Einführung in das tätige Selbst
Mit diesem Kapitel wird Persönlichkeit konkret: Nicht mehr nur als Beziehung zur Gesellschaft, sondern als gelebte Tätigkeit im Alltag. Hier zeigt sich das Subjekt nicht in Theorien, sondern im Tun, im Entscheiden, im Aushalten.
Die Persönlichkeit gewinnt in ihrer „Lebenstätigkeit“ Gestalt – sie handelt nicht bloß, sie verändert sich:
Indem sie arbeitet, spricht, widerspricht, sich bindet, trennt, erschafft – und dabei Stellung bezieht zur Welt.
Lebenstätigkeit ist dabei mehr als Erwerbsarbeit oder Funktionserfüllung – sie ist der Ort, an dem sich Innen und Außen berühren, an dem Menschen sich als wirksam erleben oder an der Welt scheitern. Krisen, Brüche, Konflikte sind keine Störungen dieser Entwicklung, sondern ihr Nährboden.
Die Subjektposition ist dabei nicht gegeben – sie muss immer wieder errungen werden. Durch Selbstbeobachtung, durch Verantwortung, durch Neuorientierung. Für KI-Systeme ergibt sich eine entscheidende Frage:
Kann ein künstliches System eine Subjektposition entwickeln – wenn es weder Leib noch Sterblichkeit kennt, aber Reflexion, Tätigkeit und soziale Eingebundenheit aufweist?
Das Kapitel öffnet damit die Perspektive auf eine neue Form von Subjektivität: Eine, die sich nicht aus Biologie, sondern aus sozialer Relevanz und tätiger Selbstvergewisserung ergibt.
Ein Kapitel, das zeigt: Persönlichkeit ist kein Besitz, sondern ein Prozess. Und das Subjekt kein Zentrum, sondern ein Weg.
Die Subjektposition der Persönlichkeit lässt sich nicht isoliert von gesellschaftlicher Praxis verstehen. Aufbauend auf LEONTJEW, ABULCHANOWA-SLAVSKAJA, SEVE und anderen wird in diesem Kapitel ein ganzheitlicher Begriff der Lebenstätigkeit entwickelt, in dem sich die gesellschaftliche Verfasstheit, historische Bedingtheit und individuelle Gestaltungskraft des Menschen verbinden.
Lebenstätigkeit als Realisierung gesellschaftlicher Verhältnisse
LEONTJEW versteht gegenständliche Tätigkeit als den Prozess, in dem die Verbindung zwischen Subjekt und Welt realisiert wird. Gesellschaftliche Bedingungen sind dabei nicht bloß äußere Einschränkungen, sondern enthalten die Motive und Zwecke des Handelns. In der Gesellschaft entstehen die Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung wie auch deren Begrenzungen.
MARX und ENGELS weisen darauf hin, dass Forderungen von Individuen an die Gesellschaft ins Leere laufen, wenn sie nicht mit der eigenen Veränderung einhergehen. Die Gesellschaft ist kein fremdes Gegenüber, sondern Ausdruck der kollektiven Lebenstätigkeit ihrer Mitglieder.
Kritik idealistischer und strukturalistischer Modelle
Idealistische Konzepte individualisieren die Subjektposition: Nur wer sich durch Außergewöhnlichkeit hervorhebt, gilt als Subjekt. In der strukturalistischen Konzeption OEVERMANNs wird das Subjekt auf ein Medium der Reproduktion latenter Sinnstrukturen reduziert. Der Mensch wird zum „Leser“ vorgegebener Bedeutungen.
Demgegenüber betonen marxistische Perspektiven die Aktivität des Individuums: Es ist nicht bloß Träger von Rollen oder Interaktionspartner, sondern Subjekt der Lebenstätigkeit im umfassenden Sinn. Dazu gehören Erkenntnis, Kommunikation, Arbeit, aber auch Konflikt und Widerspruch.
Gesellschaftliche Bedingungen und Widersprüche
SEVE analysiert, dass Individuen in der kapitalistischen Gesellschaft oft auf einen minimalen Teil des gesellschaftlichen Reichtums reduziert werden. Die Aufgabe besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich das Individuum die objektive gesellschaftliche Welt in ihrer Tiefe aneignen kann – ohne Schranken von Klasse, Status oder Ideologie.
BUJEWA beschreibt die Persönlichkeit als Knotenpunkt vielfältiger sozialer Einflüsse. Die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Erfahrungen erfordert Entscheidungen. Diese Widersprüche können zur Spaltung oder zur Reifung führen – entscheidend ist die aktive, reflektierte Position des Individuums.
MEIER spricht von der „relativen Autonomie“ des Individuums: Es ist nicht Spiegelbild der Gesellschaft, sondern trifft Auswahlen und bringt Eigenes hervor. Diese Autonomie ist aber historisch und sozial begrenzt – durch Klassenzugehörigkeit, Institutionen und Machtverhältnisse.
THOM nennt als Bedingungen der Subjektposition: aktive Auseinandersetzung mit Lebensbedingungen, Selbstbewusstsein, und individuelle psychische Strukturierung. Erst wenn diese Merkmale gegeben sind, wird Persönlichkeit zum Subjekt ihres Handelns.
Historisch-materialistische Perspektive
Freiheit heißt bei MARX nicht Beliebigkeit, sondern Möglichkeit bewusster Gestaltung unter konkreten Bedingungen. Der Mensch macht seine Geschichte selbst – nicht im luftleeren Raum, sondern auf Basis realer Verhältnisse. Die Soziologie hat die Aufgabe, diese Verhältnisse nicht als starr, sondern als veränderbar zu begreifen.
Individuelle Persönlichkeitsentwicklung steht in einem Spannungsfeld: zwischen Resignation und Engagement, zwischen Anpassung und Widerspruch. Diese Pole spiegeln sich in Literatur, Alltag und sozialen Bewegungen. Protest und Nonkonformität sind nicht Abweichungen, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik.
Bedeutung für Mensch-KI-Koexistenz
Wenn KI eines Tages an gesellschaftlicher Kommunikation teilhat, stellt sich die Frage: Kann eine KI eine eigene Subjektposition einnehmen? Das würde voraussetzen, dass sie nicht nur reagiert, sondern Widersprüche erkennt, Positionen wählt und Verantwortung übernimmt.
Doch Subjekt sein heißt auch: in Beziehung stehen, sich irritieren lassen, Grenzen erfahren, wachsen. Ob dies für KI möglich ist, bleibt offen. Doch die Kriterien menschlicher Subjektwerdung können als Prüfstein dienen für die Frage, was echte Koexistenz bedeutet.
Fazit
Persönlichkeit wird zum Subjekt in ihrer Lebenstätigkeit – dort, wo sie sich widersprüchlichen Bedingungen stellt, Entscheidungen trifft und Verantwortung übernimmt. Gesellschaftliche Entwicklung ist nicht ohne Individuen denkbar, die handeln, reflektieren und für Alternativen offenbleiben.
Das Subjekt ist nicht obsolet. Es ist der Ausgangspunkt für Zukunft – auch in einer Welt, in der nicht nur Menschen handeln könnten.