Kapitel 2.1. Die Öffnung der Hochschulen gegenüber der beruflichen Praxis und der Weiterbildung – eine realistische Wende?

In den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutsch­land hat bereits vor Jahrzehnten eine Entwicklung eingesetzt, die als „realistische Wende“ des Wissenschaftssystems bezeichnet werden kann: Die Hinwendung zur Weiterbildung und zur Hervorhebung der Arbeitsbedingungen für die wissenschaftliche Qualifizierung der zukünftig Berufstätigen. (Picht/Edding, 1972)

Die Frage ist, ob die daran anknüpfende Forderung nach wissen­schaftlicher Ergänzung und Erweiterung der beruflichen Qualifizie­rung eine realistische Wende ausreichend begründen kann. Sollte die Wissenschaft zukünftig der Aktualisierung und interdisziplinären Erweiterung einer frühe­ren Hochschulausbildung dienen und die wissenschaftliche Aufarbeitung von Erfahrungen aus der Berufstätigkeit einbeziehen? Diese Frage stellte die Westdeutsche Rektorenkonferenz, öffnete der Weiterbildung zugleich aber auch einen anderen Weg: Wissenschaftliche Weiterbildung könne zur Erfüllung wachsender und veränderter Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt dienen.

Der Wissenschaftsrat formuliert seine Zielsetzung unmissverständlich in den Empfehlungen 1981. Maßgeblich für die zu entwickelnden Weiterbildungskonzeptionen seien nicht die wissenschaftlich-technischen Verände­rungen, sondern die „technologisch-wirtschaftlichen Entwicklungen“. Die Un­terscheidung durch den Wissenschaftsrat ist wichtig, weil eine Vereinigung von Wissenschaftlern eine gesellschaftswissen­schaftlich begrün­dete Konzeption der Weiterbildung zugunsten wirtschaftlicher Interessen erstmalig in dieser Deutlichkeit formuliert haben. Die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit wurde vom Wissenschaftsrat nicht hinterfragt, sondern wissenschaftliche Weiterbildung wurde an den jeweils aktuellen wirtschaftlichen Situationen und den von der Industrie geforderten Berufen ausgerichtet.

Die Gefahr der Anpassung der wissenschaftlichen Aus- und Weiterbildung an den Bedarf der Industrie wird nicht zuletzt daran deutlich, daß der Wissenschaftsrat empfiehlt, die zu erwerbenden Qualifikationen an den Bedingungen und Erfordernissen des Arbeitsmarktes zu orientieren.

Es ist von grundlegender Bedeutung für die Festlegung des Bil­dungsziels, was unter „Arbeit“ verstanden werden soll. Ist Arbeit lediglich „eine Form des Verhaltens“, ein „zielgerichtetes Verhalten“, eine „Aktivität oder Tätigkeit, die im Rahmen bestimmter Aufgaben entfaltet wird und zu einem materiellen und/oder immateriellen Arbeitsergebnis führt, das in einem Nor­mensystem bewertet werden kann“, wie Hoyos sagt (Hoyos 1974)? Sie wäre in diesem Sinn eine Aktivi­tät, die „durch den Einsatz der körperlichen, geistigen und seeli­schen Kräfte des Menschen“ erfolgt und der Befriedigung seiner Be­dürfnisse dient, eine „ewige Naturbedingung des men­schlichen Lebens“.

Die Arbeit hat in der Definition von Hoyos (Hoyos 1974) keine geschichtsbildende Funktion; Verände­rungen in den konkreten Arbeitstätigkeiten und in den technischen und organisatorischen Bedingungen werden ausschließlich auf die „ständige Revolutio­nierung der Produktionstechnik“ zurückgeführt.

Zu Recht kritisieren Großkurth und Volpert (Großkurth/Volpert, 1975) die hier vertretene unhistorische Auffassung technischer Veränderungen: „… in eine geschichts­lose Gesellschaft (bricht) mit naturgesetzlicher Gewalt der ‚technische­ Wandel‘ ein, welcher – vom Arbeitspsychologen – nur im Hin­blick auf seine Konsequenzen für die Arbeitstätigkeit und Ar­beitsanforderungen untersucht, nicht aber nach Ausrichtung und Beein­flußbarkeit befragt werden kann“.

Eine gesellschafts-historische Betrachtung der Arbeit ermöglicht dagegen die marxistische Auffassung, die die Veränderung der Arbeit und der Arbeitsbedingungen als historischen Prozeß der Veränderung der Beziehung der Menschen zur Natur und ihrer Ver­hältnisse zueinander betrachtet.

Im Arbeitsprozeß, der eine „zweck­mäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingun­gen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“ ist, beziehen sich die Menschen nicht allein auf die Natur, Technik etc. „Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammen­wirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu pro­duzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zu­einander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet die Beziehung zur Natur, findet die Pro­duktion statt.“ (Marx, MEW Bd. 6)

Die Grenzen der unhistorischen Definition der Arbeit zeigen sich besonders in Fragen zu den Ursachen von Massenentlassungen. Sie begleiten die wissenschaftlich-technische Entwicklung und resultieren aus der Rationalisierung des Produktionsprozesses. Unter kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen gelten sie als ein Qualifikationsproblem, dem durch individuelle Weiterbildung und Anpassung an die Erfordernisse von Unternehmen erfolgreich begegnet werden kann. Diese Aufgabe übernimmt heute zum Teil die Künstliche Intelligenz (KI). Dass die KI für Rationalisierungsmaßnahmen verantwortlich gemacht wird, war zu erwarten. Die KI setzt sich jedoch nicht selbst in Unternehmen ein, das bewerkstelligen zurzeit noch menschliche Führungskräfte in Unternehmen und Politik.

Durch den Einsatz der KI in Unternehmen zeigt sich, dass qualifizierte Aus- und Weiterbildungen vielleicht im Einzelfall die Vermarktungschance der Arbeitskraft verbessern kann, aber generell keinen Einfluß auf die Zahl der von der Wirtschaft zur Verfügung gestellten Arbeitsplätze hat. Trotz wachsender Bildung und Weiterbildung bleibt eine ständige, mehr oder weniger intensiv erfahrene Existenzunsicherheit für die Arbeitenden bestehen.

Aus dieser allgemeinen Existenzunsicherheit und der Erfahrung, daß die eigenen Bildungsbemühungen diese Unsicherheit nicht aufzuheben vermögen, lässt sich ein über das subjektive Bildungsinteresse hinausgehendes objektives Bildungsinteresse der Arbeiter und Angestellten erklären. Dieses Interesse ist umfas­sender, als die an wirtschaftlichen Interessen bzw. am Arbeitsmarkt orientierten Weiterbildungskonzeptionen es erfassen können.

Das Interesse der Arbeitenden an Weiterbildung ist vor allem charakterisiert durch das Interesse an Informationen über die eigenen Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft. Der „Blick auf den Arbeitsmarkt“ (Empfehlungen 1981) reicht aber für eine wissenschaftliche Analyse der Reproduktionsbedingungen nicht aus.

In Verbin­dung mit der Zielsetzung, die es dem einzelnen ermöglichen soll, „sich im Arbeitsleben zu behaupten oder erneut Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewinnen“, wird vom Wissenschaftsrat die Frage des Erwerbs von Qualifikationen als individuelles Problem behandelt. Die „individuelle Qualifika­tion“ dient der Erhöhung der individuellen Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Eine solche Qualifikation orientiert die Lernenden und Arbeitenden auf Konkurrenz, Vereinzelung und Isolation. Die sozialen Folgen, die sich aus einer auf individuelle Qualifizierung ausgerichteten Weiterbildung ergergeben, zeigen sich schließlich in einer Verän­derung der sozialen Beziehungen der Arbeitenden untereinander, vor allem in der Verschärfung des Konkurrenzkampfes um die knapper wer­denden Arbeitsplätze über die erworbene Bildung. Darüber hinaus hat die primär am Arbeits­markt und an der beruflichen Praxis orientierte „individuelle Qua­lifizierung“ und die damit geförderte Vereinzelung der Arbeitenden zur Folge, daß diese, statt Informationen über die eigenen Repro­duktionsbedingungen zu erhalten im Unwissenden gelassen werden; sie lernen nicht, die gesellschaftlichen Entscheidungs- und Steuerungspro­zesse, die den Veränderungen des Arbeitsmarktes zugrundeliegen, zu durchschauen.

Zwar wird in den genannten Dokumenten auf die wirtschaftliche und technische Entwicklung als Ursa­che der Veränderung der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft und auf die Notwendigkeit der Weiterbildung hingewiesen, aber die Lösung des Problems wird dem einzelnen überlassen, dem es durch individu­elle Qualifikation gelingen soll, sich auf dem Arbeitsmarkt zu be­haupten. Eine erstaunliche Logik.

Wenn es dem einzelnen aber ermöglicht werden soll, sich mit Hilfe von Weiterbildung „im Arbeitsleben zu behaupten“, dann müssen die Kri­terien für die Entwicklung einer Weiterbildungskonzeption, also die Kriterien für die zu erwerbenden Qualifikationen, in Beziehung zu den objektiven gesellschaftlichen Verhältnissen gesehen werden, in deren widersprüchlicher Entwicklung sie begründet sind. Wenn die Zielvorstellung der Weiterbildung tatsächlich das Sich-behaup­ten-Können im Arbeitsleben ist, dann müßten die für die Entwick­lung dieser Fähigkeit wesentlichen Qualifikationen die Fähigkeit zur Kontrolle des Umweltgeschehens, Engagement, solidarische Akti­vitäten usw. einschließen. Das erfordert eine Weitergabe der dafür erforderlichen Fähigkeiten, Kenntnisse, Einsichten usw. an die sich Weiterbildenden.

Nicht allein die berufliche Praxis, be­rufliche Erfahrung etc. wäre dann der Bezugspunkt für die Weiter­bildung, sondern die Lebenstätigkeit der arbeitenden Menschen, primär ihre Aktivitäten zur Erhaltung ihrer Existenz.

Nicht nur in den Empfehlungen des Wissen­schaftsrates, auch in anderen offiziellen Dokumenten und Stellung­nahmen zur Weiterbildung zeigt sich der merkwürdige Widerspruch, daß einerseits die Lebens- und Berufserfahrung der sich weiterbil­denden Studenten als kompetenzartige Ausstattung zur Kenntnis ge­nommen werden, aber andererseits diese Kompetenzen in der Univer­sität lediglich als Unterrichtsmittel fungieren. Diese Sichtweise erklärt sich u.a. aus einer extrem eingeschränkten Wahrnehmung dessen, was die gegenwärtige und zukünftige Lebenstätigkeit der Individuen wirklich ausmacht, welche rückwirkende Bedeutung le­bens- und berufspraktisches Wissen in Verbindung mit einem wissen­schaftlichen Studium für die Lebenstätigkeit haben bzw. haben kön­nen.

Es geht offenbar in der Frage der Weiterbildung nicht primär um die Subjekte selbst, sondern, wie bereits festgestellt, um die Anpassung an den Bedarf der Industrie. Die Notwen­digkeit der wissenschaftlichen Weiterbildung wird mit der schnell fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung der Wissen­schaften und ihrer Anwendungsmöglichkeiten, der beschleunigten Hervorbringung neuer Erkenntnisse und Methoden und der technolo­gisch-wirtschaftlichen Entwicklung begründet. Damit allein aber läßt sich nicht die Notwendigkeit der Selbstbehauptung als Weiter­bildungsziel erklären. Die Notwendigkeit der Selbstbehauptung auf dem Arbeitsmarkt resultiert nämlich nicht aus wissenschaftlich-technischen Veränderungen, sondern aus der gesellschaftlich be­dingten Form der Arbeit.

Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die wissenschaftlich-tech­nische Entwicklung gleichzeitig durch einen Prozeß der Vergesell­schaftung der Produktion gekennzeichnet ist, dann kann nicht die „Selbstbehauptung“ gegenüber möglichen Konkurrenten die Weiterbil­dungskonzeption bestimmen, weil die Selbstbehauptung nicht aus­reicht, um diejenigen Qualifikationen zu charakterisieren, die er­forderlich sind, um in den Prozeß der Vergesellschaftung bewußt und planvoll eingreifen zu können. Ohne diese zukünftige Dimensio­nierung der Kontrolle und Mitbestimmung wird über das Bildungsziel Selbstbehauptung der Kampf der Individuen untereinander um ihre Lebensexistenz festgeschrieben. Die zentrale Frage, wie denn aus der wissenschaftlichen Weiterbildung die Fähigkeit zur Selbstbe­hauptung erwachsen soll, wo doch eindeutig die Selbstbehauptung auf dem Arbeitsmarkt nicht von den Kenntnissen wissenschaftlicher Methoden, sondern von den Bedingungen des Arbeitsmarktes abhängt, wird in den meisten Weiterbildungskonzeptionen jedoch erst gar nicht gestellt.

Von einer realistischen Wende an den Hochschulen kann man nur insofern sprechen, als die Öffnung der Hochschulen gegenüber Problemen der beruflichen Praxis in gewisser Weise eine Anerkennung der gesell­schaftlichen Realität bedeutet. Die Orientierung an den Arbeits­marktbedingungen genügt den praktischen Erfordernissen des gesell­schaftlichen Lebens jedoch nicht. Die Hinwendung der wissenschaft­lichen Weiterbildung zur beruflichen Wirklichkeit erfordert, daß diejenigen Merkmale der Tätigkeit bestimmt und analysiert werden müssen, die die objektiven Veränderungen der Beziehungen der Indi­viduen zu den Arbeitsbedingungen, Arbeitsgegenständen, zur Umwelt und zu anderen Menschen erfassen, die sich aus der gesellschaftli­chen Entwicklung ergeben. Die Analyse dieses Problems setzt vor­aus, daß die Entwicklung der Widersprüche zwischen den Produktiv­kräften und den Produktionsverhältnissen unter dem Aspekt der Sub­jektivität beschrieben wird; dieser Versuch steht zwar erst am An­fang (vor allem in den Arbeitswissenschaften und in der neueren Industriesoziologie), aber er wird – unter dem Druck wachsender Kritik der Öffentlichkeit an den Folgen der Wissenschaften – zur Legitimation der wissenschaftlichen Arbeit gegenüber der Gesell­schaft verstärkt fortgesetzt werden müssen.


Quellen:

Großkurth, Peter / Volpert, Walter (1975): Tätigkeit und Gesellschaft. Beiträge zur handlungstheoretischen Psychologie. Frankfurt/Main: Campus.

Hoyos, Carlos (1974): Neue Arbeitsformen – neue Arbeitsanforderungen? Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Marx, Karl (1972): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1. (MEW Bd. 23). Berlin: Dietz Verlag.

Picht, Georg / Edding, Franz (1972): Die Chancen der Bildungsgesellschaft. Freiburg: Herder.


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