Die Persönlichkeit des Individuums stellt einen zentralen Bezugspunkt in der soziologischen Forschung dar, sowohl im Hinblick auf die Analyse gesellschaftlicher Prozesse als auch im Kontext individueller Entwicklung. In diesem Kapitel wird untersucht, wie Persönlichkeit als theoretisches und hypothetisches Konstrukt verstanden wird, welche Rolle sie bei der Vergesellschaftung des Individuums spielt und wie sie sich in der Lebenstätigkeit und gesellschaftlichen Entwicklung manifestiert. Ziel ist es, den Begriff der Persönlichkeit im Spannungsfeld zwischen individueller Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Strukturen neu zu bestimmen.
In den „Umweltbedingungen“ in der Hochschule (z.B. Akademische Freiheit/Grad der Standardisierung, Partizipation und Kommunikation/Vereinzelung und Isolation, Interdisziplinarität/Beschränkung auf Fachstudium, Gesellschafts- und Praxisbezug/“Reine“ Theorieorientierung) sieht DIPPELHOFER-STIEM die entscheidenden Bedingungen, die fördernd oder hemmend auf die Entwicklung der Persönlichkeit einwirken.
Persönlichkeit sei zu erkennen an der Kritikfähigkeit, Autonomie, Rationalität und an der sozialen Verantwortungsbereitschaft. Dabei ist das Leitbild die „autonome Persönlichkeit“ mit „sozialer Verantwortungsbereitschaft“ (DIPPELHOFER-STIEM 1981). DIPPELHOFER-STIEM sieht in der Kommunikation und Partizipation im Studium eine „wichtige Bedingung für die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit und für die Herausbildung sozialer Verantwortungsbereitschaft“ (S. 5).
Die Frage danach, welchen Beitrag die Hochschule zur Entwicklung der Persönlichkeit leistet, erlaubt jedoch keine Einschränkung der Fragestellung auf die Institution Hochschule bzw. auf die Umweltbedingungen in der Hochschule, sondern erfordert die Untersuchungen des Verhältnisses zwischen Hochschule und außer-hochschulischem Bereich einschließlich ihrer gesellschaftlichen Funktionsbedingungen in Hinsicht auf die Entwicklung der Persönlichkeit. Dies ist u.a. deshalb notwendig, weil nicht anzunehmen ist, daß die nicht auf die Institution Hochschule eingrenzbaren Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung während des Studiums aufgehoben sind.
Bei KELLERMANN fallen „Persönlichkeit“ und „Status“ zusammen. Auf der „Ebene des Subjekts“ führe die Interdependenz zwischen Status und Sozialbewußtsein (Orientierungen – Perzeptionen, Interpretationen, Legitimationen – gegenüber sich selbst und der Umwelt) dazu, daß sich „Status und Handeln in der Vermittlung von Interessen und Orientierungen“ einander stützen, „wobei die Richtung des Handelns – innovativ und reproduktiv, mobil oder immobil, kritisch oder affirmativ – vom Grad der erreichten Statusimplementation beziehungsweies der Statusaspiration abhängig ist“ (KELLERMANN 1981, S. 2).
Die Orientierungen und Handlungsintentionen seien, und dies sei „anthropologisch begründbar“, von einer „affirmativen Grundausrichtung“ (ebda.). Sie können sich nur dann zu „kritischem Impetus“ entwickeln, „wenn gesellschaftliche Verhältnisse als soziales Leid erfahren, Alternativen gewußt und keine Einbußen an erstrebtem Status befürchtet werden („Parsival-Theorem“)“ (S. 2 f.).
Persönlichkeitsentwicklung findet für KELLERMANN statt, wenn durch Entsprechung von persönlichen Interessen und Bedürfnissen mit den institutionellen Funktionen oder den „systematischen Imperativen“ („Imperative des Gesamtsystems“) die „Übernahme von sozialen Positionen mit entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Entfaltung und mit entsprechenden persönlichen Statusentwicklungsmöglichkeiten“ gefördert würde (S. 2).
Der „Widerspruch von persönlichen Interessen und Bedürfnissen mit den institutionellen Funktionen oder systematischen Imperativen“ hindere die „Übernahme von sozialen Positionen mit entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Entfalung und mit entsprechenden persönlichen Statusentwicklungsmöglichkeiten“ (ebda.).
KELLERMANN verwendet den Begriff Tätigkeit nicht im Sinne konkreter Tätigkeit der Individuums, sondern als die „nach dem Erwerb der Hochschulreife aufgenommene Tätigkeitsart“, die durch ihre
„spezifischen sozialen Begleitumstände die Orientierungen (Perzeptionen, Interpretationen, Legitimationen) gegenüber sich selbst und der Umwelt – also das „Sozialbewußtsein“ – beeinflußt. Überdies erwarten wir, daß die jeweilige Tätigkeitsart nicht nur sozialbedingt gewählt wurde („Barrieretheorem“), sondern auch in besonderer Weise Statusentwicklung definiert“ (S. 1).
LUCKMANN verwendet statt des Begriffs Persönlichkeit den der „persönlichen Identitäten“ (LUCKMANN 1981, S. 59). Die Entwicklung des historisch konkreter Individuen“ (ebda.).
Die „Gesellschaftlichkeit des Menschen“ ist bei LUCKMANN definiert durch „die Vorgegebenheit einer besonderen historischen Sozialstruktur und die Geschichtlichkeit einer von der Sozialstruktur getragenen, diese als einen subjektiv faßbaren, objektiven Sinnzusammenhang jedoch zugleich auch konstituierenden Weltauffassung“ (LUCKMANN 1981, S. 55).
Die Gesellschaftlichkeit des Individuums besteht darin, daß Sozialstruktur und Weltauffassung die „unmittelbaren sozialen Bedingungen, in die das Kind von Anfang an gestellt ist“ bestimmen und in „historisch besonderer Weise“ die „frühesten unmittelbaren Sozialbeziehungen, die in der Primärsozialisation eine entscheidende Rolle spielen“, prägen. Geprägt sind auch „die mittelbaren gesellschaftlichen Beziehungen, die später den Menschen in eine der konkreten Umwelt übergeordnete komplexe Sozialwelt eingliedern“ (S. 55 f.).
Die Gesellschaftlichkeit wird ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Anpassung von Normen gesehen: „Die Normen einer geschichtlichen Gesellschaftsstruktur und Weltauffassung bestimmen zunächst einem den Charakter der frühesten Sozialbeziehungen, in die das Kind hineingestellt ist“ (S. 57).
Der Lebenslauf des Menschen wird von Sozialstruktur und Weltauffassung bestimmt, ist aber „bis zu einem gewissen Grad empirisch offen und geschichtlich wandelbar“ (ebda.). Dies leitet LUCKMANN daraus ab, daß „das Verhalten des Individuums nicht nur von Regeln gesteuert wird, sondern sich auch an Regeln bricht“ (ebda.). Woraus sich die Verletzung einer Regel ergibt, ist nicht einsehbar. Der Widerspruch zu den Normen existiert bei LUCKMANN nur wesentlich auf der Ebene des Bewußtseins und nicht im praktischen alltäglichen Handeln. Denn die „Leiblichkeit“ des Menschen ist nich identisch mit seinem konkreten Sein, seiner realen Existenz und Tätigkeit, sondern als die in leiblicher Form der Individuen ausgedrückte gesellschaftliche Erfahrung.
„Der Leib der Mitmenschen wird als Ausdrucksfeld für ihre Bewußtseinsvorgänge erfaßt. Insofern die Mitmenschen ein Individuum als Bestandteil ihrer Umwelt erfahren, ihm Aufmerksamkeit schenken, auf es zu handeln, bekommt der einzelne unmittelbar die Erfahrung eines anderen von sich selbst zu fassen“ (S. 58).
Die Gesellschaftlichkeit des Individuums besteht also einerseits in seiner Abhängigkeit von bei seiner Geburt vorgegebenen Strukturen und Weltauffassung und andererseits in der Ausbildung personaler Identität, die sich, abhängig von den Strukturen der Weltauffassung, intersubjektiv aufbaut. „In leiblicher Gegenwart, in der konkreten Intersubjektivität, baut sich die Erfahrufng von sich selbst in der Erfahrung der Erfahrungen des anderen auf“ (LUCKMANN 1981, S. 58).
Die „persönlichen Identitäten“ sind „Strukturen in der Zeit: sinnstiftende und sinnmotivierte Steuerungsprinzipien subjektiven Bewußtseins“ (ebda.).
Der Begriff der Persönlichkeit wird in der Soziologie zunehmend häufig angewandt, aber die Definitionen sind so unterschiedlich wie die Soziologen, die über ihn schreiben. Gemeinsam ist in den nicht-marxistischen Positionen die Auffassung, daß die Persönlichkeit keinen empirisch-konkreten Sachverhalt bedeutet,
„sondern einen THEORETISCHEN INTERPRETATIONSBEGRIFF, ein „geistiges Gebilde“, das der Forscher gewissermaßen „ERFINDET“, um die Unterschiedlichkeit der Ausprägung empirischer Sachverhalte bei verschiedenen Menschen aufzuklären“ (HERRMANN 1972, S. 32; vgl. dazu LEWIN 1963, FEIGL 1959, CRONBACH-MEEHL 1955, WOODWORTH-SCHLOSBERG 1960, HÖRMANN 1964; s. auch HOLZKAMP 1965).
„Persönlichkeit ist danach ein THEORETISCHES BZW: HYPOTHETISCHES KONSTRUKTUM“ (HERMANN 1972, S. 32).
Die Persönlichkeit eines Rechnenden, zu der auf dem Weg der Feststellung von Leistungsvarianz Zugang gewonnen werden könne, erschließe sich nicht direkt, sondern nur über konkrete Konstrukte, z.B. Neurotizismus, manifeste Angst, Leistungsmotivation, Anspruchsniveau u. dgl. (S. 32). Diese Konstrukte ergeben ein übergreifendes Konstruktum: die Persönlichkeit des Rechnenden.
Die Identifizierung von Persönlichkeit und die von ihr realisierten Handlungen (Rechnen) in einem übergeordneten Psychischen ist nicht nur in der Psychologie weit verbreitet, sondern hat auch über die soziologische Pädagogik Eingang in die Sozialisationsforschung gefunden und somit auch in die Definition der Handlungskompetenz. Wenn es also darum geht, den Begriff Handlungskompetenz als Ziel didaktischer Prozesse neu zu bestimmen, dann geht dies nur über eine Theorie der Persönlichkeit, die eine Bestimmung individuellen gesellschaftlichen Handelns ermöglicht, von dem allein die Kompetenz abgeleitet werden kann, die nicht auf Anpassung abzielt.