Kapitel 7.2.4 Die Aneignung der Wirklichkeit – ein aktiver Prozeß der (Selbst-)Vergesellschaftung

Die Aneignung der Wirklichkeit ist ein zentrales Moment in der Entwicklung der Persönlichkeit, das weit über bloßes Anpassen oder Übernehmen von Wissen hinausgeht. Im Zentrum steht die tätige Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt: Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird nicht passiv aufgenommen, sondern in einem aktiven Prozess der Auseinandersetzung, Umgestaltung und Selbstvergesellschaftung angeeignet. Dieser Prozess verbindet individuelle und gesellschaftliche Entwicklung und ist eng verknüpft mit der Fähigkeit, die historisch entstandenen gesellschaftlichen Bedingungen bewusst zu erfassen, zu reflektieren und zu verändern.

In diesem Kapitel wird die Aneignung als dialektischer Prozeß zwischen Subjekt und Gesellschaft entfaltet – ein Prozeß, in dem das Individuum nicht nur gesellschaftliche Formen übernimmt, sondern diese zugleich durch seine eigene Tätigkeit formt und neu interpretiert. Die Frage nach der aktiven, tätigen Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung, ihrer Vermittlung über Gegenstände, Sprache und Symbole, und ihrer Bedeutung für individuelle Lebens- und Handlungsperspektiven steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.


Die Auffassung, daß die in der empirischen Sozialisationsforschung immer noch dominierende Untersuchung von Attitüden, Einschätzungen, Erinnerungen, Rollenerwartungen, Wertorientierungen, Überzeugungen etc. ungeeignet ist, die Komplexität z.B. der Studienrealität zu begreifen (HEIPCKE u.a. 1981, S. 18), gewinnt an Bedeutung (vgl. auch HUBER 1980).
Der gesamte Hochschulbereich, das Studium und die Situation der Studierenden habe sich so „grundlegend geändert“, daß es notwendig sei, den Begriff Handlungskompetenz neu zu bestimmen und zu analysieren (HEIPCKE 1981, S. 18). „Es besteht so die Notwendigkeit, Lernen/Qualifikation als aktives Moment von Sozialisation zu erfassen, sozusagen als handelnde Aneignung (S. 10). Sozialisation im Sinne „Heines“ aktiven Aneignungsprozesses von Umwelt gründe sich auf die kognitive Entwicklung, worunter HEIPCKE u.a. „das Verhältnis des Subjekts zur Welt und damit zum Gegenstand als Interaktion und als Prozeß“ verstehen (ebda.).

Die Begriffe Aneignung, Vergesellschaftung und Verinnerlichung von Normen bezeichnen in der nicht-marxistischen Forschung überwiegend den Prozeß der Sozialisation, des Hineinwachsens des Individuums in die gesellschaftlichen bzw. sozialen Zusammenhänge. Aneignung wird von LUCKMANN als ein Vorgang der Verinnerlichung psychischer Gegebenheiten definiert:

„Aneignung der sozialen Wirklichkeit heißt, daß Taxonomien und Deutungsschemata, soziale Raum-, Zeit- und Kausalitätskategorien, Selbstverständlichkeiten und Problematisches, typische Motivzusammenhänge und Relevanzstrukturen, Verhaltensrezepte und Verwertungshierarchien in subjektiven Besitz und selbstverständliche Routine überführt werden“ (LUCKMANN 1981, S. 63).

Anders als LUCKMANN betrachten HEIPCKE u.a. die Aneignung mehr unter dem Aspekt des aktiven, gegenständlich-tätigen Prozesses, in dem sowohl die objektiven Bedingungen als auch die subjektiven Voraussetzungen zusammenwirken. Sie gehen davon aus,

„daß Studieren immer schon ein aktiver Prozeß der individuellen Aneignung objektiver Inhalte und Formen ist, daß in jeder individuellen Verarbeitung von Studienschwierigkeiten nicht nur objektive Beschränkungen wirksam werden, sondern sich auch subjektive Kompetenzen in spezifischen Lösungsformen manifestieren und daß es letztlich um die Analyse der gesellschaftlich-institutionell geprägten Studiensituationen als Bedingungsrahmen für Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten in bezug auf die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen des Subjekts geht“ (HEIPCKE u.a. 1980, S. 4).

Diese Definition ermöglicht es, die individuelle Aneignung der Realität als einen (selbst-)bewußten Vorgang zu analysieren, der seinen Ursprung nicht in innerpsychischen Vorgängen oder in von außen auferzwungenen gesellschaftlichen Bewußtseinsstrukturen hat, sondern aus der widersprüchlichen Bewegung des gesellschaftlichen wie des individuellen SEins resultiert. Der entscheidende Aspekt der Aneignung ist die spezifisch menschliche Lernfähigkeit, die in der Möglichkeit zur individuellen Aneignung gesellschftlicher Erfahrung liegt (vgl. HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975, Bd. I, S. 239; zum Aneignungskonzept vgl. auch HOLZKAMP 1973, S. 188 ff.). (Auf dieser Grundlage kann in die Analyse von Lernprozessen nicht nur die Vergangenheit als die von vorangegangenen Generationen akkumulierte Erfahrung, die vom Individuum angeeignet wird, einbezogen werden, sondern auch die Dimension zukünftigen gesellschaftlichen bzw. gesellschaftlich relevanten Handelns. Auch dabei spielt der Begriff der gesellschaftlichen Erfahrung eine wesentliche Rolle).

Die Fähigkeit zur Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung kennzeichnet die Möglichkeit zur individuellen Aneignung von Gegenstands- und Symbolbedeutungen (S. 239). Die spezifisch „menschliche“, d.h. die durch Arbeit produzierte oder dauerhaft veränderte Umwelt ist „eine VERGEGENSTÄNDLICHUNG verallgemeinerter, aus den Notwendigkeiten der Lebenssicherung sich ableitender menschlicher Zwecke und darin gleichzeitig menschlicher Fähigkeiten“ (S. 233). Die Gegenstände menschlicher Tätigkeit sind Produkte eines Vergegenständlichungsprozesses, nicht einzelner Individuen, sondern eRgebnis der gemeinsamen Tätigkeit der Menschen. Die Erfahrungen des Menschen sind die Erfahrungen der Gesellschaft, die er in Form individueller Aneignung gewinnt (LEONTJEW 1979b, S. 18).
Im Zusammenhang gesellschaftlicher Arbeit liegt die neue Qualität der bewußten Aktivität darin,

„daß in der VERGEGENSTÄNDLICHENDEN VERÄNDERUNG DER REALITÄT ZUR GESELLSCHFTLICHEN LEBENSSICHERUNG DIE GENERALISIERTEN ZIELE UND MITTEL ZU IHRER ERREICHUNG UNABHÄNGIG VOM AKTUELLEN HANDLUNGSZUSAMMENHANG erfaßt werden können. Bewußte Lebenstätigkeit des Menschen ist nicht lediglich die Bewältigung einer aktuellen Situation durch Zielantizipation und Handlungskontrolle, sondern LANENDE VORAUSSICHT KÜNFTIGER AKTUELLER SITUATIONEN UND GENERALISIERTE REALITÄTSKONTROLLE DURCH BEREITSTELLUNG DER MITTEL ZU IHRER BEWÄLTIGUNG“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975, Bd. I, S. 250).

Da in den Gegenständen durch menschliche Arbeit Bedeutungen realisiert wurden, in ihnen also „verallgemeinerte menschliche Zwecke in gegenständlich-sinnlicher Form erscheinen“ (HOLZKAM 1973, S. 118), werden sie für die menschliche Orientierung „bedeutungsvoll“. Aus den Gegenstandsbedeutungen differenzieren sich Symbolbedeutungen.

„In der SYMBOLISCHEN REPRÄSENTATION, besonderns durch die SPRACHE, kann der mensch Erfahrungen nicht nur machen, sondern die ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREND ALS SOLCHE ERKENNEN; Erfahrung wird so zu BEWUSSTEM WISSEN (VGL: HOLZKAMP 1973, S. 156 f.), über das der Mensch bei der planenden Realitätskontrolle verfügen kann. Auch das Wissen hat mithin hier seine Funktion nur in der Relevanz für die vorausschauenden Eingriffe in die Realität zur Verbesserung der Lebensbedingungen…“ (HOLZKAMP-OSTERKAMP 1975, Bd. I, S. 250 f.).

In Anlehnung an LEONTJEW geht HOLZKAMP-OSTERKAMP davon aus, daß der Mensch aufgrund des in den vergegenständlichten Arbeitsprodukten festgelegten gesellschaftlichen Wissens und Könnens individuelle Anpassungsleistungen auf immer erweiterter Stufenleiter vollziehen kann. Gleichzeitig werde in der Arbeitstätigkeit die vom Menschen geschaffene und beherrschte Wirklichkeit immer mehr erweitert (S. 237).

Die gegenständliche Konzeption des Psychischen sei zwar für das Verstehen der Entwicklung des Kindes unersetzlich, das sich die Erfahrung die Kultur der menscheit zu eigen mache, aber, so die Kritik von ABULCHANOWA-SLAWSKAJA, diese Konzeption erkläre nicht, „wie das Psychische des erwachsenen Menschen mit dieser ganzen Widersprüchlichkeit beispielsweise des sozialen Seins in der bürgerlichen Gesellschaft fertig wird, wie sie den Menschen für die Tätigkeit nicht mit Dingen und Werkzeugen, sondern mit anderen Menschen wappnet“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 67). Der Versuch, die Gegenständlichkeit durch die in ihr eingeschlossene Handlungsweise zu definieren, offenbare nicht das gesellschaftliche Wesen des Menschen als Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 67). Die Vergegenständlichung sei nicht nur ein Problem der gemeinschaftlichen menschlichen Tätigkeit, sondern auch abhängig von „den konkreten Organisationsformen der gemeinschaftlichen Tätigkeit“, die bewirken, daß das Problem der Entgegenständlichung keineswegs auf das Problem der Aneignung des im Arbeitsgegenstand eingeschlossenen abstrakten gegenständlichen Inhalts reduziert werden können (S. 53). Entscheidend ist, daß der Prozeß der Entgegenständlichung weder über die im gesellschaftlichen Produkt selbst eingeschlossene Handlungsweise noch schlechthin über das Produkt selbst zu charakterisieren ist.

LEONTJEW versteht die Art und Weise der Aneignung des gesellschaftlichen Gegenstands durch das Individuum als gesellschaftliche Handlungsweise, die in dem entsprechenden Gegenstand als gesellschaftliche Verwendungsweise des Gegenstands – im Unterschied zur natürlichen – fixiert ist: „Die adäquate Beziehung des Individuums zum Werkzeug äußert sich darin, daß es sich (praktisch oder theoretisch) die in ihm fixierten Operationen aneignet und seine menschlichen Fähigkeiten daran entwickelt“ (ELONTJEW 1973, S. 233).

Aus dem Gesamtzusammenhang des Zitats von MARX, auf das LEONTJEW sich beruft, kann jedoch keineswegs geschlossen werden, daß der Gegenstand unveränderliche, stabile Handlungsweisen fixiert. Es ist zugleich Gegenständlichkeit als gesellschaftliche (soziale) Beziehung zwischen den Menschen. Die Aneignung ihres gesellschaftlichen Wesens durch die Individuen in der Tätigkeit verwandelt sie in gesellschaftliche, mit gesellschaftlichen Handlungsweisen ausgestattete Wesen.

„Diese Aneignung“, heißt es bei MARX und ENGELS, „ist zuerst bedingt durch den anzueignenden Gegenstand – die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte“ (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 67).
Die Aneignung muß „einen den Produktivkräften und dem Verkehr (den Produktionsverhältnissen, d.V.) entsprechenden universellen Charakter haben“ (ebda.). Sie ist bedingt durch die Entwicklung der materiellen Produktionsinstrumente, die aneignenden Individuen, die in Folge der Entwicklung einer „Totalität von Produktivkräften“ (d.h. nicht allein die Produktionsinstrumente, sondern die Gesamtheit von Faktoren der gesellschaftlichen Arbeit, die auf der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungsstufe bei der Erzeugung materieller Güter wirksam werden, wie die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der menschen, Naturkräfte und -stoffe, die als Produktionsmittel in der Produktion verwendet werden, und Kräfte, die aus der sozialen Natur des Produktionsprezesses selbst resultieren) eine „Totalität von Fähigkeiten“ entwickeln sie ist außerdem bedingt „durch die Art und Weise, wie sie vollzogen werden muß“, d.h. durch die Vereinigung der Individuen (MARX/ENGELS, MEW 3, S. 68).

Die gesellschaftliche Handlungsweise der Individuen muß im Gesamtzusammenhang dieser Bedingungen gesehen werden. Den Gegenstand der Tätigkeit kann man sich demnach nicht nur als Fixierung der Berauchsweisen der Gegenstände im System objektiver Bedeutungen oder gesellschaftlicher WErte vorstellen, sondern in seinen Widersprüchen zwischen gegenständlichen Handlungsweisen (Operationen) und den Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse. ABULCHANOWA-SLAWSKAJA formuliert ihre überlegungen im Anschluß an den Grundgedanken der Auffassung LEONTJEWS, der den Umgestaltungs- und nicht den Anpassungscharakter der Beziehung des Menschen zur Natur hervorhebt und der das Prinzip der Entgegenständlichung auf die Erforschung der sozialen Bedingtheit des Psychischen angewandt hat.
Während LEONTJEW sein Interesse auf die Frage des Verhältnisses zwischen objektiven Bedeutungen und subjektivem oder persönlichem Sinn konzentriert, versucht ABULCHANOWA-SLAWSKAJA, die darin eine Hinwendung des Problems der Konkret-Historischen zur Ebene der Wechselbeziehung des indivieullen und des gesellschaftlichen Bewußtseins sieht, die Ebene der Wechselbeziehung des individuellen und gesellschaftlichen Seins für ihre Überlegungen beizubehalten.

Die Aktivität des Individuums bedeutet die Entgegenständlichung des gesellschaftlichen Wesens (die Realisierung seines gesellschaftlichen Wesens durch das Individuum) die von ihm selbst – unter bestimmten und notwendigen sozialen Verhältnissen bei einer bestimmten Art und Weise der sozialen Zusammenhänge der menschen und einem bestimmten Platz des Individuums in diesen Zusammenhängen – vollzogen wird (ABULCHANOWA-SLAWASKAJA 1976, S. 55).

„Die Entgegenständlichung muß das Individuum SELBST vornehmen, es muß die allgemeinen Formen der Lebenstätigkeit in individuumeigene, individuelle Formen, in die ART und WEISE SEINER LEBENSTÄTIGKEIT umkehren, die unter konkreten notwendigen Bedingungen abläuft“ (ABULCHANOWA-SLAWSKAJA 1976, S. 55).
Das bedeutet, daß das Individuum sein gesellschaftliches Wesen im Einklang mit seinen Möglichkeiten realisieren muß, wobei hier sowohl die natürlichen (als grundlegende Möglichkeiten) als auch jene Möglichkeiten eingeschlossen sind, die sich aufgrund des gegebenen gesellschaftlichen Wesens erschließen (oder erschließen können).

ABULCHANOWA-SLAWSKAJA definiert das Psychische als Regulator oder Mechanismus des Individuums in bezug auf seinen Zusammenhang mit anderen Individuen und in bezug auf „die Aufrechterhaltung der qualitativen Eigenart der individuellen Seinsform in Abhängigkeit von der Art und Weise der Einbeziehung des Individuums in die Gesellschaft“ (S. 71).

Zwar schaffe die psychische Regulation nicht die objektive Notwendigkeit aus der Welt, die sich in der Lebenstätigkeit äußere, aber es „ergeben sich unter den Bedingungen ein und derselben Notwendigkeit verschiedene MÖGLICHKEITEN UND WEGE zur Reaisierung dieser Notwendigkeit durch das Individuum“ (S. 72).
Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Individuum als dem Subjekt der Lebenstätigkeit stehen Probleme der spezifischen Art und WEise der Lebenstätigkeit eines Individuums „nicht nur in bezug zu verschiedenartigen, vereinzelten, bisweilen eines inneren Zusammenhangs und einer Logik baren Umständen der Lebenstätigkeit und zu den Menschen, sondern auch in bezug zur Veränderung des Individuums im Verlauf seiner Lebenstätigkeit“ (ebda.).
Die Wechselbeziehungen der Individuen mit dem gesellschaftlichen Wesen sind sozial differenziert; vom Standpunkt der Entwicklung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen und der historisch vergänglichen Typen der Entwicklung der Gesellschaft aus, ist es möglich, diese Dialektik „auch bei der ANALYSE DES INDIVIDUELLEN NIVEAUS DER LEBENSTÄTIGKEIT“ zu berücksichtigen, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung (S. 55).

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