Kapitel 5.6 Der theoretische Antihumanismus in der strukturalistischen Konzeption von LEVI-STRAUSS

Nach der Analyse der Verdrängung des Subjekts bei Oevermann wenden wir uns nun dem Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss zu, der exemplarisch zeigt, wie durch die Hervorhebung unbewusster Strukturen ein theoretischer Antihumanismus entstand, der das gesellschaftliche Handeln der Menschen seiner historischen und aktiven Dimension beraubt.

Die strukturalistische Auffassung zielt auf die Untersuchung von Vorgängen, die sich unabhängig vom Bewußtsein vollziehen. In seinem programmatischen Aufsatz von 1945 fordert LEVI-STRAUSS die Anwendung des methodischen Vorgehens des sprachwissenschaftlichen Strukturalismus in den Sozialwissenschaften. Die Übertragbarkeit der strukturalistischen Methode auf andere soziale Tatbestände wies er nach dem Beispiel von Verwandtschaftssystemen: „… die „Verwandtschaftssysteme“ werden wie die „phonologischen Systeme“ durch den Geist auf der Stufe des unbewußten Denkens gebildet“ (LEVI-STRAUSS 1958, S. 117).

„Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirklichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht. Damit wird der Unterschied zwischen zwei Begriffen, die einander so nahe sind, daß man sie oft verwechselt hat, sichtbar, in meine zwischen der sozialen Struktur und den sozialen Beziehungen. Die sozialen Beziehungen sind das Rohmaterial, das zum Bau der Modelle verwendet wird, die dann die soziale Struktur erkennen lassen. Auf keinen Fall darf diese auf die Gesamtheit der in einer Gesellschaft beobachtbaren Beziehungen zurückgeführt werden“ (LEVI-STRAUSS 1953, S. 132).

Die „verborgenen Gesetze“, die diese Systeme bilden, sind Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie sind „soziale Gesetze“, die, entstanden „durch den Geist auf der Stufe des unbewußten Denkens“, sich durch Regeln, Wiederholungen etc. empirisch nachweisen lassen. Historische Gesetze gibt es dagegen für LEVI-STRAUSS nicht.

„Man muß im Hinblick auf die Geschichte immer fragen, ob es nur eine einzige gibt, die in der Lage ist, die Gesamtheit des menschlichen Werdens zu erfassen, oder ob es nicht eine große Zahl von lokalen Entwicklungen gibt, die nicht nach ein und demselben Schema zu beurteilen sind. Daß die Geschichte an einem bewohnten Ort der Erde, zu einer bestimmten Epoche der innere Motor ökonomischer und sozialer Entwicklungen geworden ist, gebe ich zu. Doch es handelt sich dabei um eine innere Kategorie dieser Entwicklung und nicht um eine gleichzeitig die ganze Menschheit umfassende Kategorie“ (LEVI-STRAUSS 1967, S. 146).

In der Konzeption LEVI-STRAUSS findet der Grundgedanke der marxistischen Geschichtsauffassung, der gesellschaftliche Charakter der Arbeit und die durch sie bedingten Produktionsverhältnisse keine Beachtung. Die Ökonomie, die Produktion und Reproduktion der Existenzmittel – nach dem Marxismus Grundbedingungen der menschlichen Existenz – ist für LEVI-STRAUSS nicht Gegenstand der Geschichte. Sie ist als „Gegenstand der ökonomischen Wissenschaft … nicht universell, sondern eng auf … einen kleinen Teilbereich der Entwicklung begrenzt“ (LEVI-STRAUSS 1966, S. 407).

Während der Marxismus Gesellschaft als die auf einem bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte beruhenden Verhältnisse der Menschen untereinander, aus denen heraus die Art und Weise ihres Lebens und Zusammenlebens, ihrer Vorstellungen usw. zu bestimmen sind, auffaßt, charakterisiert LEVI-STRAUSS Gesellschaft durch die

„Art und Weise, wie jede Gesellschaft versucht, sie alle (die Vorgänge, d.V.) in eine geordnete Ganzheit zu integrieren. Diese „gedachten“ und nicht „gelebten“ Ordnungsstrukturen entsprechen unmittelbar keiner objektiven Wirklichkeit; im Unterschied zu den ersteren sind sie einer experimentellen Kontrolle nicht zugänglich, da sie sich sogar auf eine spezifische Erfahrung berufen, mit der sie sich dann zuweilen verwechseln lassen“ (LEVI-STRAUSS 1953, S. 133).

Da die objektiven materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz als dem Menschen äußerliche Bedingungen aufgefaßt werden, treten sie als die Bewußtseinsentwicklung bestimmenden Faktoren nicht mehr in Erscheinung.

LEVI-STRAUSS betont, es sei nicht seine Absicht,

„eine allumfassende Erklärung zu geben. Ich bin durchaus bereit zuzugeben, daß es für die Gesamtheit der menschlichen Handlungen Bereiche gibt, die strukturabel sind, und andere, die es nicht sind. Ich wähle Klassen von Phänomenen, Gesellschaftstypen, bei denen sich die Methode lohnt“ (LEVI-STRAUSS 1967, S. 148).

Dennoch ist der Strukturalismus mehr als eine bestimmten Fällen praktikabel Methode, sondern kennzeichnet eine philosophische Position oder Weltanschauung, eine strukturelle Anthrophologie, deren Grundlage ein theoretischer, strukturalistischer Antihumanismus ist.

Nicht aus der angeblichen Offenheit seiner Methoden läßt sich die bis heute andauernde erfolgreiche Wirkung des Strukturalismus erklären, sondern aus der Behauptung, das für die Analyse sozialer Phänomene grundlegende Prinzip gefunden zu haben; die Hervorhebung objektiver, unpersönlicher und unbewußter Strukturen, die jeder menschlichen Existenz zugrundeliegen sollen, war historisch die eindeutige Absage der Psychoanalyse, Linguistik und Ethnologie an den Existentialismus, der die erlebte Subjektivität als realen Grund der Anthropologie begriff.

Die offene Polemik gegen den Existentialismus setzte ein nach der Veröffentlichung der Arbeit von LEVI-STRAUSS „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ (1949). In einer Kritik an LEVI-STRAUSS von 1951 heißt es, es „werden die Gruppen und Menschen auf eine abstrakte Funktion reduziert, anstatt daß man dies auf die konkreten Beziehungen gründet, die die Menschen miteinander verbinden“ (LEFORT 1951, S. 19).

SCHIWY sieht die Ursachen für den Siegeszug des Strukturalismus gegenüber dem Existentialismus nicht in seiner wissenschaftlichen Methode, sondern in seiner ideologischen Bedeutung:

„Indem er angeblich das gemeinsame Fazit der Ergebnisse so hochspezialisierter und komplizierter Wissenschaft wie der Kybernetik, Linguistik, Logistik, Psychoanalyse und Ethnologie zeiht, scheint er einmalig kompetent, nicht nur die wissenschaftliche Methode von morgen, sondern auch die entsprechende Ideologie für jene ruppen zu liefern, die ins weltanschauliche Vakkum getragen sind. Und sei es auch nur die Ideologie der Nicht-Ideologie, des Endes des ideologischen Zeitalters. Diese Kompetenz ergabe sich für die frustrierte französische Linke mit unmittelbarer Evidenz: entsprach doch die Botschaft des Strukturalismus genau ihrer soeben gemachten Erfahrung von der Ohnmacht des nicht engagierenden Subjekts und der sogenannten höheren Zivilisation gegenüber den fundamentalen Problemen unserer Epoche, vor allem gegenüber dem des historischen Wandels“ (SCHIWY 1969, S. 27).

Die Konzeption der Humanwissenschaften, die bei LEVI-STRAUSS an die Stelle der philosophischen Anthropologie und des philosophischen Humanismus tritt, verlange, „daß man sich von der Aktion distanziert“ (LEVI-STRAUSS 1966, S. 412).

Die Distanzierung beruht auf der Überlegung: „Jahrtausendelang, bald hier, bald da, entstanden und vergingen wie in kurzem Aufblitzen unablässig Tausende von menschlichen Welten. Welche von allen ist die gut Welt?“ (ebda.). Den in dieser Aussage enthaltenen strukturalistischen Antihumansimus hält SEVE für ein gesellschaftlich und politisch bedeutsames ideologisches Phänomen:

„Ist der existentialistische Humanismus eine Ideologie der ohnmächtigen individualistischen Revolte gegen die Widersinnigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, des subjektiben Engagements in Aktionen, die vergebens bestrebt sind, diese um des Sinns des persönlichen Lebens willen niederzureißen, so erweist sich der strukturalistische Antihumanismus als Ideologie der ernüchternden Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft, die weder mehr noch weniger widersinnig sei als andere, als Ideologie der „objektiven“ Abkehr von der fortschrittlichen politischen Aktion, deren Sinn stets mehr oder minder nur Selbsttäuschung der Menschen, ein Vertuschen der Sinnlosigkeit der sie beherrschenden Strukturen sei“ (SEVE 1972, S. 411).

„Wäre der Existentialismus eines SARTRE noch ungebrochen in Mode, es gäbe keinen Platz für den Strukturalismus, wenigstens nicht als Mode“ (SCHIWY 1969, S. 17).

Dem historischen und anthropologischen Skeptizismus der strukturalistischen Konzeption gelingt es nicht, den existentialistischen Humanismus aufzuheben, weil sein vermeintlichen streng wissenschaftlicher Angriff gegen die Illusionen eines spekulativen Humanismus zugleich als Disqualifizierung aller Philosophie gedacht ist. Damit aber fällt der Strukturalismus

„wieder in die ältesten Fehler des Naturalismus und des metaphysischen Essentialismus. Denn das letzte Wort der strukturalisistischen Auffasung der Wissenschaften vom Menschen ist nach LEVI-STRAUSS, sich „außerhalb jeder besonderen Gesellschaft“ zu stellen und danach zu streben, „den Standpunkt einer beliebigen Gesellschaft oder den eines beliebigen Individuums in irgendeiner Gesellschaft“ einzunehmen oder auch zum „Erfassen einer dem Menschen innewohnenden Realität“ einen Standort „vor jedem Individuum und aller Gesellschaft“ zu beziehen. Da sind wir also abermals mitten im etaphysischen Essentialsimus, bei der ABSTRAKT-MENSCHLICHEN Natur, bei „einer mit konstanten Fähigkeiten ausgestatteten Humanität“, die sich in der Geschichte nur deswegen zu wandeln scheint, weil sie „ständig mit neuen Gegenständen zu ringen“ hat “ (SEVE 1972, S. 413).

In der Kritik der konservativ-technokratischen Ideologie des Strukturalismus überschneiden sich, so SEVE, die existentialistischen Kritiken zumindest teilweise mit der marxistischen Kritik.

Der Strukturalismus konnte sich in dem Maße nur entwickeln, weil er in Korrespondenz mit vergleichbaren Strömungen in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen und in der Literatur auf internationaler Ebene entwickelt wurde. So hat z.B. LEVI-STRAUSS mehrere Jahre in den USA gearbeitet, um nach Übereinstimmungen zwischen ihm und PARSONS strukturell-funktionaler Theorie von der Gesellschaft zu forschen.

PARSONS hat in „The Social System“ und „Towards a General Theory of Action“ 1951 auf Grundlage seines Studiums der Werke von Max WEBER, PARETO, DURKHEIM, FREUD und MALINEWSKI und Ergebnissen der modernen Physik, Biologie, Mathematik, Elektronik und Kybernetik die Strukturen der Gesellschaft als im wesentlichen unverändert betrachtet. Aus seiner Einsicht in die Notwendigkeit eines stabilen bürokratisch-technischen Systems in der kapitalistischen Gesellschaft, galt die Frage nach dem Individuum vorrangig dem Problem, wie man es dazu bringen kann, innerhalb dieser Strukturen möglichst reibungslos zu funktionieren.

Roland BARTHES, einer der Hauptverfechter des Strukturalismus, schrieb:

„PARSONS zieht nur die Konsequenzen (für die Theorie der sozialen Aktion und der modernen Gesellschaften) aus Prinzipien, die in den letzten Jahren mehrmals zur Diskussion gestellt worden sind, und zwar vielleicht besonders in Frankreich, wo mit dem Werk von Claude Levi-Strauss die Probleme der Signifikation seit kurzem ein so großes Echo gefunden haben“ (BARTHES, o.J., S. 119; zit. bei SCHIWY 1969, S. 30).

Der positivistische Humanismus behält nichts als „einen wesenlosen Menschen auf der einen und menschenlose Wesen auf der anderen Seite“ (SEVE 1972, S. 414) in der Hand, weil er das objektive menschliche Wesen in dem System der Kräfte und Verhältnisse der materiellen Produktion nicht erkennt.

Für die Sozialisationsforschung bzw. für die Didaktik ergibt sich aus strukturalistischen Positionen keine Grundlage für eine auf zukünftiges gesellschaftliches Handeln orientierte Persönlichkeitsforschung und eine darauf aufbauende Didaktik, wie sie PIAGETs Überlegungen immerhin noch ermöglichten. Eine alternative Konzeption würde zum einen eine Abkehr von strukturalistischen Positionen, die die gesellschaftlich-historische Entwicklung aus ihrem Denken verbannt hat, und zum anderen eine offene Klärung der Beziehung zwischen Pädagogik bzw. Didaktik und Strategien der Anpassung an bestehende Verhältnisse erfordern, die sich leicht hinter der scheinbaren Objektivität des Strukturalismus verbergen können.

Nach der Auseinandersetzung mit strukturalistischen Ansätzen und deren Auswirkungen auf das Verständnis von gesellschaftlichem Handeln richtet sich der Blick nun auf die Persönlichkeit in der soziologischen Forschung – ein Schlüsselbegriff, dessen theoretische Fundierung und Bedeutung für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung genauer untersucht werden sollen.

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