gesellschaftlichen Bedingungen verändernde Handeln bezogen.
Die zentrale Frage der „objektiven Hermeneutik“ ist die nach den „zugrundeliegenden Regeln, die für die Interpretation der jeweiligen Sachverhalte bestimmend sind“ (NEUENDORF 1980, S. 47). Diese Frage ist insofern von Bedeutung, als sie die Aufmerksamkeit auf die Routinen im Alltagsdenken und -handeln lenkt. Werden diese „Regeln“ abgeleitet aus dem Tätigkeitsprozeß der Individuen, dann können die Routinen als eine, sich auf die Tätigkeit gründende bestimmte Art und Weise der Aneignung der Realität verstanden werden, in der Subjekt und Objekt die beiden Pole der Tätigkeit darstellen und sich Subjekt und (anzueignendes) Objekt nicht einander gegenüberstehen. Für die „objektive Hermeneutik“ geht es bei der Erforschung der Interpretationsregeln jedoch um die Erforschung der „Logik der Argumentation“ (S. 46). Mit diesem Verfahren könnte also durchaus ein solcher Widerspruch, wie der von HEISELER aufgezeigte, gelöst werden, vorausgesetzt, daß er lediglich als logischer Widerspruch betrachtet wird und nicht in seiner gesellschaftlich historischen Bedingtheit.
Der im Prinzip antihumanistische Strukturalismus der „objektiven Hermeneutik“ wird theoretisch fundiert durch die Verbindung hermeneutischer Verfahren mit strukturalistischen Ansätzen der französischen soziologischen Schule. Kennzeichnend dafür ist das formalisierte Herangehen an die historischen und sozialen Erscheinungen.
Die strukturalistischen Konzeptionen sind mit der Aufgabe, in die gesellschaftlich historischen Zusammenhänge individuellen Denksn und Handelns einzudringen, überfordert. Von daher sind sie auch nicht in der Lage, eine pädagogische Konzeption zu entwickeln, in der die Entwicklung der Persönlichkeit als Bedingung für die Entwicklung der Gesellschaft, wie PIAGET es zumindest angedeutet hat, eine Rolle spielen kann.
Die grundlegenden Positionen des Strukturalismus finden sich in den Arbeiten von Claude LEVI-STRAUSS, die ihrer Aktualität wegen im folgenden problematisiert werden.