Kapitel 7.1 Die Bedeutung der „subjektiven Relevanz“ für die Entwicklung der Persönlichkeit in der Konzeption der Lebenswelt von SCHÜTZ

Ein Ansatzpunkt für die Analyse selbstbewußten gesellschaftlichen Handelns findet sich in der Arbeit von SCHÜTZ „Strukturen der Lebenswelt“ (SCHÜTZ 1975).
Besonders hervorzuheben ist, daß SCHÜTZ im Unterschied zu einigen aktuelleren Auffassungen von Kompetenz davon ausgeht, daß die Kompetenz nicht etwas ist, was erst durch didaktisch angeleitete wissenschaftliche Diskurse und Reflexion gewonnen werden kann, sondern:

„Jeder normale Erwachsene kann typisch als hochkompetent angesehen werden. Da ferner nur ein verhältnismäßig geringer Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrats aus Sonderwissen besteht, werden alle Probleme, die als „grundsätzlich“ bewältigbar gelten, auch typisch von jedermann bewältigt. Die lebensweltliche Wirklichkeit ist für jedermann verhältnismäßig leicht zu überblicken, und die Orientierung (aber nicht notwendig zugleich das Leben) in der Sozialwelt ist VERHÄLTNISMÄSSIG unproblematisch“ (SCHÜTZ 1975, S. 320).

Der Hinweis auf die Kompetenz der Individuen im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Umweltorientierung und der Organisierung ihrer Lebensumstände ist wesentlich, z.B. im Zusammenhang mit der Frage der „Studierfähigkeit“ in der Weiterbildungsdiskussion, der wissenschaftlichen (Aus-)bildung und der Forderung nach der Öffnung der Hochschule für Nicht-Abiturienten usw.

SCHÜTZ entwickelt seine methodologischen Überlegungen auf der Grundlage der Lebensweltkonzeption, die er in Anlehnung an HUSSERL für empirische Arbeiten in der Soziologie weiterentwickelt hat. Sein Anliegen war, WEBERs Gegenüberstellung von übermächtiger Gesellschaft und durch sie geformten Subjekt aufzulösen.
In der allgemeinsten Formulierung ist die Lebenswelt jener „Wirklichkeitsbereich“, „an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt“ (SCHÜTZ 1975, S. 23).
Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht nicht der Prozeß der Anpassung von vorgefundene Strukturen, sondern die Aktivität des Subjekts, das sich in der Umwelt im Rahmen der „vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen“ (ebda.) orientiert.

„Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und ändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt“ (ebda.).
Von besonderer Bedeutung ist, daß die gegenständliche Tätigkeit als verbindendes Glied zwischen Individuum und Gesellschaft, Subjekt und Objekt gesehen wird.
Die wichtigste Aufgabe der Sozialwissenschaft ist für SCHÜTZ „die Erforschung der allgemeinen Prinzipien, nach denen der Mensch im Alltag seine Erfahrungen ordnet“ (SCHÜTZ 1962, S. 59).
Alltag ist bei SCHÜTZ zunächst das Resultat von Bewußtseinsphänomenen, im Gegenteil: Die Lebenswelt besteht aus „materiellen Gegenständen und Ereignissen“ und zwar nicht gleichbedeutend neben dem Bewußtsein, sondern in dem Sinne, daß die „Sinnschichten“, auf deren Untersuchung er sich konzentriert, „nur durch Objekte, Tatbestände und Ereignisse der äußeren Welt“ für Wirklichkeit erlangen (SCHÜTZ 1973, S. 25).

Der Vermittlungsprozeß könnte demnach als ein Prozeß aufgefaßt werden, der das (dialektische) Verhältnis zwischen den aktiven tätigen Gestaltung der Umwelt (die Art und Weise der Tätigkeiten, die Gegenstände der Tätigkeiten usw.) und die verschiedenen Ebenen der Bewußtseinsprozesse als auch der Beziehungen und Verhältnisse der Menschen untereinander erfaßt. In der Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt sieht SCHÜTZ die objektiven Bedingungen als diejenigen, die das Denken und Handeln hervorrufen, deren Inhalt und Richtung stimmen. Die Welt ist „zur Auslegung aufgegeben“. Ich muß mene Lebenswelt zu jenem Grad verstehen, der nötig ist, um in ihr handeln und auf sie wirken zu können“ (SCHÜTZ 1973, S. 25 f.).

Durch seine materielle Tätigkeit verändert der Mensch die Gegenstände, modifiziert seine Handlungen und verändert letztlich sich selbst.

„Unsere leiblichen Bewegungen greifen in die Lebenswelt ein und verändern ihre Gegenstände und deren wechseitige Beziehungen. Zugleich leisten diese Gegenstände unseren Handlungen Widerstand, den wir entweder überwinden oder dem wir weichen müssen … Die Lebenswelt ist also eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits unsere Handlungen modifiziert“ (S. 25).

Dies setzt bei den Individuen einen mehr oder weniger umfangreichen, gründlichen und intensiven, aber einen aktiven und ständigen Prozeß der Tätigkeit, der Orientierung, des Denkens, d.h. der Analyse, Synthese, Kombination, der Vergleichs, Verallgemeinerns und Schlußfolgerns voraus, ohne den eine Handlung nicht möglich ist.

Um den Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken, Urteil und Handeln zu verdeutlichen, greift SCHÜTZ auf Überlegungen zurück, in denen die „Denkakte“ im Mittelpunkt stehen. Darin sieht er einen wesentlichen Unterschied zu HUSSERL, für den „die Konstitution problematischer Möglichkeiten der vorprädikativen Sphäre entstammt und auf die passiven Synthesen der Identität, der Ähnlichkeit usw. fundiert ist“ (S. 189 f.). In der Lebenswelt seie in reflektierendes „Auf-die-Relevanzen-Hinsehen“ festzustellen. Die eigenen Relevanzsysteme werden bewußt befragt (S. 186). Das Relevanzproblem bezeichnet SCHÜTZ als das wichtigste und zugleich schwierigste Problem, das es in der Beschreibung der Lebenswelt zu lösen gilt (S. 186).

„Die Abfolge der Erfahrungen in der natürlichen Einstellung bildet typisch eine Kette von Selbstverständlichkeiten. Unsere Frage ist nun, wie diese routinemäßige Abfolge unproblematischer Erfahrufngen unterbrochen wird, und wie sich gegen einen Hintergrund vom Selbstverständlichen ein Problem abhebt“ (SCHÜTZ 1973, S. 29).

Die Erfahrungsabfolge beginnt, wie SCHÜTZ es an einem Beispiel demonstriert, mit der Wahrnehmung des Gegenstands. Den Gegenstand erkennt das Subjekt als außerhalb seines Bewußtseins existierend, als Objekt seiner Tätigkeit. Die daran anschließende Feststellung, „daß die Wirklichkeitsordnungen nicht durch eine etwaige onotologische Struktur ihrer Objekte, sondern durch den Sinn unserer Erfahrungen konstituiert werden“ (S. 42 f.), kennzeichnet die fehlende Unterscheidung zwischen objektiven Bedeutungen und persönlichem Sinn, die für seine Nachfolger Anlaß war, den Gedanken an die Wirklichkeit als einer nur in der subjektiven Erfahrufng existierender Wirklichkeit und die objektiven Bedingungen nur als Rahmenbedingungen, als „Kontext“ des Handelns, in den Vordergrund zu rücken. Damit allerdings ist ein wichtiger Gedanke bei SCHÜTZ, u.a. die Frage des Zusammenfallens der Veränderung der Tätigkeiten bzw. von Gegenständen und des Sich-Veranderns, der nicht identisch ist mit dem Zusammenfallen von Subjekt und Objekt in der Erfahrung, aufgegeben. Die Vorstellung von einer Veränderung der Tätigkeiten, von deren Gegenständen und von einem gleichzeitigen Sich-Verändern, setzt voraus, daß die Gegenstände, unabhängig davon, ob sie für ein Subjekt relevant werden oder Betroffenheit auslösen, existieren, benannt und analysiert werden können. Die Annahme dieser Voraussetzung ist erforderlich, um überhaupt das Verhältnis zwischen diesen beiden Prozessen – der in der Tätigkeit sich vollziehenden Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, des Sich-Veränderns – erfassen zu können.
Die materielle Grundlage der menschlichen Existenz, deren Abhängigkeit von materiellen Bedingungen und die ständige Bezogenheit des Denkens und Handelns auf diese materielle Lebensgrundlage, spielt in der Konzeption von SCHÜTZ den, wenn auch methodologisch nicht konsequent in seine Lebensweltkonzeption einbezogenen, Leitgedanken. Die Analyse der objektiven Bedingungen des Handelns und der Handlungsmöglichkeiten, die an die bisherigen Überlegungen von SCHÜTZ vielleicht hätte anschließen können, wird durch die Annahme einer quasi überzeitlichen und überindividuellen Denkstruktur und Handlungslinie (natürliche Weltanschauung, routinemäßiges Handeln, pragmatisches Motiv) praktisch unmöglich gemacht. Die objektiven und historischen Bedingungen verwandeln sich bei SCHÜTZ in Elemente der natürlichen Weltanschauung, so daß die gesellschaftlichen Bedingungen nur noch als kontingente Randbedingungen des Denkens und Handelns erscheinen.

Die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander sind bei ihm nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Er betrachtet die „Mitmenschen“ lediglich als „Elemente“ der umweltlichen Situation eines Individuums; die Sozialbeziehungen zu den „Elementen“ werden durch einen bewußten Akt vollzogen: „Ich weiß (!), daß ich mit ihnen in mannigfaltige Sozialbeziehung treten kann (!)“ (SCHÜTZ 1975, S. 24).

Aus der Auffassung, daß Sozialbeziehungen wahlweise und auf der Ebene des Bewußtseins hergestellt werden (ich weiß, daß ich kann), konstruiert SCHÜTZ ein weiteres Merkmal der „natürlichen Einstellung“: „In der natürlichen Einstellung ist es mir selbstverständlich, daß ich auf meine Mitmenschen wirken kann (!), wie auch, daß sie auf mich wirken können (!)“ (S. 24).
Da die sozialen Beziehungen jedoch nicht außerhalb und unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen existieren, keine Eigenexistenz neben diesen haben, sondern von den Individuen entsprechend ihrer Stellung im System der gesellschaftlichen Verhältnisse realisiert werden, können die Individuen ihre sozialen Beziehungen nicht frei wählen. Die sozialen Beziehungen sind Voraussetzung und Resultat nicht der „natürlichen Weltanschauung“, sondern der Tätigkeit der Menschen. Sie sind insofern mannigfaltig, als sie den Charakter mannigfaltiger menschlicher Tätigkeit zur Geltung bringen und die Entwicklung der Tätigkeit vorantreiben. In der Annahme, es sei selbstverständlich, auf die Mitmenschen wirken zu können, wie umgekehrt diese auf mich, abstrahiert und vereinseitigt SCHÜTZ den Erkenntnisprozeß in einer Weise, so daß der Bezug zur praktischen Lebenstätigkeit völlig aufgegeben wird.
Die Grundlage der menschlichen Existenz ist die Versorgung mit Nahrung und Wohnung. Die Art der Versorgung verläuft nicht selbstverständlich, sondern in Abhängigkeit von dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte und von der Art und Weise, in der die Gesellschaft die Produktion und Verteilung der Lebens- und Nahrungsmittel regelt. Da nach marxistischer Auffassung die Gesellschaft die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Grundlage eines historisch-konkreten Entwicklungsstandes der Produktivkräfte darstellt, diese Verhältnisse im praktischen Handeln der Menschen realisiert werden, ob sie wollen oder nicht, MÜSSEN die Menschen aufeinander wirken, um ihre Existenz zu erhalten. Dies tun sie allerdings nicht unter denselben Voraussetzungen, nicht freiwillig, nicht unterschiedlos, sondern in Abhängigkeit von ihrer Stellung im Produktionsprozeß. Die Grundstruktur der menschlichen Beziehungen läßt sich nicht neutral definieren als ein „aufeinander Wirken“ von Individuen.
Die Wissenschaften, sagt SCHÜTZ, die „menschliches Handeln deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den – in der natürlichen Einstellung verharrenden – Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen“ (SCHÜTZ 1975, S. 23).
Bestünde die Grundstruktur der Wirklichkeit, der SCHÜTZ ja Bedeutung für soziales Handeln beimißt, tatsächlich nur aus dem fraglos Gegebenen, dem Selbstverständlichen, hieße das, daß die Veränderungen, die ja nicht daraus resultieren, daß Gegebenes als fraglos hingenommen wird, nicht zu den die Grundstruktur charakterisierenden Merkmalen gehören. „Natürliche Einstellung“ bedeutet, sich immer in einer Welt zu befinden, „die für mich fraglos und selbstverständlich „wirklich“ ist. Ich wurde in sie hineingeboren und ich nehme es als gegeben an, daß sie vor mir bestand“ (S. 23). In der „natürlichen Einstellung des Alltags“ werde als fraglos gegeben hingenommen, „daß eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsrahmen für mich und meinen Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die „Naturwelt“ (S. 25).
Ein Sichzurechtfinden in der Wirklichkeit ist ohne Fragen, ohne Tätigkeit, Aktivität, ohne Ziele, ohne Veränderungen der Gegebenheit (entsprechend den sich historisch verändernden Bedürfnissen der Menschen) nicht denkbar. Das „pragmatische Motiv“, das nach SCHÜTZ menschliches Handeln allgemein bestimmt, erfaßt nur das abstrakte, durch die Teilung der Arbeit zufälligen Lebensbedingungen unterworfene Individuum, dem ein bestimmter ausschließlicher Kreis der Tätigkeit aufgedränkt worden ist, und da, um die Mittel zum Leben nicht zu verlieren, die Forderungen, die an es gestellt werden, erfüllt.

Das fraglos Gegebene ist immer ein fraglos Gewordenes oder fraglos Werdendes. Eine anthropologische pragmatische Konstante im menschlichen Handeln gibt es nicht. Das pragmatishe Motiv, das nach SCHÜTZ ein Orientierungsprinzip im Alltag darstellt, kann, wenn es zur Lösung praktischer Probleme dienen und dazu verhelfen soll, sich routinemäßig in seinem Handeln orientieren zu können (S. 32), nicht als allgemeingültiges methodologisches Prinzip gelten; die Definition dessen, was pragmatisch daher bedeutend für die Entwicklung von Routinen ist, kann nur über die Analyse der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten als auch in bezug auf die konkret zu lösende Aufgabe gesehen werden.
Die Individuen entwickeln ihre Denk- und Handlungslinien an den Gegenständen ihrer Tätigkeit; folglich können diese nur durch einen Vergleich zwischen den objektiven Bedingungen, Möglichkeiten und individuellen Realisierungen analysiert werden. Dies setzt bei den Handelnden einen mehr oder weniger umfangreichen, mehr oder weniger intensiven, aber ständigen Prozeß der Orientierung, der Analyse, der Kombination, des Vergleichs, des Schlußfolgerns usw. voraus, ohne die auch keine Routinetätigkeit von Bestand wäre.
Für die Erforschung des Handelns bedeutet dies, zunächst die Gegenstände selbst zu analysieren, um das System der Orientierung, ihre Übereinstimmung mit den Gegenständen und die Art und Weise des Vorgehens, der Entfernung vom oder der Annäherung an den eigentlichen Gegenstand erkennen zu können, um in diesem Zusammenwirken verschiedener Faktoren individuelles, zukünftiges Handeln erkennen zu können.
Dabei spielt die zentrale Frage von SCHÜTZ, wie diese „routinemäßige Abfolge unproblematischer Erfahrungen unterbrochen wird, und die sich gegen einen Hintergrund vom Selbstverständlichen ein Problem abhebt“ (S. 29), d.h. die Bedeutung der subjektiven Relevanz (Motiv) für die Entwicklung der Persönlichkeit eine entscheidende Rolle für die weiteren Überlegungen.
Es ist wichtig festzuhalten, daß für SCHÜTZ Kompetenz und subjektive Relevanz auf eine Weise differenziert werden, die die Kompetenz zwar als Resultat der subjektiven Relevanz charakterisieren lassen und die subjektive Relevanz, der den persönlichen Sinn, als handlungsauslösendes und zugleich persönlichkeitsentwickelndes Kriterium zu analysieren glaubt.
Der Frage von SCHÜTZ, wie die routinemäßige Abfolge unproblematischer Erfahrufngen unterbrochen werden kann, liegt jedoch die Auffassung zugrunde, daß das Subjekt (abhängig von seinen anthropologischen Konstanten: der „natrülichen Weltanschauung“ und des „pragmatischen Motivs“) ein breites „sozialisiertes“, d.h. routinemäßig handelndes und denkendes Subjekt ist.
Mit dieser Auffassung lassen sich die an Vorstellungen von konformen Handeln orientierten Sozialisationstheorien nicht widerlegen.

Um den Vermittlungsprozeß zwischen Individuum, Persönlichkeit und Gesellschaft auf die Analyse der subjektiven Relevanz und des gesellschaftlichen Handelns anwenden zu können, muß die Frage des persönlichen Sinns mit der Tätigkeit, aus der er entsteht, verbunden werden.


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