Erkenntnistätigkeit ist niemals ein rein mechanischer Prozeß der Aneignung von Wissen, sondern immer auch Ausdruck der persönlichen Beziehung des Subjekts zu seiner Umwelt. Im Zentrum dieser Beziehung steht der subjektive Sinn, den Individuen ihrem Handeln, ihren Zielen und den Gegenständen ihrer Tätigkeit beimessen. Ohne die Berücksichtigung dieses subjektiven Sinns bleiben Lernprozesse äußerlich und oberflächlich; sie führen nicht zur nachhaltigen Entwicklung der Persönlichkeit.
Dieses Kapitel geht der Frage nach, wie sich der subjektive Sinn in der Erkenntnistätigkeit herausbildet, welche Bedeutung er für die Anleitung und Weiterentwicklung von Lernprozessen besitzt und wie er im Bildungsprozess wirksam aufgegriffen werden kann. Dabei wird deutlich, dass Lernen nicht durch die bloße Vermittlung von Wissen gelingt, sondern durch die bewusste Anknüpfung an die Motive, Ziele und Lebenszusammenhänge der Lernenden. Nur auf dieser Grundlage kann Weiterbildung zu einem Teil der Persönlichkeitsentwicklung werden – und damit zu einer aktiven, selbstreflektierten Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Das Hauptproblem besteht nicht darin, auf die aktive, die steuernde Rolle des Bewußtseins hinzuweisen, sondern darin, „das Bewußtsein als ein subjektives Produkt, als die umgewandelte Erscheinungsform jener ihrer Natur nach gesellschaftlichen Beziehungen zu verstehen, die durch die Tätigkeit des Menschen in der gegenständlichen Welt verwirklicht werden“ (S. 125).
„Damit sich dieser Prozeß vollziehen kann, muß sich das Objekt dem Menschen als das präsentieren, was den psychischen Inhalt der Tätigkeit in sich aufgenommen hat, das heißt von seiner ideellen Seite her. Die Heraussonderung dieser letzteren kann jedoch nicht losgelöst von jenen gesellschaftlichen Beziehungen, die die an der Arbeit Beteiligten notwendig eingehen, nicht losgelöst vom Verkehr der Menschen verstanden werden. Indem die Menschen miteinander zu verkehren beginnen, erzeugen sie auch die Sprache, die zur Bezeichnung des Gegenstands, der Mittel und des Arbeitsprozesses selbst dient. Die Akte der Bezeichnung sind nichts anderers als Akte der Heraussonderung der ideellen Seite der Objekte, und die Aneignung der Sprache durch die Individuen ist die Aneignung des mit der Sprache Bezeichneten in der Form ihres Bewußtwerdens“ (S. 34).
Damit kommt die Analyse an jenes Problem dicht heran, das LEONTJEW als den eigentlichen Stein des Anstoßes bezeichnet:
„Es geht um die Besonderheiten des Funktionierens der Kenntnisse, der Begriffe, der gedanklichen Modelle einerseits im System der gesellschaftlichen Beziehungen, im gesellschaftlichen Bewußtsein und andererseits in der Tätigkeit des Individuums, die dessen gesellschaftliche Verbindung realisiert, in DESSEN Bewußtsein“ (S. 140).
Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Spaltung zwischen objektiver Bedeutung und Bedeutung für das Subjekt, dem persönlichen Sinn; sie ist Resultat der gesellschaftlich-historischen Entwicklung.
„Wie bereits gesagt wurde, entsteht das Bewußtsein dadurch, daß in der Arbeit Handlungen ausgegliedert werden, deren gnostische Resultate von der lebendigen Ganzheitlichkeit der menschlichen Tätigkeit abstrahiert und als sprachliche Bedeutung idealisiert werden. Beim Kommunizieren werden sie Eigentum des individuellen Bewußtseins. Dabei verlieren sie keineswegs ihre Abstraktheit; sie enthalten Verfahren, gegenständliche Bedingungen und Handlungsergebnisse unabhängig von der subjektiven Motivation jener menschlichen Tätigkeit, in der sie entstehen. In den frühen Etappen, in denen noch gemeinsame Tätigkeitsmotive bei den Teilnehmern einer kollektiven Arbeit vorliegen, treten die Bedeutungen als Erscheinungen des individuellen Bewußtseins nochals direkt akäquate Beziehungen auf. Diese Beziehung bleibt jedoch nicht erhalten. Sie zerfällt zusammen mit dem Zerfall der ursprünglichen Beziehungen der Individuen zu den materiellen Bedingungen und den Produktionsmitteln, sie zerfällt mit der Entstehung, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des PRivateigentums. Dadurch beginnen die gesellschaftlich erarbeiteten Bedeutungen im Bewußtsein der Individuen gleichsam ein zweifaches Leben zu leben. Es wird eine weitere innere Beziehung geboren, eine weitere Bewegung der Bedeutungen im System des individuellen Bewußtseins“ (LEONTJEW 1979, S. 140).
Das Bewußtsein entsteht beim Menschen im Prozeß der Herausbildung der Arbeit und der gesellschaftlichen Beziehungen; es ist ein gesellschaftliches Produkt. Für pädagogische bzw. didaktische Prozesse sind diese Überlegungen von zentraler Bedeutung, da das Problem der Herausbildung und Entwicklung des Bewußtseins durch das Denken, das als höchster Form der psychischen Tätigkeit nicht mit dem Bewußtsein identisch ist, nicht gänzlich auf das Problem des Erwerbs von Wissen, von geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten reduziert werden kann; „denn Beziehung – Sinn kann nicht vermittelt“ (S. 267), d.h. gelehrt werden. Während die Mehrzahl der Psychologen und Soziologen den Begriff Sinn nur im Zusammenhang mit der Sprache betrachtet, drückt der Sinn für LEONTJEW „die Beziehung des Tätigkeitsmotivs zum unmittelbaren Handlungszielt aus“ (S. 261).
„Der Sinn ist keineswegs potentiell in der Bedeutung enthalten und kann nicht im Bewußtsein aus der Bedeutung entstehen.
Der Sinn wird nicht durch die Bedeutung erzeugt, sondern durch das Leben“ (S. 261 f.).
„Somit wird das, WAS mir aktuell bewußt wird, WIE es mir bewußt wird, welchen Sinn das Bewußte für mich hat, durch das Motiv der Tätigkeit bestimmt, in die meine jeweilige Handlung einbezogen ist. Daher ist die Frage nach dem Sinn stets die Frage nach dem Motiv (S. 263).
Unabhängig dabon, ob und um welche Art Schule oder Hochschule, welches Unterrichtsfach oder um welches Alter der Unterrichtende es sich handelt, gilt die Fragestellung, daß Beziehung und Sinn mit Prozeß des Unterrichtens aufgedeckt werden können, vorausgesetzt, daß die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden. Währende der Satz: „Den Sinn lehrt man nicht – Sinn wird erzogen“ (LEONTJEW 1979, S. 267), der die Einheit von Erziehung und Bildung widerspiegeln soll, ein Grundsatz der sowjetischen Schulpädagogik ist, gilt dies nicht unmittelbar für die sich weiterbildenden berufstätigen Erwachsenen in der kapitalistischen Gesellschaft. Es gilt jedoch insofern, als die Frage nach den Motiven der Weiterbildung, d.h. den gesellschaftlich bedingten Handlungsursachen und der Handlung selbst, die aus der Kenntnis der gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze abgeleiteten Ziele der Weiterbildung und deren Realisierungsmöglichkeiten durch die Individuen Grundlage der didaktischen Überlegungen und der Vermittlung von Inhalten, Methoden usw. sind.
Bildungskonzeptionen für berufs- und lebenserfahrene Erwachsene müssen von der Aktivität, der Engagiertheit des Individuums in seiner Erkenntistätigkeit, von seiner Subjektposition und von den sich im Laufe des Lebens – abhängig von der Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse – verändernden bzw. erweiternden Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, von der Beziehung zur Umwelt, zu den Dingen, zu anderen Menschen usw. ausgehen.
Die besondere Qualität des lernenden Erwachsenen im Unterschied zum Kind ist seine Persönlichkeit, die in der Weiterbildung nicht mehr allein Ziel der Bildung ist, sondern bereits eine Voraussetzung, die von den Weiterbildungsteilnehmern aktiv in den Lernprozeß eingebracht wird. Daraus ergibt sich zwar kein prinzieller Unterschied zum Lernen älterer Schüler bzw. Jugendlicher an einer Schule oder zu Studenten an Präsenzuniversitäten, aber dennoch ein Unterschied, der vor allem aus der beruflichen Tätigkeit resultiert, durch die die Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eigene Arbeit und nicht mehr primär durch die der Eltern bestimmt wird. Dadurch verändern sich die objektiven Bedingungen der Lebenstätigkeit, die Tätigkeitshierarchien, Lebenspläne, Zeiteinteilung, Ziele, die Gerichtetheit der Handlungen usw., so daß jede neue Tätigekit, wie z.B. ein Studium neben dem Beruf, einen bestimmten Platz innerhalb der Tätigkeitshierarchie erhält.
Dieses Problem ist Gegenstand der Analyse von Motiven, auf deren Bedeutung für die Erforschung gesellschaftlichen Handelns noch einzugehen ist, da sie nicht nur die eigentlichen Handlungsursachen und Ziele in sich bergen, sondern auch den Zugang zur Persönlichkeit ermöglichen, also zu den grundlegenden Problemen didaktischer und pädagogischer Überlegungen gehören.
Die entscheidene Frage ist, an welcher Stelle, unter welchen Bedingungen und Umständen und auf welche Weise der Denkprozeß, der „vor allem ein ANALYSIEREN und ein SYNTHETISIEREN dessen (ist), was die Analyse ergeben hat“ und der ferner „ABSTRAKTION und VERALLGEMEINERUNG (ist), die sich aus der Analyse und Synthese ableiten“ läßt (RUBINSTEIN 1967, S. 31), abgebrochen wird – gemessen an der gesellschaftlichen Notwendigkeit des Handelns, unter gewissen Umständen gemessen an den individuellen Zielen. Es geht also nicht darum, herauszufinden, wie das Alltagsdenken den Übergang zum theoretischen Denken vollzieht oder darum, Möglichkeiten zu suchen, um Routinen im Denken und Handeln aufzubrechen, weil sie, wie gesagt, an sich kein negatives Merkmal der Persönlichkeit sind, sondern, ausgehend von der theoretischen Analyse gesellschaftlichen bzw. gesellschaftlich notwendigen und möglichen Handelns den unter bestimmten Bedingungen abgebrochenen oder stillgelegten Prozeß des Denkens aufzunehmen und – soweit es die Möglichkeiten zulassen – weiterzuentwickeln bzw. anzuleiten in Richtung auf gesellschaftliches Denken und gesellschaftliches Handeln.
Die didaktischen Maßnahmen schalten sich in den Denkprozeß der Individuen ein, zwingen ihm nicht irgendwelche Ziele von außen auf, sondern bieten – von den Individuen nachzuvollziehen und kontrollierbar – die Möglichkeit der bewußten Fortführung und Erweiterung ihres analystischen, synthetischen, verallgemeinernden und gesellschaftlichen Denkens. Das didaktische Verorgehen erfordert, die Motive der Weiterbildung, d.h. den persönlichen Sinn, den sie für die Betreffenden haben, in Verbindung mit ihren Tätigkeiten zu analysieren, um herauszufinden, welches Problem unter welchen Bedingungen subjektiv relevant geworden ist, so daß sich schließlich die Lösung des Problems dem Individuum als Aufgabe stellt.