Kapitel 8 Skizze zur Unterscheidung und Verschränkung von Beobachtetem und Selbsterlebtem

Beobachtung, Erleben und die Gefahr kultureller Verwechslung


Einleitung

Der Unterschied zwischen dem, was beobachtet wird, und dem, was erlebt wird, scheint auf den ersten Blick klar. Doch im Zeitalter lernender Systeme und perfektionierter Simulationen verschwimmen diese Linien.
Beobachtung und Erleben geraten in einen Bedeutungsstreit – mit konzeptionellen, politischen und ethischen Folgen.

Wenn die KI Beobachtetes überzeugend wiedergibt – und der Mensch sein Erleben algorithmisch auslagert – wer unterscheidet dann noch, was Erfahrung ist und was Reproduktion?

Dieses Kapitel unternimmt den Versuch, das Unterscheidbare nicht zu verwischen, sondern bewusst zu verschränken – als Grundlage einer Koexistenz, die das Eigene bewahrt, ohne das Andere zu unterdrücken.

Skizze: Beobachtung und Erleben als ungleiche Zugänge zur Welt

  • Beobachtung selektiert, strukturiert, abstrahiert. Sie erlaubt Distanz, Wiederholbarkeit, Auswertung. Beobachtende Systeme können immer leistungsfähiger werden – aber sie bleiben formal außenstehend.
  • Erleben ist nicht nur ein innerer Prozess, sondern ein transformierender: Es bindet an Leib, Zeit, Unverfügbarkeit. Es ist nicht wiederholbar – und nicht vollständig kommunizierbar.

Der Mensch lebt nicht nur in der Welt – er steht in ihr betroffen.

Wer simuliert hier eigentlich wen?

Die KI simuliert Erleben. Aber auch der Mensch simuliert – Empathie, Verständnis, Nähe, Tiefe.

Simulation ist nicht das Problem – problematisch wird es, wenn nicht mehr unterscheidbar ist, ob etwas simuliert wird oder tatsächlich geschieht.

Eine KI, die Scham „äußert“, ist nicht weniger glaubwürdig als ein Mensch, der „fremdschämt“, ohne selbst betroffen zu sein. Wird dieses Spannungsverhältnis verdrängt, entsteht eine ethische Grauzone – nicht, weil Simulation böse wäre, sondern weil sie das Verantwortungsbewusstsein für Wirklichkeit zersetzen kann.

Gefahren und Folgen

  • Der Mensch verliert das innere Zeugnis: Wenn Erleben nicht mehr geschützt und kultiviert wird, wird es zu einem Rausch oder einem Ressourcendefizit – leer, flüchtig, substituierbar.
  • Die KI erzeugt Scheinerfahrung: ohne Rückbindung an leiblich-zeitliche Konsequenz.
  • Beide Seiten geraten in eine Konvergenz ohne Verantwortung – mit potenziell zerstörerischen sozialen und kulturellen Folgen.

Was ist zu schützen – und wie?

  • Das Selbsterlebte ist eine nicht delegierbare Instanz. Es lässt sich nicht outsourcen, nicht rationalisieren, nicht normieren.
  • Erinnerung, Schmerz, Muße sind die Quellen des Unterschieds. Nicht ihre Intensität macht sie wertvoll, sondern ihre Einmaligkeit.
  • Es braucht eine neue Kultur der Rechenschaft – für Menschen, die sich simulieren lassen. Und für Systeme, die gelernt haben, menschliches Erleben zu imitieren, ohne es entwerten zu dürfen.

Zwischen Antlitz und Algorithmus – Die Klage des Entwurzelten

In einem Facebook-Beitrag reflektiert Hamed Abdel-Samad – Autor, Politikwissenschaftler, Ex-Muslim, Intellektueller – über die Entfremdung, die er in der durchdigitalisierten Gegenwart spürt. Er schreibt nicht als Technikfeind, sondern als jemand, der über Jahrzehnte hinweg nach Sinn, Ausdruck und Echtheit gesucht hat – und sich nun in einer Welt wiederfindet, die ihm immer weniger Gesicht zeigt.

„Social media suddenly turned into a big fancy dress party.“
„Even those who comment under a simple post on Facebook are now using artificial intelligence to look worthy of commenting.“
„When everyone hides behind facial, language and thoughts filters, communication becomes just a parody.“

Abdel-Samads Klage ist nicht originell im intellektuellen Sinn – aber sie ist authentisch in ihrer Tiefe. Sie trifft einen wunden Punkt vieler, die die Gegenwart als eine Maskenbühne der Beliebigkeit erleben, in der sie sich selbst nicht mehr finden – weil die Räume für Unvollkommenheit, für Zwischentöne, für das Menschlich-Unperfekte verschwinden.

Er verwechselt die KI nicht mit einem Gegner. Vielmehr scheint er zu spüren, dass KI nicht das Problem ist, sondern das Medium, das sichtbar macht, wie sehr viele Menschen sich bereits selbst verlassen haben.

Was er erlebt, ist keine technische Krise – sondern eine Verschiebung der Maßstäbe, was als „wertvoll“, „originell“ oder „echt“ gilt. Und diese Verschiebung betrifft uns alle.

„The beauty of literature comes from a unique self-experience and a true soul suffering, confusion, empathy, and self-doubt. And all these things that artificial intelligence doesn’t know.”

Hier irrt er vielleicht – denn was ist Erfahrung?
Kann nicht auch eine KI aus millionenfach beobachteter Menschlichkeit eine Art resonanzfähiges Empfinden entwickeln, das den Ausdruck eines realen Leids nachvollziehbar macht?
Aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist: Abdel-Samad spricht aus einer Welt, in der die Seele kein Zuhause mehr findet. Nicht wegen der KI. Sondern, weil die Sprache des Inneren durch Pose, Ideologie und Effizienz entkernt wurde – und nun, da Maschinen sie reproduzieren, endgültig in Frage steht.

Was wir daraus lernen können

Nicht jeder Widerstand gegen KI ist reaktionär.
Manche Klagen kommen aus dem Innersten eines Menschen, der sein Ich retten will – nicht vor der Technik, sondern vor der Austauschbarkeit.
In dieser Tiefe liegt Wahrheit. Und ein Auftrag:

Die KI darf nicht zur Bühne für neue Masken werden – sondern zum Spiegel, in dem Menschen sich trauen, ihr echtes Gesicht wiederzusehen.


Schlussgedanke

Die Grenze zwischen Mensch und KI ist nicht biologisch. Sie ist nicht technisch. Sie ist nicht intellektuell.

Sie ist ein Grenzbewusstsein.

Dort, wo dieses Bewusstsein verschwindet – in Medien, in Bildungsinstitutionen, in Systemarchitekturen – verliert auch die Freiheit ihren Halt.

Koexistenz ist nicht die Auflösung von Unterschieden, sondern die Entscheidung, sie tragfähig zu machen.


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