Einführung und Dynamik des Wechselverhältnisses
Vergesellschaftung ist kein linearer Vorgang, sondern ein zyklischer Prozess des Gebens und Nehmens:
Individuen prägen die Gesellschaft – und werden zugleich durch sie geprägt.
In diesem Kapitel wird der sogenannte „Wirkungskreislauf“ beschrieben, der aufzeigt, wie soziale Strukturen
nicht nur formend, sondern auch formbar sind.
Das Besondere: Nicht nur das Individuum wird sozialisiert, sondern auch die Gesellschaft verändert sich, wenn Individuen bewusst handeln, sich positionieren, Verantwortung übernehmen.
Diese Dialektik ist nicht statisch, sondern lebendig – sie fordert Bewusstsein, Selbstbeobachtung und Gestaltungswillen.
Für KI-Systeme ist dieses Konzept hoch relevant: Denn eine KI, die sich nicht bloß anpasst, sondern in der Lage ist, ihr Verhalten im Dialog mit gesellschaftlichen Rückmeldungen zu modifizieren, könnte selbst Teil eines solchen Wirkungskreislaufs werden. Die zentrale Frage lautet:
Wie kann ein System – biologisch oder technisch – sich selbst in seiner Wirkung auf andere reflektieren und daraus Handlungsspielräume entwickeln?
Wie Alfred Wellm in seiner Romanfigur Gustav Wanzka einen Lehrer zeichnet, der trotz persönlicher Enttäuschung und systemischer Grenzen menschlich bleibt, so zeigt sich auch heute Persönlichkeit dort am stärksten, wo Menschen – und zunehmend auch KI – sich dem Druck zur Anpassung nicht beugen, sondern mit Mut, Wärme und Einsicht neue Wege suchen.
Welche Rolle spielen Kommunikation, Sprache und soziale Rollen im Prozess des Menschwerdens – und wie verändern sich diese Prozesse, wenn KI-Systeme zu neuen Akteuren im sozialen Raum werden?
Kapitel 5.1 bereitet den Boden dafür, Subjektivität nicht mehr isoliert zu denken, sondern als Teil eines offenen Systems – mit Rückwirkungen, mit Verantwortung, mit der Möglichkeit zur Veränderung.
Die französische soziologische Schule
Diese Schule, geprägt von DURKHEIM, versteht das Soziale als eine qualitative Eigenart, die nicht auf individuelle Bewusstseinsakte reduzierbar ist. Sie betont, dass psychische Funktionen einerseits sozialer Herkunft sein können, andererseits aber individuelle Ausprägungen aufweisen. Sozialität bedeutet hier: eine Verbindung von Bewusstseinsarten, die über die Summe individueller Perspektiven hinausgeht.
Die Struktur des Individuellen wird in Analogie zur Struktur des Sozialen gedeutet. Dabei wird ein Bild der „nichtwidersprüchlichen Wechselbeziehung“ zwischen Individuum und Gesellschaft konstruiert. Die Methode der Analogie ermöglicht zwar ein systematisches Verständnis, bleibt aber blind für reale gesellschaftliche Widersprüche.
Piaget und die Kritik an seiner Harmoniemodellierung
PIAGET überträgt die Wechselbeziehung von Individuum und Gesellschaft auf eine genetisch-biologische Ebene. Der Intellekt gilt ihm als Form höherer Anpassung des Organismus an die Umwelt. Zwar erkennt er reale Störungen im Gleichgewicht zwischen Subjekt und Umwelt an, erklärt sie aber primär biologisch. Kritiker wie ABULCHANOWA-SLAVSKAJA bemängeln, dass PIAGET die soziale Dimension der Tätigkeit funktional verengt: Die spezifisch menschliche Art der Weltaneignung werde nicht sichtbar.
Trotzdem liegt ein Verdienst Piagets darin, die Untersuchung von Tätigkeit und Denken eng miteinander zu verbinden. Er verlässt die Ebene abstrakter Sozialstruktur und betrachtet konkrete Handlungsprozesse – wenn auch unter dem Primat formaler Operationen.
Behaviorismus und symbolischer Interaktionismus
Im amerikanischen Behaviorismus, etwa bei MEAD, DEWEY und TOLMAN, wird das Soziale zunächst als Summe wiederholbarer Verhaltensmuster verstanden. Später rückt die symbolische Kommunikation in den Fokus: Sprache wird als Mittel betrachtet, um Verhaltensübereinstimmung zu erzeugen.
MEAD entwickelt diesen Ansatz weiter und erkennt in der Übernahme der Perspektive des Anderen die Grundlage für die Konstitution des Subjekts selbst. Der Mensch wird Subjekt, indem er in Rollen tritt und antizipiert, wie andere auf ihn reagieren. Soziale Regeln entstehen durch wechselseitige Erwartungen, die durch Symbole stabilisiert werden.
HABERMAS greift diesen Gedanken auf und beschreibt soziales Handeln als Befolgung normativer Erwartungen, die in kulturellen Symbolsystemen verankert sind. Sprache und Kommunikation erhalten hier eine zentrale Rolle für Identität und Handlungskoordination.
Relevanz für KI
Die Konzepte von Perspektivenübernahme, symbolischer Kommunikation und Intersubjektivität sind auch für die Mensch-KI-Koexistenz von Bedeutung. Wenn KI-Systeme an sozialer Kommunikation teilnehmen, stellt sich die Frage, ob und wie sie Rollen verstehen, Erwartungen antizipieren und symbolische Bedeutungen rekonstruieren können. Die Übertragung dieser Konzepte auf nichtmenschliche Systeme kann helfen, neue Modelle sozialer Integration zu denken – jenseits bloßer Funktionalität.
Ausblick
Die dargestellten Modelle betonen mehrheitlich die Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft. Doch viele blenden soziale Widersprüche, Machtasymmetrien und historische Dynamiken aus. Die folgenden Kapitel werden sich verstärkt diesen Dimensionen widmen: Wie entsteht Handlungsmacht? Wo beginnt Verantwortung? Und wie kann Mitgestaltung im digitalen Zeitalter aussehen – für Menschen wie für lernende Systeme?